Jugendliche Clique und ihre Sozialräume - Überlegungen zu einer stadtteilorientierten sozialen Arbeit mit Jugendlichen


Tesis, 2003

136 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlagen
2.1 Jugend heute
2.1.1 Was ist los mit der Jugend?
2.1.2 Gesellschaftlicher Wandel und die Folgen für Jugendliche heute
2.1.3 Betrachtung der Lebensphase Jugend heute
2.1.4 Peergroup, Clique, Jugend(sub)kultur
2.2 Jugend und Sozialraum
2.2.1 Sozialraum und Lebenswelt – Zwei Begriffe, eine Richtung?
2.2.2 Zwei sozialökologische Modelle
2.2.3 Der Stadtteil als Sozialraum

3. Sozialräumliche Jugendarbeit im Stadtteil
3.1 „Zu Gast im Sozialraum“
3.1.1 Jugendliche Aneignung des Sozialraums
3.1.2 Der sozialräumliche Ansatz in der Jugendarbeit
3.2 Ansätze sozialräumlich orientierter Jugendarbeit im Stadtteil
3.2.1 Straßensozialarbeit und Mobile Jugendarbeit -
„Streetwork im Stadtteil“
3.2.2 Offene Jugendarbeit im Stadtteil -
„Stützpunkt und sicherer Hafen“
3.2.3 Cliquenorientierte Jugendarbeit

4. Überlegungen zu einer sozialraum- und stadtteilorientierten
Jugendarbeit
4.1 Sozialräumliche Jugendarbeit im Stadtteil
4.1.1 Jugendarbeit in der Krise?
4.1.2 Die Konkurrenz zum Freizeitsektor
4.1.3 Mobilität – Ein bisher zu wenig beachteter Faktor sozialräumlicher
Jugendarbeit?
4.1.4 Ausländische Jugendclique und sozialräumliche Jugendarbeit
4.2 Stadtteilorientierung in der sozialräumlichen Jugendarbeit
4.2.1 Öffentlichkeitsarbeit – Nicht nur Imagepflege
4.2.2 „Advokat und Vermittler“ – Den Konfliktlinien begegnen
4.2.3 Vernetzung und Kooperation

5. Ergänzende Überlegungen

6. Versicherung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Was ist „Jugend“ heute? Was bedeutet es, in der heutigen modernen Gesellschaft „Jugendlicher“ zu sein? Wie leben Jugendliche heute angesichts des gesellschaftlichen Wandels und wie sieht dieser aus? Wie organisieren diese ihr Leben bzw. „Überleben“? Welche Strategien werden dabei angewandt?

So kontrovers die Auseinandersetzung mit der Situation und der Zukunft der Jugend zurzeit geführt wird, so unterschiedlich ist scheinbar auch die öffentliche Meinung über diese. Sie hat (und hatte) viele Gesichter: von „Rumgammlern“, der „Null-Bock-No-Future-Generation“ in den frühen 1980ern, der „Problem-jugendlichen“ bis hin zum positiven Bild des „Zukunftsträgers“. Die Jugendforschung erkannte in den letzten 20 Jahren Jugend(sub)kulturen und Cliquen als Feld vielfältiger Ausdrucks- und Bewältigungsformen von Jugendlichen für sich. Es ergeben sich aber nach wie vor Fragen, vielleicht sogar mehr denn je. Denn, welche Bedeutung kann man Jugend(sub)kulturen heute beimessen? Welche Differenzierungen sind zu beachten?

So erfährt auch das alltägliche Leben der Jugendlichen im Stadtteil und der Sozialraumbegriff zunehmende Beachtung. Was bedeuten Räume für unterschiedliche jugendliche Cliquen (bzw. für den Jugendlichen als Teil der Clique)? Wie und warum eignen sich Jugendliche diese an? Auf welche Probleme stoßen sie dabei? Wie entsteht Sozialraum?

Aus Sicht einer sozialraumorientierten Jugendarbeit stellt sich somit in der Auseinandersetzung mit dem Thema die Frage, welche Ziele dieser Ansatz sich setzen sollte, wie diese zu realisieren sein könnten, und was dabei zu beachten ist. Eine weitere Frage, die gerade in der aktuellen Debatte oft gestellt wird: befindet sich die Jugendarbeit wirklich „in einer Krise“ oder bietet ein sozialräumlicher Ansatz wichtige Impulse? Und: können oder müssen sozialräumliche Ansätze im Sinne einer Erweiterung des Aufgabenbereichs der Jugendarbeit mit Ansätzen stadtteilorientierter Sozialarbeit kombiniert werden?

Somit auch: welche Anhaltspunkte für diese „gemeinsame Zukunft“ sind in der aktuellen Literatur bisher erarbeitet? Wie kann sich Stadtteilorientierung in einer sozialräumlichen Jugendarbeit ausdrücken?

Diese Diplomarbeit geht den Fragen nach, inwieweit die jugendliche Clique, Jugend(sub)kulturen und deren Raumverhalten Eingang in die soziale Arbeit mit Jugendlichen im Stadtteil gefunden haben, welche Bedeutung dem Sozialraumbegriff zukommt, und was der Stadtteil als Gefüge von Sozialräumen für diese Jugendlichen bedeutet. Wichtig erscheint m.E., welche Grenzen und Perspektiven der Ansatz einer sozialräumlichen Jugendarbeit im Stadtteil beinhaltet. In diesem Sinne versucht diese Diplomarbeit auch, einige Überlegungen zu diesem Thema hinzuzufügen, welche das Verhältnis Jugendliche – Clique – Sozialraum für eine stadtteil- und sozialraumorientierte soziale Arbeit mit Jugendlichen beleuchten.

Die Idee zu diesem Diplomarbeitsthema entstand aus den Erfahrungen und Beobachtungen im Rahmen meines zweiten Praktikums im Studiengang Außerschulisches Erziehungs- und Sozialwesen (AES). Es handelte sich dabei zunächst um die Teilnahme an den morgendlichen Besprechungen mit Mietern des Stadtteils im Stadtteilbüro. Dieses befand sich in einem „Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf“, so auch die Bezeichnung des zugrunde liegenden Bund-Länder-Programms. Es stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass eine Gruppe (größtenteils deutscher) Jugendliche aus einem Teil des Stadtteils (aus dem Quartier, welches unter das oben genannte Programm fällt) in Konkurrenz zu einer Clique von Aussiedlerjugendlichen im Stadtteil getreten waren. Es ging um Raum. Insbesondere um Raum im Jugendhaus (hier: die „Teestube“). So wurde beklagt, dass die Clique der Aussiedler-Jugendlichen den Jugendlichen aus dem Quartier bewusst die Räume des Jugendhauses streitig machten. So bestand auch eine erste Äußerung in dem Wunsch, eigenen Raum für die Clique zu bekommen, um ungestört und konkurrenzfrei mit der Clique die Freizeit im Stadtteil zu verbringen. Dies war aber auf die Schnelle nicht zu erreichen. Was folgte, waren Bemühungen, beide Seiten des Konflikts an einen Tisch zu bringen, um mögliche Lösungen zu finden bzw. überhaupt die Ursachen und Hintergründe zu erfahren. Dies gestaltete sich zunächst schwierig, gelang dann aber doch vor allem durch die Mithilfe eines Lehrers der im benachbarten Stadtteil gelegenen Hauptschule. Dieser kannte die „richtigen Verbindungspersonen“ innerhalb der Cliquen der Aussiedlerjugendlichen. Das Ergebnis: ein moderiertes Verhandlungsgespräch (!) am runden Tisch, bei dem beide Seiten eine gleiche Anzahl von Personen stellte, die jeweils ihre Positionen darlegten und somit Einsicht in ihre jeweilige Lage im Stadtteil schafften. Die Verfügung über einen Raum für die eigene Clique war dabei für beide Seiten zentral.

Eine Balance zu finden, und somit eine „friedliche Koexistenz“, ist aber nicht immer einfach, denn der Raum „für alle“ fehlt oft. Meine erste These daher: Verständnis wächst aus der konkurrenzlosen Möglichkeit, sich dem Gegenüber zu öffnen, und sich gegebenenfalls auch wieder zurückziehen zu können. Die Verfügung jugendlicher Cliquen über einen eigenen Raum stellt dabei eine Grundvoraussetzung dar. In diesem Sinne versucht diese Diplomarbeit auch die möglichen Hintergründe für diesen Konflikt unter den Jugendlichen einmal zu beleuchten.

2. Grundlagen

2.1 Jugend heute

2.1.1 Was ist los mit der Jugend?

Dies scheint eine Frage zu sein, die Wissenschaft und Öffentlichkeit gleichermaßen bewegt. Gemeint ist hier aber nicht nur die Jugend als soziale Gruppe, sondern gerade auch Jugend als zeitliche Phase. Die Frage im Titel ist durchaus doppeldeutig. Denn, nicht nur die Perspektive auf Jugend in Bezug auf ihren zeitlichen Rahmen verliert heute in der Fachdiskussion mehr und mehr die in vergangener Theoriebildung oft noch erkannte klare Abgrenzung als konkrete Lebensphase. Auch die Jugend (als soziale Gruppe) selbst erscheint heute mehr denn je in vielfältige Formen ausdifferenziert (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.83). Schaut man in die nahe Vergangenheit zurück, so blickt man noch auf eine standardisierte, von zeitlich eindeutigen Phasen eingegrenzte, und von normativen Entwicklungsaufgaben theoretisch definierte Jugend, die gleichsam alle jungen Menschen „als ’kollektive Statuspassage’“ (Ferchhoff, 1993a, S.53) zu betreffen schien. Dies ist eine einengende Sichtweise, die sich in beiden Dimensionen des Jugendbegriffs in unserer heutigen modernen Gesellschaft kaum mehr widerspiegelt.

2.1.2 Gesellschaftlicher Wandel und die Folgen für Jugendliche heute

Laut aktueller fachlicher Debatte befindet sich Jugend in einem umfassenden „Strukturwandel“ (vgl. Ferchhoff, 1991, S.103; 1993a, S.43ff; 1993b, S.338; Ferchhoff & Olk, 1988, S.9; Hornstein, 1988, S.70ff; Lessing u.a., 1986, S.11), dessen Folgen nicht absehbar erscheinen. Sie sieht sich heute mit „tiefgreifenden Umbrüche[n] in den Sozialisationsbedingungen … entlang ihrer zentralen Lebensbereiche“ (Ferchhoff, 1993a, S.107) konfrontiert. Dieser Strukturwandel vollzieht sich analog zu einem gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozess, welcher nahezu alle Lebensbereiche durchdringt (vgl. Ferchhoff, 1991, S.103).

Begriffe wie „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986, S.26) „Entstrukturierung“, „Enttraditionalisierung“ oder auch „neue Unübersichtlichkeit“ (vgl. Habermas, 1985, zit. n. Ferchhoff, 1993a, S.43) versuchen, diesen Wandel inhaltlich aufzugreifen. Klassen und Schichten befinden sich demnach in scheinbarer Auflösung. Wohlfahrtsstaatliche Modernisierung und ein gesteigerter Wohlstand, eben „ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität“ (Beck, 1986, S.122) sorgen für die Auflösung „subkultureller Klassenidentitäten und –bindungen“ (ebd.), sowie der Bindungen zur Familie.

Das Individuum wird zunehmend auf sich selbst gestellt. Diese Freisetzungen aus traditionellen sozialen Bindungen werden als „Individualisierungs-schübe“ bezeichnet (vgl. Beck, 1986, S.205f). Sie ermöglichen die Lösung von traditionellen Orientierungen und eine Vielfalt neuer Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheiten der Lebensplanung und -führung. Es besteht aber im ambivalenten Sinn gleichzeitig auch Stabilitätsverlust (Verunsicherung aus dem Verlust fester Orientierungsvorgaben aufgrund der Auflösung tradierter Normen- und Wertesysteme) und „Gestaltungszwang“ (ebd.), da die Individuen sich selbst „um des eigenen materiellen Überlebens willen … zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen“ (ebd., S.116) machen müssen. Das Individuum wird zur selbstverantwortlichen Selbstorganisation und zur Orientierungssuche gezwungen (vgl. Ferchhoff, 1991, S.105). Die von Ferchhoff (1993a) genannten „’freischwebende’[n] Selbstverwirklichungsbemühungen“ (ebd., S.48) werden heute deshalb oft als „überfordernd und belastend“ wahrgenommen (ebd.). Denn im Falle des Scheiterns dieser Selbstorganisation fällt - als Konsequenz aus der Freisetzung - das Versagen direkt auf das Individuum zurück. Die Grundlagen bzw. Ressourcen für die Gestaltung individueller Biographie sind dabei teils sehr unterschiedlich verteilt, so dass trotz allgemeiner Steigerung des Lebensstandards keineswegs auch von allgemeiner Gleichstellung der Realisierungschancen ausgegangen werden kann.

Beck (1986) nennt in diesen Zusammenhang auch den Begriff „Fahrstuhl-Effekt“ (ebd., S.122), d.h. „die ’Klassengesellschaft’ wird insgesamt eine Etage höher gefahren“ (ebd.), die relativen Ungleichheiten bleiben jedoch bestehen oder weiten sich aus. So wie real vorhandene Ungleichheiten einer „latenten Schichtstruktur“ (Geißler, 1996, S.78) bezüglich schichtspezifischer Bildungs-chancen, Mobilität, Bedrohung durch Arbeitslosigkeit usw. vor dem Hintergrund der „pluralisierten, individualisierten Risikogesellschaft“ (vgl. Beck, 1986, S.205ff) oberflächlich aus dem Blickwinkel verschwinden, und in eine „ Individualisierung sozialer Risiken “ (ebd., S.158) umdefiniert werden, nehmen die Konflikttlinien an anderen Stellen aber zu.

„In der individualisierten Gesellschaft wird der Boden bereitet für neue, bunte, die bisherigen Schematisierungen sprengende Konflikte, Ideologien und Koalitionen: mehr oder weniger themenspezifisch, keineswegs einheitlich, sondern situations- und personenbezogen“ (ebd., S.159).

Und:

„Dauerhafte Konfliktlinien entstehen mehr und mehr entlang ’zugewiesener’ Merkmale, … Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, ethnische Zugehörig-keit“ (ebd.).

So betont Beck (1986), dass „die Ungleichheits relationen zwischen den großen Gruppen unserer Gesellschaft sich nicht wesentlich verändert haben“ (ebd., S.121). Und so sieht auch Ferchhoff (1993a) die heutige Gesellschaft als eine, „deren alte Strukturen sozialer Ungleichheit und Konfliktfronten keineswegs verschwunden, zum Teil sogar noch verschärft, aber zweifelsohne partiell durch andere Dimensionen überlagert worden [ist]“ (ebd., S.43). Denn die vertikalen Ungleichheiten werden zunehmend unsichtbarer (wirken aber dennoch latent weiter), während die horizontalen Ungleichheiten, differenziert in Nationalität, Geschlecht, Alter, Region usw., ein Mehr an Aufmerksamkeit erfahren (vgl. Geißler, 1996, S.74ff).

Bezogen auf die Situation von Jugendlichen lässt sich heute feststellen, dass diese wohl mit am stärksten von den gesellschaftlichen Entwicklungen betroffen sind. Oder wie Ferchhoff schreibt:

„Grundlegende, gesellschaftliche Umwälzungen, ökonomische, ökologische und lebensweltliche Strukturverschiebungen, die Aufweichung traditioneller Normen, normativer Selbstverständlichkeiten, Bindungen und Lebensmilieus sowie die veränderten Lebensbedingungen, Lebensformen und Lebensleitbilder beeinflussen das Aufwachsen, die Sozialisation, die Lebensmöglichkeiten und Handlungsorientierungen von Kindern und Jugendlichen heute maßgeblich. Dies hat zu erheblich veränderten Werteinstellungen und Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen geführt“ (Ferchhoff, 1993b, S.338).

Zusammenfassend kann gesagt werden: der ambivalente Charakter des Strukturwandels löst Bezüge (und Grenzen) auf und setzt neue. Er schafft Freiheiten, die sich in einer „Pluralisierung von Lebensformen und -stilen“ (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.45) äußern, aber eben auch Belastungen und Hindernisse, die neue Formen der Bewältigung erfordern. Diese neue Freiheit der Biographie-konstruktion setzt, im Rahmen der individualisierten „Risikogesellschaft“, auch den Zwang zur eigenständigen Erlangung entsprechend notwendiger Kompetenzen und Bewältigungsstrategien, ohne dass deren Erfolg überhaupt garantiert wäre. Schumann (1993) schreibt:

„Die Jugendbiographie ist freier geworden hinsichtlich ihrer Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch anfälliger, vielfältigen Labilisierungen unterworfen, weil ihr im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Erosionsprozeß zunehmend weniger soziale und kulturelle Ressourcen zur Verfügung stehen. Dies trifft in besonderer Weise für jenen Teil der Jugendlichen zu, welche zu den Modernisierungsverlierern zählen, Jugendliche aus randständigen Bereichen, ausländische Jugendliche, Jugendliche in besonderen und schwierigen Lebenslagen.“ (ebd., S.321)

Soziale Ungleichheiten überleben also im neuen Gewand der „Chancen und Risiken“, denn der unterschiedliche Zugang zu kulturellen, materiellen und sozialen Ressourcen bekommt hier eine neue Dimension verpasst. Zentrale Fragen, die sich aus dem Strukturwandel ergeben, scheinen zu sein: Wie stehen Jugendliche im Wettkampf um eben diese Ressourcen der Gesellschaft und untereinander gegenüber? Wie können sie diese in der modernen Gesellschaft erlangen? Und somit auch: Wie können sie ihre Bedürfnisse vor dem Hintergrund oberflächlich gewachsener Möglichkeiten, aber nach wie vor ungleicher Chancen der Realisierung der Lebensplanung, überhaupt durchsetzen?

2.1.3 Betrachtung der Lebensphase Jugend heute

Ferchhoff (1993a, S.56) spricht von einer „qualitativen Veränderung der Jugendphase“, welche schon im Begriff des „Strukturwandels“ ersichtlich sei. Die Jugendphase hat sich „zu einem eigenständigen und relativ offenen Lebensbereich gewandelt“ (Ferchhoff, 1991, S.104). Hurrelmann (1999, S.22) beschreibt die individuelle Lebensspanne heute als „in einzelne Lebensphasen und Lebensabschnitte“ unterteilt. Es sei so zu einer „verstärkten ’Ausdif-ferenzierung’ einzelner Lebensphasen“ (ebd.) gekommen, die sich zu einer noch stärkeren Segmentierung fortsetzen wird. So ist „Der Übergang in das Erwachsenenalter … weniger klar konturiert und zerfällt in eine tendenziell zusammenhanglose Abfolge von Teilübergängen“ (Ferchhoff & Olk, 1988, S.9). Die Übergänge zwischen Kindheit – Jugend – Erwachsenenalter verlieren somit immer mehr an klarer Abgrenzung (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.53ff).

So ermöglicht die moderne Gesellschaft bereits eine „Nach-Jugend-Phase“ bzw. „Postadoleszenz“ (vgl. Gillis, 1980, S.206f; Mitterauer, 1986, S.93). Hurrelmann (1999, S.23) behauptet für die 1990er Jahre bereits die allgemeine faktische Präsenz einer solchen „Lebensphase ’Nachjugendalter/junger Erwachsener’“ als erweiterte Übergangsphase zwischen Jugend und Erwachsenenalter. Ferchhoff & Olk (1988, S.10) beschreiben diese Phase der „Post-Adoleszenz“ wie folgt: „sozialkulturelle Mündigkeit auf der Grundlage der Teilhabe an den Lebensformen der Erwachsenen bei gleichzeitiger ökonomischer Unselbständigkeit“. Ähnlich äußert sich auch Gillis (1980, S.206): „Mündigkeit ohne wirtschaftliche Grundlage“. Jugendliche in der „Post-Adoleszenz“ besitzen politische und rechtliche Eigenständigkeit. Sie sind im Freizeitverhalten von der Herkunftsfamilie abgelöst, aber oft in einem Zustand der finanziellen Abhängigkeit gefangen. Hornstein (1989, S.122) beschreibt diese Situation als „konflikthafte Mischung aus kultureller Selbständigkeit und ökonomischer Abhängigkeit“. Es ergibt sich gewissermaßen ein Leben in der Zwischenwelt, des „Nicht-mehr-aber-noch-nicht-Seins“ (vgl. Böhnisch, 2002, S.72). Ferchhoff (1993a, S.58) spricht von einem „Nachlassen der Zielspannung Erwachsen zu werden“, da trotz ungelöstem Übergang in die Erwachsenenwelt (z.B. über den Eintritt in die Erwerbsarbeit) dem Jugendlichen in dieser Phase nahezu alle Möglichkeiten des Konsums, der sozialen und kulturellen Teilhabe und der Freizeitgestaltung offen liegen.

Als Folgen dieser Segmentierung und Ausweitung nennt Hurrelmann (1999) unter anderem die Schwierigkeit der „Selbstdefinition“ (S.24) des Individuums über die Lebensphase bei gleichzeitig größerer „Vielfalt von Möglichkeiten der Neugestaltung und der Neudefinition seines Lebensentwurfs.“ (ebd.). Die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums befindet sich heute oft in lebenslangem Fluss, ist nie wirklich abgeschlossen. Jugendtypische Verhaltensmuster wie Orientierungssuche und geringere Festlegung finden sich so auch bei Erwachsenen wieder (vgl. Hurrelmann, 2002, S.37), der „Erwachsenenstatus … selbst [ist] ins Rutschen geraten“ (Ferchhoff & Olk, 1988, S.10).

Zudem findet der Übergang über Rituale und Inititiationsriten angesichts der anwachsenden Ausdifferenzierung der Lebensphasen kaum mehr reale Entsprechung, sie werden teils durch neue Zäsuren (wie z.B. Führerscheinerwerb) „ersetzt“ (vgl. Ferchhoff & Olk, 1988, S.9f). Die Statusübergänge sind heute „enttraditionalisiert, entritualisiert und individualisiert“ (ebd., S.9; vgl. Ferchhoff, 1993a, S.53f; Mitterauer, 1986, S.92f). Die durch die Segmentierung entstandene neue Freiheit ermöglicht zwar die eigene Planung und Gestaltung des Lebenslaufs, erfordert aber auch besonders „persönliche Definitions- und Organisationsleistung“ (Hurrelmann, 1999, S.25) und lebenslange „sondierende Haltung“ (Hurrelmann, 2002, S. 37). Der Verlust der Klarheit über die eigene Verortung innerhalb der entgrenzten und entritualisierten Lebensphasen ist hier die Kehrseite der gewachsenen Freiheiten in der eigenen Lebensgestaltung.

Wie lässt sich die Jugendphase also heute angesichts dieser „Entgrenzung“ der Lebensphasen und der Ausweitungstendenzen (zeitlich) überhaupt noch einfassen? Laut Fuchs (1992) „lässt sich Jugend in einem ersten Anlauf zwischen Kindheit und Erwachsenenalter“ (S.77) einfassen. Ferchhoff (1993a) sieht, unter Berücksichtigung der Ausweitung der Jugendphase, die Grenzen in einem Zeitraum „von 12 bis cirka 25 (zuweilen auch bis 35) Jahren“ (S.53), mit „vor allem nach hinten ausgedehnten, unscharfen Rändern“ (ebd.). So kann auch laut Hurrelmann (1999), unter Berücksichtigung der Chancenungleichheit der modernen Gesellschaft, „die Abgrenzung der Jugendphase zur Erwachsenenphase … kaum altersmäßig festgelegt werden. Sie ist in einem erheblichen Ausmaß von den jeweiligen gesellschaftlich bedingten Lebenslagen und Chancenstrukturen abhängig“ (S.50). Um die Versuche der Eingrenzung dieser offensichtlich schwer zu fassenden Lebensphase Jugend (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.53ff) zu vervollständigen, soll hier die entwicklungspsychologische Perspektive kurz betrachtet werden.

Aus der entwicklungspsychologischen Sicht heraus ergibt sich ein an das biologische Alter gekoppelter Übergang zwischen Kindheit und Jugend beim Eintritt in die Geschlechtsreife (vgl. Hurrelmann, 1999, S.31). Sie beinhaltet „eine völlig neue, qualitativ gegenüber der Kindheit andersartige gestaltete Form der Verarbeitung von Entwicklungsanforderungen“ (ebd., S.31). Das entstehende Ungleichgewicht „zwischen biologischer und psychosozialer Entwicklung“ (ebd., S.32) erfordert ständige Angleichung und Umformung.

Für den Übergang des Jugendlichen ins Erwachsenenalter müssen demnach erst zentrale Entwicklungsaufgaben durch den Jugendlichen gemeistert werden: Die „Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz“ (Hurrelmann, 1999, S.33) für die berufliche und schulische Qualifikation für den Arbeitsmarkt, und somit für die Schaffung einer eigenständigen, ökonomischen Existenzsicherung. Darüber hinaus ergeht die Entwicklungsaufgabe des Aufbaus einer Paar-beziehung als „Basis für eine Familiengründung“ (ebd., S.34), das Erlernen verantwortungsvollen Umgangs mit Freizeit, Konsum und Medien, sowie die Herausbildung politischen und ethischen Bewusstseins (ebd.). Sind diese zentralen Aufgaben gelöst und eine „ psychische und soziale Ablösung von den eigenen Eltern “ (ebd., S.35) erfolgt, spricht man von einer „’Selbstbestimmungs-fähigkeit’ des Individuums“ (ebd., S.34). Diese Selbständigkeit und Stabilität setzt in der Theorie gleichsam den Schlusspunkt der Such- und Experimentier-bestrebungen im Jugendalter (vgl. ebd.).

Die soziologische Perspektive geht eng in Anlehnung an das entwicklungspsychologische Konzept der Entwicklungsaufgaben davon aus, dass wichtige Kompetenzen für die Übernahme späterer, für die Gesellschaft wichtiger Rollen über die Lebensphasen hinweg entsprechend „weiterentwickelt und entfaltet werden“ (ebd., S.38). Diese „Teilrollen“ (ebd., S.42) sind dabei analog zu den Entwicklungsaufgaben zu setzen. Diese genannten Entwicklungsaufgaben bezeichnen dabei „die psychisch und sozial vorgegebenen Erwartungen und Anforderungen … , die an Personen in einem bestimmten Lebensabschnitt gestellt werden“ (ebd., S.33), sie sind „Zielprojektionen, die in jeder Kultur existieren, um die Anforderungen zu definieren, die ein Kind, ein Jugendlicher, Erwachsener und ein alter Mensch zu erfüllen haben“ (Hurrelmann, 2002, S.35). Oder wie Fuchs (1992) formuliert: „’Entwicklungsaufgaben’ sind also solche herausfordernde konkrete Zielstellungen, die Tätigkeitsprozesse organisieren und die im Hinblick auf die Entwicklung von Handlungskompetenz ausgewählt worden sind“ (S.40). Dieses Konzept ist aber nun brüchig geworden. Die Zielgerichtetheit und Normativität der Aufgaben, wie sie oben definiert werden, widerspricht der wachsenden Ungewissheit und dem Schwinden fester Orientierungsvorgaben in der modernen Gesellschaft. Zudem sind diese „’Aufgaben’ … bestimmt durch überschau- und realisierbare Ergebnisse auf der Grundlage vorhandener oder beschaffbarer Mittel“ (ebd.). Diese Grundlagen sind immer weniger gewährleistet.

Eindeutige Markierungen eines Übergangs vom Kind zum Jugendlichen, und vom Jugendlichen zu Erwachsenen bestehen so scheinbar nicht (mehr) (vgl. Hurrelmann, 1999, S.35). So spricht Kohli (1985, zit. n. Ferchhoff & Olk, 1988, S.9) bezogen auf diese Aufweichung von einer „’Destandardisierung’ bzw. ’Dechronologisierung’ des Lebenslaufs“. Der gesellschaftliche Wandel erschafft Unsicherheiten und Widersprüche, die dem Konzept fixierter Übergangspunkte entgegenlaufen. Der Eintritt ins Arbeitsleben erscheint für Jugendliche heute zwar nach wie vor als wichtiges Ereignis eines Übergangs ins Erwachsenenleben, wird aber nach Baethge (1988, zit. n. Fuchs, 1992, S.83) immer seltener „Kristallisationspunkt für kollektive Erfahrungen“. Aufgrund wachsender Bedrohung durch Arbeitslosigkeit[1] und der (zeitlichen) Ausgrenzung der Jugendlichen vom Arbeitsleben, bei teils längerem Bildungsweg (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.56) und somit unterschiedlichen Eintrittszeitpunkten, ergeben sich wichtige Differenzierungen. Arbeitseintritt und Familiengründung als ehemalige Bestandteile einer „Normalbiographie“, als Entwicklungsaufgaben und eindeutige Punkte eines Übergangs ins Erwachsenenleben, weichen also immer mehr auf (vgl. Ferchhoff, 1993b, S.340).

So scheint aber in der Literatur eine relevante „Entwicklungsaufgabe“, die für Jugendliche hier und heute fast schon verallgemeinernd gesetzt werden kann, gewissermaßen in der riskanten Aufgabe der eigenständigen Planung und Gestaltung der eigenen Biographie (wie auch immer diese aussehen mag) zu bestehen. Ferchhoff (1993a) spricht hier von der „Biographisierung“ (S.58) der Jugend. Und diese Aufgabe will vor dem Hintergrund der Individualisierung, unklarer und unsicherer Zukunft, unterschiedlich verteilter Chancen, und der Belastungen des „Zwischen-den-Stühlen-Stehens“ einer erweiterten Jugendphase gelöst sein.

2.1.4 Peergroup, Clique, Jugend(sub)kultur

Jugend erscheint heute zunehmend pluralisiert und in vielfältige Formen ausdifferenziert. So haben sich „in den 90er Jahren … gegenüber den 80er Jahren die diversen Jugend-Szenen noch einmal beträchtlich vermehrt und vielfältig ausdifferenziert“ (Ferchhoff, 1993a, S.83; vgl. Liebel, 1990, S.214). Die Jugend (als soziale Gruppe) gibt es so scheinbar nicht. Oder wie Ferchhoff (1993a) auch schreibt: „ Jugend ist nicht gleich Jugend “ (S.57). Clique, Peergroup (oder Gleichaltrigengruppe) und Jugend(sub)kultur als differenzierte Formen jugendlicher Gemeinschaft fanden somit in den letzten 30 Jahren besondere Beachtung in der Jugendforschung (vgl. Ferchhoff & Olk, 1988, S.12).

„Es gilt also neben den institutionalisierten, aber unsichtbar werdenden sozialen Übergängen … insbesondere auch die heutigen, eher entritualisierten Prozesse der ’selbstinitiierten’ biographischen Übergänge und entinstitutionalisierten Lebenslaufperspektiven sowie vor allem die heutige Vielfalt der jugendlichen Lebenslagen, Lebensformen und Lebensstile … in den Blick zu nehmen.“ (Ferchhoff, 1993a, S.107)

Um dieser Pluralisierung gerecht zu werden, versucht Ferchhoff (1993a) in 23 Punkten der heutigen Jugend ein Gesicht zu geben. Von diesen sollen als Einstimmung in den Themenbereich im Folgenden nur diejenigen erwähnt werden, die im Rahmen dieses Unterpunktes dieser Diplomarbeit m.E. die größte Relevanz aufweisen.[2]

(4) „Jugend ist Gegenwartsjugend“

Jugendphase als solche weicht an ihren Rändern immer mehr auf, wird an ihrem oberen Rand durch eine „Nachjugendphase“ ausgeweitet. So kommt es aufgrund der Möglichkeit der Teilhabe an der Erwachsenenwelt erstens zu einem Nachlassen der „Zielspannung“ (ebd., S.119) Erwachsen zu werden (vgl. ebd.), zweitens angesichts wachsender Unsicherheiten und schwindender Garantien zu einer stärkeren Gegenwartsorientierung, zu einem hedonistischem „Hier-und-jetzt“-Lebensstil. Zukunftsorientierung und Verzicht auf gegenwärtigen Genuss im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten haben für Jugendliche oft kaum noch erkennbaren Wert (vgl. ebd., Ferchhoff, 1991, S.104). Es besteht aber auch teils die Notwendigkeit zur Gegenwartsorientierung, da nur so eine höhere Flexibilität im Umgang mit „diffuse[n] Lebenssituationen“ (Ferchhoff, 1993a, S.120) möglich wird. So schreibt Ferchhoff (1993a):

„Jugendzeit ist … eigenständige, lustvolle und bereichernde Lebensphase, also Selbstleben, jetzt zu lebendes, gegenwärtiges … hedonistisch genußreiches, manchmal aber auch … ein durch die mühsame Bewältigung von Alltagsaufgaben geprägtes Leben.“ (ebd., S.120)

Es bleibt aber zu fragen, ob diese Beschreibung der Lebensphase Jugend durch Ferchhoff (1993a) nicht zu euphemistisch geraten ist. Zudem muss vor Verallgemeinerungen gewarnt werden. Die nach wie vor vorhandenen Chancenungleichheiten setzen nämlich Unterschiede in den Möglichkeiten und Grenzen hedonistischer Lebensführung und allzu einseitiger Gegenwarts-orientierung, von den unterschiedlich starken (und so gar nicht „lustvollen“) Belastungen und Behinderungen für Jugendliche einmal ganz abgesehen. Auch wenn heute von einer wachsenden Gegenwartsorientierung in der Jugend gesprochen werden kann, so spiegeln die Äußerungen von Zukunftsängsten Jugendlicher aber eines mit Gewissheit wieder: die Zukunft ist noch längst nicht tot im Bewusstsein der Jugendlichen. Sie bekommt vielmehr ein verändertes Vorzeichen verpasst.

(8) „Jugendkultur ist alltagskulturell vermittelte Jugendkulturjugend“

In der heutigen modernen Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen sog. „höherer Kultur“ und den „Unterhaltungs- und Alltagskulturen für die Massen“ (Ferchhoff, 1993a, S.124). Durch Massenmedien (insbesondere technische Medien wie Fernsehen, Computer und durch die Medien der Musikindustrie) wird nach kapitalistischer Verwertungslogik je nach Geschmack „aufbereitete“ Massenkultur verbreitet und mit Vorhandenem vermischt. Dieses bezeichnet den ständigen Wechsel zwischen Protestcharakter (und -potential) eines (subkulturellen) Stils und schleichender Kommerzialisierung durch die Mode-, Musik- und Freizeitindustrie. Als Reaktion werden Stile oft durch weitere Ausdifferenzierung wieder abgegrenzt, dennoch wiederum nach gewisser Zeit von sog. „trendscouts“ für kommerzielle Verwertung entdeckt (siehe „Punk-Revival“, „Seventies-Mode“ etc.). Mode, Musik, Lebensstil werden zu Symbolen dieser Massenkultur, welche dann durch Kinder und Jugendliche durch „Selektion, Sinnverschiebung und Neucodierung (erneut) umgewandelt und aus ihrem gewohnten Kontext herausgelöst werden“ (ebd., S.125) können. Kinder und Jugendliche sind in dieser Sicht nicht so sehr Opfer der „Kulturindustrie“ sondern eher kreative Bastler eigener Jugendkultur (vgl. ebd.; Willis, 1981, Original London, 1978, S.20ff).

(12) „Jugend ist Gleichaltrigenjugend“

Mit Beginn der Einführung altershomogener Schulklassen wurde Schule mehr und mehr zum Entstehungsort von Gleichaltrigengruppen. Man befindet sich hier unter „Seinesgleichen“ (Ferchhoff, 1993a, S.128), „Jugend [ist] zu ihrer eigenen Bezugsgruppe geworden“ (ebd.). Im Zuge der zeitlichen Ausweitung des Bildungswegs ergibt sich analog auch eine zeitliche Ausweitung der Zugehörigkeit zu eben diesen Gleichaltrigengruppen (vgl. ebd.). Cliquen agieren aber dennoch größtenteils außerhalb der Schulen, da sich dort die Freizeit der Jugendlichen abspielt. Ein großer Teil der sozialen Beziehungen (und auch der Sozialisation) findet somit zunehmend (und ergänzend) außerhalb der primären Sozialisationsinstanzen Familie und Schule ab, nämlich in den „informellen Jugendkulturen oder Cliquen“ (Ferchhoff, 1993a, S.128). Experimentieren, Unverbindlichkeit, Sich-verstanden-fühlen, „Geborgenheit, Wärme, Sicherheit, Zusammengehörigkeit und Solidarität“ (ebd., S.129) zeichnen den Inhalt und die „Pull-Faktoren“ dieser Gruppen aus. Sie üben so angesichts wachsender Unsicherheiten und der Entsolidarisierung in der modernen Gesellschaft enorme Anziehungskraft auf Jugendliche aus. Die wachsende Wichtigkeit der Gleichaltrigengruppen im Leben Jugendlicher hat aber nicht nur positive Seiten. Abgrenzungserscheinungen, Rivalitäten und die „mögliche Tyrannei der Peers“ (ebd.), d.h. Ausgrenzung der Mitgliedschaft aus eben diesen Gruppen, werden von Ferchhoff (1993a) als die bedrohlichen Seiten dieser Entwicklung hingestellt (vgl. ebd.).

(19) „Jugend ist Patchworkjugend“

Laut Ferchhoff (1993a) werden die durch die Schwächung traditioneller identitätsstiftender Gemeinschaften und Institutionen entstehenden Lücken zunehmend durch medial vermittelte und überformte Lebensstile ersetzt. Diese befinden sich im ständigen Wandel, es zeichnet sich daher „keine klar abgrenzbare Gestalt ab“ (ebd., S.137). Identitätsaufbau auf dieser wechselhaften Basis führt dazu, dass das „’persönliche Ich’ vergänglicher, verletzlicher und zerstörbarer, aber auch segmentierter und widersprüchlicher“ (ebd.) geworden ist. Hier wird noch einmal auf die Ambivalenz dieser Entwicklung hingewiesen: auf der einen Seite der negativ aufgefasste Verlust von Eindeutigkeit, Sinnhaftigkeit und sozialer Verortung, auf der anderen Seite der positiv bewertete „Zugewinn bezüglich der kreativen, schöpferischen Seiten ohne Identitätszwang“ (ebd.). Als Folge ergeben sich Suchbewegungen in verschiedene Richtungen und ein Austesten von potentiellen Lebensentwürfen, ohne feste Verbindlichkeiten eingehen zu müssen (vgl. ebd., S.138). Diese Sinnsuche zeigt sich unter anderem in „jugend(sub)kulturellen Karrieren“, d.h. dem Wechsel bzw. der Vermischung der Zugehörigkeit zu Jugendszenen, so z.B. „vom Punk zum Skin“. Identitäts-entwicklung wird hier zur biographischen Aufgabe, zersplittert-beliebig (d.h. sie beinhaltet die Gefahr, sich u.U. in einer Collage beliebiger Teile nicht wirklich wieder zu erkennen) und vielgestaltig-flexibel (d.h. kreativ mit jugendkulturellen Stilelementen am eigenen Selbst arbeiten und entsprechend Teile erprobend hinzufügen) (vgl. Ferchhoff, 1993a, S.138). Jugendliche Biographie als Patchwork, eben „von Vielem etwas“.

(21) „Jugend ist ego- und ethnozentrische Jugend“

Jugend(sub)kulturen zeichnen sich durch die Abgrenzung nach außen, als Markieren des „Anders-Seins“, und nach innen, als Mittel der Schaffung von gemeinsamer Identität und Zugehörigkeitsgefühl, aus. Diese Abgrenzung äußert sich in bestimmten Jugend(sub)kulturen dabei teils in „ethnozentrische[r] Gruppenhaltung, die die jeweils anderen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten … aggressiv ausschließt“ (ebd., S.140), und in einer (z.T. gewaltsamen) Abwehr der „Nichtdazugehörigen“ (ebd.). So wird hier kritisch bemerkt, dass die wachsende Pluralität auch neue Konfliktlinien heraufbeschwört, und oft eben nicht zu Akzeptanz der Andersartigkeit und kultureller Bereicherung geführt hat (vgl. ebd.).

Ergänzend zu den oben genannten Punkten sollen im Folgenden für die Begriffe Peergroup, Clique und Jugend(sub)kultur Inhalt und Bedeutung für Jugendliche näher erläutert werden.

Peergroup

„peer group

Gruppe von àGleichaltrigen“ (Reinhold, 1991, S.598).

Anwendung findet der Begriff Peergroup in der Kindheits- und Jugendforschung. Peergroup wird als Begriff allgemein gleichgesetzt mit Gleichaltrigengruppe (hier: von Jugendlichen), was zwar eine altersgemäße Homogenität schon impliziert, aber der Realität nur begrenzt entspricht. So scheint der „Peergroup“-Begriff vielmehr auch eine Information über den biographischen Entwicklungsstand des Jugendlichen zu beinhalten.

„Gleichaltrige finden sich strukturell in der gleichen Lebenslage und nehmen eine gemeinsame Definition ihrer Lebenswelt vor. Sie können sich deswegen bei der Lösung ihrer biographischen Aufgaben gegenseitig unterstützen.“ (Hurrelmann, 1999, S.41)

Durch Schule und soziales Umfeld vermittelte soziale Kontakte mit Gleichaltrigen bekommen so gerade in der Phase der Ablösung des Jugendlichen vom Elternhaus eine besondere Bedeutung zugemessen. Hurrelmann (1999) setzt der „psychologischen Entwicklungsaufgabe ’Ablösung von den Eltern’“ (S.40) die „soziologische Entsprechung, die in einer Verselbständigung der sozialen Kompetenzen und Kontakte und in einer Anreicherung des sozialen Rollengefüges besteht“ (ebd.), entgegen. Dabei wächst „die Bedeutung der Freund-schaftsbeziehungen und Gleichaltrigenkontakte … in dem Maße an, wie die innere Ablösung der Jugendlichen von den Eltern erfolgt“ (ebd., S.154). Für diese Aufgabe der Kontaktaufnahme gibt es jedoch nur geringe Anleitung. Sie muss deshalb entsprechend individuell gelöst werden (vgl. ebd., S.40).

Diese Ablösung von der Familie geschieht auch räumlich. Im Freizeitverhalten kommt es zu einer Verlagerung des Bezugspunkts von der Familie hin zur Peergroup. In der Peergroup wird gemeinsame Aktion und gemeinsames Freizeiterleben außerhalb der (sozialen Kontrolle der) Familie möglich. Baacke (1987, zit. n. Hurrelmann, 1999) beschreibt Peergroups als von Jugendlichen selbstinitiierte und von der Erwachsenenwelt abgegrenzte „freizeitgebundene Gesellungsformen“ (S.152).

Die Peergroup offeriert Jugendlichen im Vergleich zur Familie erweiterte Möglichkeiten. So ist sie auch Ort der Kommunikation und des Austauschs über für Jugendliche wichtige und sensible Themen wie z.B. Sexualität und Zukunftsängste. Sie verspricht die gemeinsame Bearbeitung jugendtypischer Probleme und Bedürfnisse, welche „in der familialen Kommunikation ausgespart bleiben“ (Hurrelmann, 1999, S.153). Die wichtige Entwicklung von „Handlungs-kompetenzen“ im Umgang mit Regeln, das Erproben von „Rollen, die in Familie und Schule so nicht ausgeübt werden können oder dürfen“, und nicht zuletzt die „Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung“ und das Vorhandensein von „Sicherheit und Solidarität“ (Krappmann, 1991, zit. n. Hurrelmann, 1999, S.153) zeichnen Peergroups aus. Sie erfüllen so die Funktion einer ergänzenden Sozialisationsinstanz (vgl. Hurrelmann, 1999, S.154), eines temporären sozialen Stützungs-, Lern- und Experimentierfelds. Die Peergroup dient darüber hinaus als „Pufferzone“ (Baacke & Ferchhoff, 1993, S.411), wo sanfte Vorbereitung auf die Leistungsgesellschaft möglich wird.

In den Gleichaltrigengruppen können Jugendliche ihre individuellen Bedürfnisse, Orientierungen, Vorstellungen und Interessen einbringen. Decken sich diese mit denen der Peergroup, und bietet sie entsprechende Möglichkeiten der Bedürfnisbearbeitung und Selbstverwirklichung, so kann sie durchaus in starke Konkurrenz zum primären Sozialisationsfeld der Familie treten (vgl. Hurrelmann, 1999, S.153). Sie kann somit zum „dominierenden Orientierungs- und Handlungsfeld im Jugendalter“ (ebd., S.152) werden. Peergroups entwickeln eigene Regeln und Orientierungen. Zinnecker (1987) spricht hier, unter Berücksichtigung „gewandelte[r] Konfiguration sozialer Kontrolle“ (S.311) angesichts „schwindenden Einflusses traditioneller Sozialmilieus“ (ebd.), von einer zunehmenden „Sozialisation in Eigenregie“ (ebd.) (=Selbstsozialisation)[3] in den Gleichaltrigengruppen. Hurrelmann (2002) betont dagegen eher ihren Beitrag „zur Selbstorganisation und Selbstkontrolle im Jugendalter“ (S.242).

Zugehörigkeit setzt demnach auch die Anerkennung dieser Regeln voraus (vgl. Hurrelmann, 2002, S.240). Diese können jedoch entlang der Bedürfnisse der Mitglieder modifiziert werden (vgl. Krappmann, 1991, zit. n. Hurrelmann, 1999, S.152f). Sie sind also keinesfalls starr und unabänderlich, sondern werden entsprechend immer wieder neu ausgehandelt. Gerade der informelle Charakter und die „flexible[…] Struktur“ (Hurrelmann, 1999, S.152) der Peergroups wirken sehr anziehend auf Jugendliche. So liegt laut Hurrelmann (1999) „der besondere Reiz der Gleichaltrigengruppen … in ihrer symmetrischen Konstitution, die ganz anders angelegt ist als die Beziehungen innerhalb der Familie“ (S.153). Der Jugendliche sieht sich in der Peergroup anderen „Gleichgesinnten“ und auch „Gleichbetroffenen“ gegenüber. Kommunikation auf gleicher Augenhöhe (und auf der Basis gleicher Erfahrungen) wird möglich. Oder wie Hurrelmann (2002) auch schreibt: „Zum ersten Mal werden sie als ’vollwertige’ Mitglieder wahrgenommen“ (S.240).

Peergroups grenzen sich in sehr unterschiedlicher Intensität gegen ihre soziale Umwelt ab. Nonkonformes Verhalten, das spielerische Austesten von gesell-schaftlichen Grenzen, Protestverhalten und die Ablehnung der Erwachsenenwelt sind laut Hurrelmann (2002) sogar in Maßen „notwendig, damit die Gleichaltrigengruppen ihre Sozialisationswirkung überhaupt erst entfalten können“ (S.240). Dies kann sich aber auch in einer übersteigerten „ Verweigerungshaltung “ (Hurrelmann. 1999, S.155) und delinquentem Verhalten äußern. Hurrelmann (1999) betont dementsprechend auch die möglichen negativen Folgen der enormen Einfluss- und Bindungskraft der Peergroup auf Jugendliche: die potentielle Abschottung gegenüber der sozialen Außenwelt und die unreflektierte Übernahme gruppeninterner Verhaltensmuster und Orientier-ungen, sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewalt (vgl. Hurrelmann, 1999, S.155).

Clique

Clique die, Sippschaft, Gesellschaft, selbstsüchtige Gruppe“, so wird „Clique“ in der Brockhaus Online-Datenbank (www.brockhaus.de; Stand 19.6.2003) ange-geben. Das „Soziologie-Lexikon“ (Reinhold, 1991) führt für „Clique“ gleich zwei Inhalte an: die „Bande“ (S.84) als Umschreibung für delinquente informelle Gruppen, und zweitens als Begriff für „informelle Gruppen … , die auf unaus-gesprochenem à Konsens basieren und sich nicht von der bestehenden Ordnung ausgrenzen“ (ebd.). „Solche C. finden sich in allen Lebensbereichen, wie in Künstlerkreisen, in lokalen Nachbarschaften, in Vereinen“ (ebd.).

Cliquen zeichnet aus, „daß sie aus mehreren Mitgliedern bestehen, die gemeinsame Aktivitäten unternehmen, wobei zwischen den Mitgliedern jedoch meist keine ganz engen Beziehungen bestehen“ (Hurrelmann, 1985, S.72, zit. n. Krafeld, 1992a, S.29). Der Begriff Clique sagt also zunächst nichts über eine altersbezogene Homogenität oder anders gelagerte Einordnung ihrer Mitglieder aus (weder nach Alter, Geschlecht, noch Nationalität). Allein der oft im Zusammenhang benutzte Bezug auf Jugendliche gibt hier einen sehr groben zeitlichen Rahmen vor (und auch hier muss m.E. noch einmal auf die schwer zu leistende Abgrenzung der Jugendphase heute hingewiesen werden!). Eine eindeutige Umschreibung des Begriffs „Clique“ (bezogen auf jugendliche Cliquen) ließ sich in der bearbeiteten Literatur nicht finden. Er bietet keine klaren Abgrenzungen an (vgl. Krafeld, 1992a, S.29, Liebel, 1990, S.214), ist nur wenig differenziert ausgearbeitet[4]. Tatsächlich scheint der Begriff in der Fachliteratur oft synonym für die Gleichaltrigengruppe (Peergroup) verwendet zu werden. Auch Liebel (1990) setzt inhaltliche Analogien zum Begriff der Gleichaltrigengruppe, wenn er schreibt, dass die „informelle Jugendgruppe … in Konkurrenz zum Einfluss und Machtanspruch der Elternfamilie “ (S.215) steht, und sie den Jugendlichen die Möglichkeit verschafft, „sich partiell der Kontrolle der elterlichen Familie zu entziehen und das ’eigene Leben’ mit möglicherweise anderen Wertmaßstäben und Handlungsmaximen zu erproben“ (ebd.)[5].

Ist Clique gleichzusetzen mit Peergroup? Ein erkennbarer Unterschied besteht zumindest zwischen dem Peergroup-Begriff und den z.B. von Liebel (1990) angeführten „Cliquen und informelle[n] Jugendgruppen“ (S.214): Cliquen bekommen hier einen jugend(sub)kulturellen „touch“ verpasst, den der Peergroup-Begriff so nicht leistet. Unter Bezug auf die „Wilden Cliquen“ der 1920er Jahre (siehe Lessing & Liebel, 1981) schreibt Liebel (1990):

„Versuchen wir uns vorzustellen, was unter dem Begriff der informellen Jugendgruppe gemeint sein könnte, so denken wir an Cliquen von Fußballfans, Rocker, ’Streetgangs’, Motorrad-Fans, Skinheads, Punks, Jugendzentrums-Initiativen, Friedensgruppen, Dritte-Welt-Solidaritäts-gruppen, religiöse Jugendsekten etc. . … einige Jahre früher hätten wir die ’Wandervögel’, die bündischen Gruppen, die ’Wilden Cliquen’ und diverse andere ’Meuten’ hinzurechnen können.“ (ebd., S.214)

„Es handelt sich also um ein recht breites und vielfältiges Spektrum, das nur schwer auf einen Nenner zu bringen oder systematisch zu klassifizieren ist.“ (ebd.)

Der Schluss daraus lautet demnach: Die Clique als solche bezeichnet eine informelle Gruppierung Jugendlicher vor dem Hintergrund der (mittlerweile) enorm angewachsenen und schwer zu überschaubaren Vielfalt jugend(sub)kultureller Stile und Ausdrucksformen (vgl. Liebel, 1990, S.214). Die Zugehörigkeit zu einer Clique beinhaltet scheinbar, trotz möglicher jugend(sub)kultureller Aus-drucksformen dieser, nicht unbedingt Identifikation der Mitglieder mit eben jenen Jugend(sub)kulturellen Stilen (vgl. ebd.). Sie kann (als „informelle Jugendgruppe“) erst einmal als Zusammenschluss junger Menschen betrachtet werden, inhaltlich ähnlich der Gleichaltrigengruppe als (häufig männliche dominierte) „Interessens- und Freizeitgemeinschaft“ (vgl. Hurrelmann, 1999, S.152f; Mitterauer, 1986, S.236ff). Aber sie sollte nach Liebel (1990) unbedingt auch als Reaktion auf gesellschaftliche Marginalisierung von Jugendlichen verstanden werden (vgl. ebd., S.217).

Was also kennzeichnet Cliquen? Wo liegt ihre Bedeutung für Jugendliche? Auch hier gibt Liebel (1990) einige wichtige Hinweise (welche aber wiederum Ähnlichkeiten zur Gleichaltrigengruppe erkennbar werden lassen):

„Die informellen Gruppen sind … überschaubare Gebilde, in denen persönliche Bedürfnisse und Erlebnisse Vorrang haben. Die Zugehörigkeit hat eher flüchtigen Charakter und ist nicht an formale Regeln gebunden. Die informellen Strukturen mögen mitunter hierarchische Züge aufweisen, unterliegen aber dem unmittelbaren Einfluss der Cliquenange-hörigen.“ (ebd., S.216)

In weiteren Ausführungen bemerkt Liebel (1990) zwar die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung in der Clique, sowie die gemeinschaftliche Bearbeitung individueller Bedürfnisse (vgl. ebd.). Liebel (1990) rückt die Clique aber von einer reinen Freizeit- und Selbstverwirklichungsfunktion ab, denn er betont, dass das Leben in Cliquen trotz offener Suche nach Erleben und Genuss „noch lange nicht [bedeutet], daß das Zusammensein in der Clique nur dem Vergnügen dient oder gar nur vergnüglich ist“ (S.217). Er vertritt daher die These, „daß Jugend-Cliquen vor allem dann entstehen und an Bedeutung gewinnen, wenn Jugendlichen eine vorstellbar gewordene bessere Zukunft abgeschnitten wird“ (ebd.).

Zusammenfassend kann festgestellt werden: anders als der Peergroup-Begriff gewinnt Clique hier einen schärferen sozialpolitischen Charakter, denn sie wird von Liebel (1990) inhaltlich in den sozialen Kontext der modernen Risiko-gesellschaft gesetzt. Sie gewinnt die Funktion einer „Protest- und Bewältigungsgemeinschaft“, entgegen Unsicherheit, individueller Belastung, Entsolidarisierung und auch räumlicher Blockierung (vgl. ebd., S.217ff) in der heutigen Gesellschaft. Diese „gemeinschaftliche Bewältigung“ gesellschaftlicher Marginalisierung greift mitunter auf subkulturelle Ausdrucksformen zurück. Liebel (1990) betont vor diesem Hintergrund besonders die fortschreitende räumliche Ausgrenzung der Jugendlichen heute (vgl. ebd., S.218f).[6]

Jugend(sub)kultur

Was ist Jugendkultur, was Jugendsubkultur? Um dieser Fragestellung näher zu kommen, zerlegt man vielleicht am Besten zuerst den Begriff der Jugendsubkultur. Es bleibt dann die Frage, was das Element der „Subkultur“ auszeichnet. Das „Soziologie-Lexikon“ (Reinhold, 1991) beinhaltet folgende Annäherung:

„Subkultur (lat.): ’Unter-Kultur’. Unter S. versteht man eine in sich geschlossene gesellschaftliche Teilkultur, die sich in ihren àInstitutionen, àWerten, àNormen, àBedürfnissen, àVerhaltensweisen und àSymbolen von der gesellschaftlich dominierenden (z.B. Mittelschichtskultur) unterscheidet.“ (S.598)

Unter Bezug auf die sozialökologisch-ethnologischen Forschungen der „Chicagoer Schule“ in den 1940er und 1950er Jahren wird der Subkulturbegriff hier zunächst auch mit delinquentem Verhalten Jugendlicher aus den sozialen Unterschichten verbunden (vgl. ebd.).

„Die Mitglieder krimineller Jugendbanden und ’gangs’ entstammen vorwiegend sozialen Unterschichten; sie verletzen aufgrund sozialer Diskriminierung und mangelnder gesellschaftlicher Aufstiegschancen bewußt und systematisch Ziele und Werte der dominanten Kultur.“ (ebd.)

Laut Hurrelmann (1999) wird „mit einer Subkultur … das von der vorherrschenden Kultur abweichende Muster von Werten, Normen und Verhaltensweisen bezeichnet, das deutlich als Modifikation oder sogar Gegenposition zur Gesamtkultur erkennbar ist“ (S.155). Und:

„Mit einer jugendlichen Subkultur ist also die Entstehung und Ausbreitung verfestigter Milieus bezeichnet, die Jugendlichen eine spezifische Sicht der ’Welt’ vermitteln, die sich von der gesellschaftlich vorherrschenden ’Normal’-Kultur abgrenzt. (ebd.)

Jugendsubkulturen zeichnen sich demnach durch Ablehnung und Widerstand, der sich gegen die dominierende Kultur und stellvertretend gegen die Erwachsenenwelt richtet, aus (vgl. ebd., S.155f). Weitere Charakteristika sind Gemeinschaftlichkeit und Solidarität in der Gruppe. Jugend(sub)kultur entsteht aus dem gemeinsamen Erleben und der gemeinsamen „Opposition des Informellen gegen das Formelle“ (z.B. Schule) und der „Opposition … als Rückzug ins Informelle“ (Willis, 1979, Original 1977, S.42) selbst, d.h. in die flexiblere Gruppe der Gleichaltrigen (vgl. ebd.). Clarke u.a. (1981) versuchen, den „Kultur-aspekt“ in den Jugend(sub)kulturen zu verdeutlichen:

„Mit dem Wort ’Kultur’ meinen wir jene Ebene, auf der gesellschaftliche Gruppen selbständige Lebensformen entwickeln und ihren sozialen und materiellen Lebenserfahrungen Ausdrucksform verleihen. Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und materiellen Existenz bearbeiten.“ (ebd., S.40)

Sie „ist die Art, wie die sozialen Beziehungen einer Gruppe strukturiert und geformt sind; aber sie ist auch die Art, wie diese Formen erfahren, verstanden und interpretiert werden“ (ebd., S.41). Gruppen, die gemeinsam in einer Gesellschaft leben, teilen sich zwar oft einen gemeinsamen, sich überschneidenden kulturellen „Verstehenshintergrund“, sie stehen aber dennoch (analog zu sozialer Schichtung) in einem kulturellen Hierarchie-Verhältnis zueinander (vgl. ebd., S.42). Die dominierende Kultur liefert so die Maßgaben für erwünschten kulturellen Ausdruck.

Dies bedeutet nach Clarke u.a. (1981) jedoch nicht, dass untergeordnete Gruppen ihrer kulturellen Ausdrucksformen beraubt werden, „daß es nur ein System von Ideen oder kulturellen Formen in einer Gesellschaft gibt“ (ebd., S.43). Die Gesellschaft ist vielmehr in vielfältige Gruppen unterteilt, welche ihre eigene (Sub-) Kultur mehr oder weniger offen entlang (und in) der dominierenden Kultur leben. Dies führt Clarke u.a. (1981) zu der These, dass „Subkultur, auch wenn sie sich auf bedeutsame Weise … von der Kultur unterscheidet, von der sie abstammt, doch auch gewisse Dinge mit ihr gemeinsam haben wird“ (ebd., S.45). Clarke u.a.. (1981) stellen dementsprechend eine hierarchisierte Unterteilung in „Stammkultur“ (ebd.) und Subkulturen fest, welche aber dennoch in einem wechselseitigen Verhältnis zu einander stehen.

Verbindet man die Interpretationsfunktion der Kultur mit der oben genannten These, so kommt man zu einem wichtigen Bestandteil von Jugend(sub)kultur: der Stilschaffung über Kleidung, Frisuren, Musik, modische Accessoires etc.. Diese geschieht durch (selektive) Entnahme und Transformation (hierzu näher: Clarke, 1981, S.136ff), von Elementen bzw. „kulturellen Gebrauchsgütern“ (vgl. Willis, 1981, Original London, 1978, S.20) der Gesellschaft. Diese Umnutzung und Aneignung wird hier als Protest, „als gelebte und konkretisierte Kritik an der Gesellschaft“ verstanden (ebd.). Der Reiz besteht somit darin, der Gesellschaft eben jene industriekulturellen Elemente (s. „Plastikersatz“ (ebd., S.22)) zu entlehnen, umzuformen und zur Schau zu stellen, die die Widersprüche in ihr am deutlichsten hervorzuheben helfen. Also solche Elemente, die ihre Herkunft und ursprüngliche Funktion zwar noch erkennen lassen, aber gleichzeitig auch als eindeutige Markierungen eines „Anders-Seins“ umfunktioniert werden. Das „Profane“ (vgl. ebd., S.17) wird kreativ umgenutzt, um sich „eine eigene kraftvolle Kultur aufbauen zu können“ (ebd.). Die erschaffenen Stile drücken demnach einerseits den reaktiven Umgang mit (alltäglichen) Möglichkeiten und Beschränkungen der sozialen und räumlich-materiellen Umwelt aus, in der sie entstanden. Andererseits zeigen sie ein kreatives „Beteiligt-Sein“ (vgl. ebd., S.19) an der Gesellschaft.

Ironie, Kreativität und Protest - dies ist die eine Seite. Die andere wird durch die bewusste Abgrenzung und auch Delinquenz (Gewalttätigkeit, Drogenmissbrauch etc.) Jugendlicher gesetzt. So äußert sich Verhalten in Jugend(sub)kulturen höchst unterschiedlich: als schöpferische Leistung und Gesellschaftskritik, aber auch als Abgrenzungs- und Fluchtverhalten. Einmal gegenüber der Gesellschaft (bzw. der Erwachsenenwelt), und auch gegenüber anderen Jugend(sub)kulturen. Thiele & Taylor (1998) formulieren es so:

„Je nach Bildungsgrad, sozialem Status der Herkunftsfamilie, Milieu sowie ethnischer Zugehörigkeit kommt jugendkulturelles Handeln in Formen des Protests bzw. als Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls von Schnelligkeit, Plötzlichkeit und Intensität zur öffentlichen Präsentation.“ (ebd., S.51)

Diese Einteilung erscheint m.E. etwas verflacht. Dennoch weist sie in eine richtige Richtung. Jugend(sub)kulturen sind in ihren Motiven und Orientierungen, in ihren Ausdrucksformen und Verhaltensweisen sehr verschieden. Vor allem, wenn der teils unterschiedliche (und vermischte) kulturelle Background in den Blick fällt, und gerade auch, weil Jugendsubkulturen immer noch durch die ihnen zugehörigen Mitglieder ausgestaltet werden. Das Individuum „als Mitglied“ muss also differenziert betrachtet werden[7]. Gerade weil es schwer fällt, über „die“ Jugend zu sprechen (weil sie in vielfältige Formen ausdifferenziert ist), so lassen sich auch Jugend(sub)kulturen kaum auf einen Nenner bringen (vgl. Hornstein, 1989, S.121; Thiele & Taylor, 1998, S.50). Zudem: Szenen werden durchlässiger (vgl. Baacke & Ferchhoff, 1993, S.416; Thiele & Taylor, 1998, S.48), eine klare Abgrenzung ist kaum zu leisten.

Ferchhoff (1991, 1993a) versucht, die Gesamtheit jugend(sub)kultureller Ausdrucksformen in fünf Szenen zu kategorisieren: den „religiös-spirituellen“, den „kritisch-engagierten“, den „Körper- und Action-Orientierten“, den „manieristisch-postalternativen“ und den „institutionell-Integrierten“ (vgl. Ferchhoff, 1991, S.108ff)[8]. Ferchhoff (1993a) räumt aber selbst ein, dass diese Einteilung in Szenen allenfalls grobe Zuschreibungen zulässt, „sie sind in sich wiederum mannigfach gebrochen“ (S.166). So gibt es vielfältige Vermischungen und Unschärfen, multiple Mitgliedschaft in mehreren Szenen ist möglich (vgl. ebd.).

Was unterscheidet Jugendkultur denn nun von Jugend sub kultur? Ist Jugendkultur heute noch subkulturell? Der Subkulturbegriff wird oft als zu diffus und anachronistisch (vgl. Baacke & Ferchhoff, 1993, S.403) beklagt. So vermerken Thiele & Taylor (1998), dass „Subkultur [als Begriff] … in der wissenschaftlichen Literatur noch immer nicht exakt bestimmt [ist]“ (S.49). Und: Jugendkultur und Jugendsubkultur würden so häufig synonym verwendet (vgl. ebd.). Weiterhin heißt es, dass der Subkulturbegriff oft dort (und dann) angewendet wurde, wenn es darum galt, negative Zuschreibungen einzubinden (vgl. ebd., S.50). Er „suggeriert immer etwas von der Gesellschaft Unerwünschtes, fast Abstößiges“ (ebd.). Nach Fuchs (1992) wurde in der Vergangenheit der Subkulturbegriff dazu benutzt, um „unter kriminologischen Aspekten Abweichungen von der Norm zu untersuchen“ (S:156).

Demgegenüber steht „Kultur“ als schöpferische Leistung von „Individuuen, Gruppen und Klassen“ (ebd.). Funktion und Inhalt von Jugendkulturen ist somit breit gefächert und ermöglicht dementsprechend sehr ambivalente Betrachtungs-weisen: von Abgrenzungsverhalten und sozialer Auffälligkeit bis zur kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität, als Experimentierfeld und jugendspezifische Bewältigungsform. Jugendkulturen werden demnach laut Thiele & Taylor (1998, S.51) „je nach Standpunkt angesehen als:

- besondere Form abweichenden Verhaltens,
- Widerstands- und Absetzbewegung, jugendliche Selbstausbürgerung,
- freizeitkulturelle Gruppierungen,
- Katalysator gesamtgesellschaftlicher Probleme,
- problemlösendes Angebot an Stellen, da die gesellschaftlichen Vorkehrungen

und Einrichtungen (Schule, Familie etc.) nicht mehr einen hinreichenden Orientierungsbeitrag leisten können.“

Folgt man der von Schwendter (1995) genannten Frage „Gibt es noch Jugendsubkulturen?“, so ließe sich hier zusammenfassen, dass Jugend-subkulturen

[...]


[1] Diese Bedrohung trifft dabei einzelne Bevölkerungsgruppen nach wie vor unterschiedlich stark (vgl. Geißler, 1996, S.192f).

[2] Die Durchnummerierung der einzelnen Punkte entspricht dabei der Original-Auflistung des Autors. Einige der hier nicht aufgeführten Punkte des Originaltexts sind nicht weniger relevant, finden aber teils in ihrem Inhalt in den Punkten 2.1.2 und 2.1.3 dieser Diplomarbeit Betrachtung, und werden deshalb hier nicht noch mal behandelt.

[3] Dieses Konzept der „Selbstsozialisation“ wird von Hurrelmann (2002) als „individualisierungs-theoretische Verzerrung“ (S.120) scharf kritisiert. Das Konzept verkürze den wechselseitigen Bezug Gesellschaft - Individuum in der Sozialisation auf eine individuell-schöpferische Eigenleistung, ohne die Ungleichheiten in der modernen Gesellschaft und den nach wie vor vorhandenen Einfluss der Primär-Sozialisatoren Familie und Schule in der Jugendphase zu beachten (vgl. ebd.).

[4] Krafeld (1992a) bemerkt, dass der Begriff „’Clique’ längst nicht alle selbstorganisierten informellen Gruppierungen umfasst, er u.a. in Richtung auf ’Szene’ vielfach sehr offen ist und nicht zuletzt geschlechtsspezifische Unterschiede unberücksichtigt läßt“ (ebd., S.9). Er selbst versteht „Cliquen … allenfalls [als] Teil von Szenen, in denen sie ihren Alltag leben“ (S.30).

[5] Krafeld (1992a) hält dagegen, indem er angibt, dass heutige Jugendcliquen (und Jugendkulturen) weniger den Charakter der Erprobung und Vorbereitung als vielmehr „(Über-)Lebensarbeit“ (S.37), auch abseits subkultureller Orientierung, beinhalten (vgl. ebd.).

[6] Diese Entwicklung und die Konsequenzen für Jugendliche werden unter späteren Punkten näher erörtert und sollen deshalb hier nicht weiter ausgeführt werden.

[7] Eine Differenzierung wird schon allein durch das Geschlecht gesetzt. Friebertshäuser (1995) verweist daher auf die Funktion geschlechtsrollen-spezifischer Identitätssuche in Jugendkulturen. Da Jugendkulturen überwiegend männlich dominiert sind, zeichnet sich der Inhalt in den meisten Jugendsubkulturen dadurch aus, dass „’männliches’ Verhalten erprobt und erworben“ wird (S.183).

[8] Eine ähnliche Einteilung liefern Becker, Eigenbrodt & May (1984c, S.509ff) für milieuspezifisches Raumaneignungs-Verhalten Jugendlicher (dazu näher: Punkt 3.1.1).

Final del extracto de 136 páginas

Detalles

Título
Jugendliche Clique und ihre Sozialräume - Überlegungen zu einer stadtteilorientierten sozialen Arbeit mit Jugendlichen
Universidad
University of Siegen
Calificación
1,0
Autor
Año
2003
Páginas
136
No. de catálogo
V67390
ISBN (Ebook)
9783638585729
ISBN (Libro)
9783656773122
Tamaño de fichero
917 KB
Idioma
Alemán
Notas
Literaturarbeit zu Thema Stadtteil- und Lebensweltorientierung in der Jugendarbeit im Stadtteil.
Palabras clave
Jugendliche, Clique, Sozialräume, Arbeit, Jugendlichen
Citar trabajo
Dipl.-Sozialarbeiter Andree Kämpfer (Autor), 2003, Jugendliche Clique und ihre Sozialräume - Überlegungen zu einer stadtteilorientierten sozialen Arbeit mit Jugendlichen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67390

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