Selbstverletzung als Krankheit - Erscheinungsbild, Hintergründe und Therapie offener Selbstbeschädigung


Mémoire (de fin d'études), 2005

93 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Formen der Selbstverletzung
2.1 Religiöse und rituelle Selbstverletzung
2.2 Alltägliche Selbstverletzung
2.3 Selbstverletzung als Krankheit

3 Begriffliche Einordnung und Abgrenzung von anderen Begriffen
3.1 Begriffsklärung
3.2 Abgrenzung von artifiziellen Krankheiten
3.3 Abgrenzung von indirekten Selbstverletzungen
3.4 Abgrenzung vom Suizid

4 Epidemiologie

5 Erscheinungsbild und diagnostische Zuordnung
5.1 Art und Schwere der Symptome
5.2 Häufigkeit und Lokalisation der Symptomhandlungen
5.3 Begleiterkrankungen
5.4 Diagnostische Zuordnung

6 Erklärungsmodelle
6.1 Biologische Erklärungsmodelle
6.2 Lerntheoretische Erklärungsmodelle
6.3 Psychoanalytisch-psychodynamische Erklärungsmodelle

7 Funktionen der Selbstverletzung
7.1 Allgemeine Aspekte
7.2 Intrapersonelle Funktionen
7.3 Interpersonelle Funktionen

8 Therapie und Selbsthilfe
8.1 Medikamentöse Therapie
8.2 Traumatherapie
8.3 Dialektisch-Behaviorale Therapie
8.4 Sonstige Therapieformen
8.5 Selbsthilfemöglichkeiten

9 Zum Umgang mit Selbstverletzung
9.1 Im privaten Umfeld
9.2 Auf der Station

10 Schlußbemerkung

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Wenn kein Mensch zu Hause ist, schneidet sie sich absichtlich in ihr eigenes Fleisch. (...) Kaum verhallt die Türklinke, wird schon die väterliche Allzweck-Klinge, ihr kleiner Talisman, hervorgeholt. (...) Diese Klinge ist für IHR Fleisch bestimmt. (...) Erfahrung hat sie mittlerweile darin, daß so ein Schnitt mittels Klinge nicht schmerzt, denn ihre Arme, Hände, Beine mußten oft als Versuchsobjekte herhalten. Ihr Hobby ist das Schneiden am eigenen Körper“ (Jelinek 1991, S. 88).

Das obige Zitat stammt aus Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“. Die Autorin beschreibt darin eindrucksvoll ein Phänomen, das sich seit einiger Zeit in unserer Gesellschaft immer häufiger beobachten läßt und inzwischen ein geradezu erschreckendes Ausmaß erreicht hat. Denn während selbstverletzendes Verhalten (SVV) in der psychiatrischen Praxis bis weit in die 80er Jahre hinein eine eher untergeordnete Rolle spielte, ist seit einigen Jahren ein stetiger Anstieg von Fällen zu verzeichnen, bei denen SVV als Leitsymptomatik diagnostiziert werden muß. Experten gelangen angesichts der hohen Fallzahlen sogar zu der Einschätzung, daß dem selbstverletzenden Verhalten mittlerweile ein ähnlich hoher Stellenwert beizumessen ist, wie seinerzeit den Eßstörungen. So konstatiert bspw. Sachsse, daß „seit Beginn der 90er Jahre (..) SVV eine ähnliche Bedeutung zu[kommt], wie es die Anorexie für die 70er und die Bulimie für die 80er Jahre hatte“ (Sachsse 2002, S. 8). Studienergebnissen zufolge kommt es derzeit schon bei rund 1 % der Allgemeinbevölkerung mehr oder minder regelmäßig zu selbstverletzenden Verhaltensweisen (vgl. Resch 2001, S. A2268), wobei insgesamt von einer steigenden Tendenz ausgegangen werden muß. Bei den Betroffenen handelt es sich besonders häufig um Jugendliche oder junge Erwachsene weiblichen Geschlechts. Ein Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht und der Auftrittswahrscheinlichkeit von selbstverletzendem Verhalten konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Selbstverletzung kommt – um es salopp zu formulieren – in den besten Familien vor. Das wohl bekannteste Beispiel dürfte Lady Diana sein, die kurz vor ihrem Tod in einem Fernsehinterview berichtete, sich absichtlich mit Glasscherben, Rasierklingen und einem Zitronenhobel verletzt zu haben (vgl. Haegele 2001, S. 61).

Mit Blick auf die rasante Verbreitung der Symptomatik bleibt insgesamt festzuhalten, daß im Zusammenhang mit SVV längst nicht mehr von einer gesellschaftlichen Randerscheinung gesprochen werden kann. Vielmehr hat das Phänomen der Selbstverletzung inzwischen eine neue Dimension erreicht und ist zu einem weit verbreiteten Problem geworden, mit dem die Angehörigen der Sozial- und Gesundheitsberufe in ihrem Arbeitsalltag immer häufiger konfrontiert werden. Ein steigendes Interesse an der Problematik ist jedoch nicht nur innerhalb der Fachwelt, sondern auch in der allgemeinen Bevölkerung auszumachen. Diese Entwicklung läßt sich sicherlich nicht zuletzt darauf zurückführen, daß sich die (Massen-)Medien seit einiger Zeit – etwa in Form von Fernsehbeiträgen und Zeitungsartikeln – verstärkt diesem Thema widmen und selbstverletzendes Verhalten infolgedessen zunehmend in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Vielfach fällt allerdings die Auseinandersetzung damit sowohl Professionellen als auch Laien relativ schwer. Die typischen Reaktionen reichen dabei von Entsetzen über Hilflosigkeit bis hin zu völligem Unverständnis. Trotz der steigenden Medienpräsenz und Popularität der Problematik muß man daher klar sagen, daß die Konfrontation mit dem Phänomen der Selbstverletzung vielfach ein Schockerlebnis darstellt. Warum jemand seinem eigenen Körper freiwillig und gezielt Schnittwunden, Verbrennungen oder ähnliche Verletzungen zufügt, erscheint für Außenstehende kaum nachvollziehbar.

Eines der wesentlichen Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht darin, über die Problematik des selbstverletzenden Verhaltens zu informieren und das Verständnis für die Betroffenen zu fördern. Neben einer allgemeinen Einführung in dieses komplexe Themengebiet bilden daher die Beschreibung des Erscheinungsbildes und insbesondere die Auseinandersetzung mit den Hintergründen und möglichen Ursachen der Selbstverletzung wichtige Bestandteile der Arbeit. Mit Blick auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Verhaltens sollen darüber hinaus die wesentlichen Funktionen herausgearbeitet werden, die das selbstverletzende Verhalten für die Betroffenen erfüllt. Ein weiterer Schwerpunkt wird zudem auf der Darstellung der verschiedenen Therapie- und Selbsthilfemöglichkeiten liegen, die derzeit für SVV-Patienten zur Verfügung stehen. Denn hinter der in dieser Arbeit beschriebenen Form der Selbstverletzung, die in der eingangs zitierten Textpassage ironisch als „Hobby“ bezeichnet wird, verbirgt sich – dies wird im weiteren Verlauf deutlich werden - in Wirklichkeit eine ernstzunehmende Krankheit, die behandelt werden muß und einen verständnisvollen Umgang mit den betroffenen Patienten erfordert.

Im Anschluß an das vorliegende Einleitungskapitel werden zunächst einige grundlegende Informationen zum Thema „selbstverletzendes Verhalten“ gegeben. Zu diesem Zweck werden im zweiten Kapitel verschiedene Formen der Selbstverletzung dargestellt, wobei einerseits die fließenden Übergänge zwischen akzeptierter und krankhafter Selbstbeschädigung verdeutlicht und andererseits einige Besonderheiten der pathologischen Selbstverletzung aufgezeigt werden.

In Kapitel drei wird das Phänomen der krankhaften Selbstverletzung begrifflich näher bestimmt und eingeordnet. Zudem erfolgt eine Abgrenzung zu anderen pathologischen Varianten selbstverletzenden Verhaltens.

Das vierte Kapitel liefert einen Überblick über relevante epidemiologische Daten zur Problematik der Selbstverletzung.

Auf das Erscheinungsbild des selbstverletzenden Verhaltens wird im fünften Kapitel eingegangen. Neben der Art und Schwere der Symptome wird in diesem Zusammenhang die Häufigkeit und Lokalisation der Verletzungen beschrieben. Des weiteren werden einige typische Begleiterkrankungen aufgeführt und der Aspekt der diagnostischen Zuordnung behandelt.

Das sechste Kapitel befaßt sich mit den verschiedenen Modellen, die zur Erklärung selbstverletzenden Verhaltens herangezogen werden können. Dabei werden biologische, lerntheoretische und psychoanalytisch-psychodynamische Ansätze vorgestellt und diskutiert.

Die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Bedeutung das selbstverletzende Verhalten für die betroffenen Patienten haben kann, erfolgt in Kapitel sieben. Hier werden die verschiedenen intrapersonellen und interpersonellen Funktionen des Verhaltens erläutert.

Das achte Kapitel liefert einen Überblick über relevante therapeutische Verfahren und stellt verschiedene Möglichkeiten zur Selbsthilfe bei selbstverletzendem Verhalten vor.

Im neunten Kapitel soll abschließend der Frage nachgegangen werden, wie sich Angehörige, Freunde und professionelle Helfer gegenüber den betroffenen Patienten verhalten sollten, um sie bei der Überwindung des selbstverletzenden Verhaltens möglichst gut zu unterstützen. In diesem Zusammenhang werden einige Hinweise zum angemessenen Umgang mit den Betroffenen und ihrer Erkrankung gegeben.

2 Formen der Selbstverletzung

Wie in der Einleitung bereits angedeutet, bereitet die Auseinandersetzung mit krankhafter Selbstverletzung zum Teil erhebliche Schwierigkeiten. Gerade Angehörige des westlichen Kulturkreises streben derzeit mehr denn je nach Wellness und makelloser Schönheit. Selbstverletzendes Verhalten scheint diesen geltenden Wertvorstellungen vollkommen zuwider zu laufen und ist vor diesem Hintergrund nur schwer zu verstehen. Allerdings ist das absichtliche Verletzen des eigenen Körpers keineswegs ausschließlich eine Erscheinung der modernen westlichen Welt, sondern blickt auf eine lange Tradition zurück. Auch in unserer heutigen Gesellschaft gibt es zudem eine ganze Reihe von selbstverletzenden Handlungen, die – trotz teilweise massiver Risiken - allgemein akzeptiert und täglich praktiziert werden. Das Verständnis der pathologischen Ausprägungen von SVV fällt sicherlich ein Stück leichter, wenn man sich dies bewußt macht. In einer ersten Annäherung an die Thematik sollen daher im Folgenden zunächst anhand einiger Beispiele verschiedene Formen der Selbstverletzung vorgestellt werden, die kulturell gebilligt oder gar erwünscht sind. In Abgrenzung davon sollen anschließend die Besonderheiten der krankhaften Selbstverletzung beschrieben werden.

2.1 Religiöse und rituelle Selbstverletzung

Betrachtet man die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, so wird deutlich, daß selbstverletzende Handlungen in den verschiedensten Kulturen seit jeher immer wieder aufgetreten sind und z.T. auch heute noch auftreten. Häufig werden Selbstverletzungen im Rahmen von Ritualen und Religionen vorgenommen.

Als Rettung vor dem völligen Verderben wird selbstverletzendes Verhalten z.B. schon in der Bibel thematisiert. So heißt es im Neuen Testament:

„Wenn dich aber deine Hand zum Abfall verführt, so haue sie ab! Es ist besser für dich, daß du verkrüppelt zum Leben eingehst, als daß du zwei Hände hast und fährst in die Hölle, in das Feuer, das nie verlöscht“ (Markus 9, 43).

Religiös motivierte Verletzungen des eigenen Körpers sind häufig als Akt der Buße zu verstehen, durch den die Seele von Schuld befreit und/oder gewissermaßen eine höhere Daseinsform erreicht werden soll. So waren selbstverletzende Praktiken bspw. ein wichtiger Bestandteil der Flagellanten-Bewegung, einer religiösen Laienbewegung, die im 12. Jahrhundert in Mittelitalien entstand. Ihre Anhänger – auch unter dem Begriff „Geißler“ bekannt - peitschten sich selbst bis aufs Blut, um Buße zu tun. Als Instrument der Selbstverletzung dienten ihnen dabei Stöcke, an denen Lederriemen angebracht waren. An den großen Knoten, in denen die Riemen endeten, waren eiserne Dorne befestigt, die beim Peitschen des eigenen Rückens tiefe blutige Striemen hinterließen. Ihren Höhepunkt fand die Bewegung während der ersten Pestwelle in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts, zumal die Menschen ihr Schicksal als Strafe Gottes für ihr sündhaftes Leben begriffen und sich mittels der Selbstgeißelung von ihrer Schuld befreien zu können glaubten.

Im Zusammenhang mit religiösen Formen der Selbstbeschädigung sind darüber hinaus das Märtyrertum, die Fakire und die heiligen Asketen oder Hungerkünstler als weitere Beispiele zu nennen. Gerade Askese und Fasten gehören noch heute zu den gängigen Praktiken vieler religiöser Gruppierungen. Zu denken ist hier bspw. an den Ramadan im Islam. Gläubige Muslime leben während des heiligen Fastenmonats zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang streng enthaltsam und verzichten auf Essen und Trinken. Dabei soll durch das konsequente Fasten eine innere Läuterung stattfinden.

Ursprünglich zelebriert, um durch die Kraft und Gunst der Götter eine Malaria-Epidemie zu besiegen, wird auch das sog. „Vegetarian-Festival“, das jedes Jahr auf der Insel Phuket (Thailand) stattfindet, inzwischen gefeiert, um eine innere Reinigung zu erfahren und darüber hinaus durch die Kraft der Götter gestärkt zu werden. Neben verschiedenen anderen Ritualen und Prozessionen sind selbstverletzende Handlungen fester Bestandteil dieses neuntägigen Festes. So durchbohren sich die Gläubigen etwa die Wangen mit Eisenstangen und Ketten, stechen sich Haken durch die Haut, an denen Glocken und Gewichte befestigt sind und erklettern Leitern, deren Sprossen aus Schwertern und Messerklingen bestehen. Auch das Laufen über einen mehrere Zentimeter hohen Teppich aus glühenden Kohlen gehört zum Ritus des Festivals. Während die Gläubigen sich derartigen Torturen aussetzen, befinden sie sich in Trance, so daß sie keinerlei Schmerzen spüren und zudem kaum Blut aus ihren Wunden fließt.

Insgesamt ist festzustellen, daß es in fast allen Religionen spirituelle Bräuche gab, bzw. noch immer gibt, die mit Selbstverletzungen verbunden sind. Es läßt sich somit sagen, daß Angehörige der verschiedensten Glaubensrichtungen von selbstbeschädigenden Praktiken Gebrauch machen. Allerdings bilden schwere Selbstverletzungen aus religiösen Motiven heraus, wie sie etwa im zuletzt erwähnten Beispiel vorgenommen werden, heutzutage eher die Ausnahme. In der Regel bedienen sich die Gläubigen relativ moderater Formen der Selbstbeschädigung – wenn man einmal von der zweifelsohne steigenden Zahl der Fälle absieht, in denen fanatische Glaubensanhänger im Dienste der Religion per Selbstmordattentat ihr eigenes Leben auslöschen und dabei meist zahlreiche Unbeteiligte mit in den Tod reißen.

Neben religiösen Beweggründen haben selbstverletzende Verhaltensweisen häufig auch rituelle Hintergründe. Vorab ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß es sich dabei nicht immer um wirklich selbstzugefügte Wunden handelt. Bei verschiedenen Ritualen werden die entsprechenden Handlungen von Dritten ausgeführt. Die Beschädigungen werden jedoch mit der – wenn auch ggf. erzwungenen – Zustimmung des Betroffenen vorgenommen und können daher letztlich ebenfalls als Selbst beschädigungen verstanden werden.

Diese oft in tranceartigen Zuständen gemeinschaftlich durchgeführten Rituale dienen u.a. dazu, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu markieren. Des weiteren weisen sie mitunter auf einen bestimmten sozialen Status hin oder stehen im Zusammenhang mit der Kontrolle bzw. Unterdrückung von Sexualität (vgl. Herpertz/Saß 1994, S. 296). Letzteres ist etwa bei der rituellen Beschneidung der weiblichen Genitalien der Fall, die in Asien und dem Nahen Osten heute noch vereinzelt vorkommt und besonders in Nord- und Zentralafrika noch immer weit verbreitet ist. Die Genitalverstümmelung ist zudem als Initiationsritus zu verstehen. Sie soll das Mädchen zur Frau machen und markiert somit den Eintritt in das Erwachsenenalter.

Ebenfalls im afrikanischen Raum wird die sog. „Skarifikation“ praktiziert, die im wesentlichen darin besteht, dem Körper gezielte Verletzungen und Wunden zuzufügen, die starke Narben hinterlassen. Damit wird einerseits einem in manchen Stämmen geltenden Schönheitsideal entsprochen; darüber hinaus sollen die Narben aber auch Schutz vor bestimmten Krankheiten bieten und – bei Frauen – als Hinweis auf die Abstammung dienen (vgl. Sachsse 2000, S. 350). Des weiteren stellen die Narben ein sichtbares Zeichen für männlichen Mut dar. Ein Krieger, dessen Brust viele Vernarbungen aufweist, gilt bei einigen Naturvölkern als besonders mutig und genießt ein besonders hohes Ansehen unter seinen Stammesgenossen.

Als letztes Beispiel für selbstverletzendes Verhalten mit rituellem Hintergrund sei an dieser Stelle noch der sog. „Sonnentanz“ der Prärieindianer in Nordamerika erwähnt. Bei diesem rituellen Tanz „werden Holzstäbe in die Muskulatur eingeführt, an denen Lederriemen mit Büffelschädeln befestigt werden“ (Schmeißer 2000, S. 14). Der Tanzende muß versuchen, die Schädel abzuwerfen und die damit einhergehenden Schmerzen zu überwinden. Das Ziel des Rituals besteht für den Tänzer in einer Vision von seinem Leben in der Zukunft (vgl. Schmeißer 2000, S. 14). Da der Glaube an verschiedene Geister bei den indianischen Stämmen eine besonders große Bedeutung hat, dient der Sonnentanz jedoch gleichermaßen dazu, die Geister gnädig zu stimmen und sie um den Segen für die bevorstehende Jagd zu bitten.

Religiöse und rituelle Selbstverletzungen haben – so kann man zusammenfassend feststellen – in den meisten Kulturen eine lange Tradition und werden z.T. auch heute noch praktiziert. Die entsprechenden Handlungen sind dabei in der Regel nicht im Sinne krankhafter Verhaltensweisen zu verstehen. Dementsprechend ist Sachsse zuzustimmen, der zu folgender Einschätzung gelangt:

„Selbstbeschädigungen des eigenen Körpers sind in verschiedenen Kulturen als Ausdruck der Trauer, als Mutprobe, als Initiationsritus, als Ausdruck von Ekstase bei religiösen Zeremonien, als Selbstopfer oder Selbstweihe anzutreffen und dürfen keinesfalls generell pathologisiert werden“ (Sachsse 2000, S. 349).

Auch in unserem Kulturkreis werden –wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird– tagtäglich selbstverletzende Praktiken angewendet, denen nicht unbedingt Krankheitswert zugeschrieben werden kann.

2.2 Alltägliche Selbstverletzung

Als mehr oder minder allgemein akzeptiert und damit alltäglich können in unserer Gesellschaft insbesondere solche Selbstbeschädigungen angesehen werden, die mit der Verschönerung des äußeren Erscheinungsbildes in Zusammenhang stehen. Denn wenn man sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Schönheitsideale im westlichen Kulturkreis gelten, wird schnell deutlich, daß verletzende oder zumindest schädigende Manipulationen des eigenen Körpers damit fast untrennbar verbunden sind. Zu denken ist hier z.B. an das Stechen von Ohrringlöchern, das wohl fast alle Frauen und auch immer mehr Männer im Laufe ihres Lebens bereitwillig über sich ergehen lassen.

Besonders unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gelten darüber hinaus zunehmend auch andere Formen des Körperschmucks als schön und erstrebenswert und rücken damit gerade für diese Altersgruppe in den Bereich des Alltäglichen. In diesem Zusammenhang sind das Tätowieren und das Piercen als besonders weit verbreitete Techniken der Körpermanipulation zu nennen. Daneben ist allerdings in letzter Zeit ein allgemeiner Trend zu immer extremeren Variationen zu erkennen, für die teilweise schwerwiegende Eingriffe durchgeführt werden müssen. Die entsprechenden Praktiken haben ihren Ursprung größtenteils in den USA und gewinnen auch in Europa zunehmend an Bedeutung.

Ein Beispiel hierfür ist etwa das sog. „Cutting“, bei dem mit Hilfe eines Skalpells kunstvolle Muster in die Haut geschnitten werden, die später in Form von Narben dauerhaft sichtbar bleiben sollen. Damit dies gelingt, muß die Abheilung der Schnittwunden konsequent unterbunden werden, indem über mehrere Wochen hinweg der sich bildende Schorf entfernt wird.

Auch das sog. „Branding“ wird mitunter zur Verzierung des Körpers angewendet. Hierzu werden Metallstreifen auf ca. 1200° C erhitzt und in einem bestimmten Muster für kurze Zeit auf die Haut gedrückt. Durch diese schmerzhafte Prozedur wird die oberste Hautschicht verbrannt, so daß wiederum bleibende Vernarbungen entstehen.

Demgegenüber wird beim sog. „Implanting“ – einer besonders extremen Form des Körperschmucks – die Haut eingeschnitten und auf diese Weise subkutan eine Tasche geschaffen, in die Piercingringe etc. implantiert werden können. Die Konturen der Schmuckstücke, die mit dem Gewebe verwachsen, zeichnen sich schließlich durch die Haut ab.

Ein chirurgischer Eingriff ist auch für das sog. „Tongue Splitting“ (Zungenspaltung) nötig. Hierbei wird der vordere Teil der Zunge längsseitig einige Zentimeter tief eingeschnitten, so daß – vergleichbar mit einer Schlangenzunge – zwei Enden entstehen. Nach der Abheilung der Wunde können die beiden Spitzen unabhängig voneinander bewegt werden.

Wie oben angedeutet sind Manipulationen dieser Art zum einen durch den Wunsch nach Verschönerung motiviert. Zum anderen fungieren diese teilweise gravierenden Veränderungen des eigenen Körpers, für die sich der englische Begriff „Body-Modification“ etabliert hat, häufig auch als Provokation. Sie signalisieren Abgrenzung von der Masse, Protest gegen die Gesellschaft oder Exklusivität. Derart massive Eingriffe stellen heutzutage – auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag – durchaus keine Ausnahme mehr dar. Experten schätzen sie vielmehr als Charakteristikum einer neuen Jugendkultur ein. Dementsprechend beschäftigte das Thema auch die Teilnehmer der 78. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Frankfurt am Main (vgl. Siegmund-Schultze 1999, S. 28). Dies verwundert nicht, zumal die Mediziner in ihrem Arbeitsalltag vermehrt mit diesen neuen Formen des Körperschmucks konfrontiert werden, den sie dann zuverlässig als solchen erkennen können müssen. Denn „wenn Rechtsmediziner zum Beispiel bei einer Obduktion auf Narben von herausgeschnittenen Hautlappen stoßen, stellt sich natürlich die Frage, ob die Verletzungen von Fremden stammen oder vom Untersuchten selbst“ (Benecke, zit. nach Siegmund-Schultze 1999, S. 28).

Es liegt auf der Hand, daß derartige Eingriffe nicht frei von Risiken sind und mit teilweise erheblichen Gefährdungen für die Gesundheit einhergehen. Die Bandbreite möglicher Komplikationen reicht – je nach Art der Körperveränderung - von Wundinfektionen, (unerwünschten) wulstartigen Wucherungen am vernarbten Gewebe und Knorpelnekrosen, über irreversible Lähmungen, die durch unbeabsichtigte Verletzungen bzw. Durchtrennungen von Nerven verursacht werden, bis hin zur Infektion mit lebensbedrohlichen Erregern wie etwa Hepatitis oder HIV. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2000 erbrachte bspw. das Ergebnis, daß tätowierte Menschen ein signifikant erhöhtes Risiko haben, an einer chronischen Hepatitis zu erkranken (vgl. Meyer 2001, S. A 819f). Piercings im Genitalbereich führen zudem nicht selten zu komplizierten Infektionen der Harnwege und/oder Nieren. Weit verbreitet sind auch schwere Kontaktallergien, die durch eine Unverträglichkeit gegenüber dem Material des Piercings bzw. den Inhaltsstoffen der Tätowierfarben ausgelöst werden. Darüber hinaus besteht bei einigen Farbstoffen, die zur Anbringung von Tatoos verwendet werden, der Verdacht einer krebserregenden Wirkung.

Mit Blick auf die weite Verbreitung, die gerade Tätowierungen und Piercings mittlerweile gefunden haben, läßt sich zweifelsfrei erkennen, daß die genannten Risiken im Dienste der Schönheit offensichtlich billigend in Kauf genommen werden. Darüber hinaus läßt sich allgemein feststellen, daß die durch die Massenmedien verbreiteten und meist völlig überhöhten Idealvorstellungen vom perfekten Körper inzwischen einen wahren Schönheitswahn ausgelöst haben. Dieser hat zur Folge, daß die Grenzen der gesellschaftlich akzeptierten oder gar erwünschten Selbstbeschädigung zunehmend aufgeweicht werden. So gelten neben dem Auszupfen unerwünschter Körperbehaarung, dem (teilweise exzessiven) Bräunen der Haut und der Durchführung von extremen Diäten mittlerweile eben zunehmend auch solch fragwürdige Praktiken wie die oben beschriebenen Formen des Körperschmucks oder gar riskante Schönheitsoperationen als legitime Mittel der Veränderung.

Über die Selbstverletzungen hinaus, die zum Erreichen eines Schönheitsideals vorgenommen werden, existiert in unserem Kulturkreis eine Reihe weiterer Schädigungen, die gesellschaftlich akzeptiert oder zumindest toleriert und somit allgemein nicht als krankhaft eingestuft werden. Hier wäre etwa an Zigarettenkonsum, regelmäßig erhöhten Alkoholgenuß, riskante Sportarten (vgl. Smith/Cox/Saradjian 2001, S. 15) und über- mäßiges Essen zu denken. Alltägliche Formen der Selbstverletzung kommen auch häufig im Zusammenhang mit Gefühlen wie Wut, Verzweiflung oder Trauer vor. Man schlägt dann z.B. schmerzhaft mit der Faust auf den Tisch oder tritt gegen die Wand. Ganz allgemein kann man auch gewohnheitsmäßiges Nägelkauen und das Aufkratzen von Wunden als Selbstverletzung ansehen.

Abschließend soll an dieser Stelle noch auf ein weiteres Phänomen hingewiesen werden, das sich in unserer Gesellschaft seit einiger Zeit wachsender „Beliebtheit“ erfreut und besonders spektakulär ist. Dies sind die Fälle von Selbstverletzungen, die zum Zweck des Versicherungsbetrugs vorgenommen werden. Dabei wird teilweise nicht einmal vor der Amputation von Körperteilen zurückgeschreckt, um hohe Summen von der Versicherung ausbezahlt zu bekommen. Diese Variante des Betrugs tritt gegenwärtig auffallend häufig bei Akademikern und gut situierten Bürgern auf, während es in der Vergangenheit „meist Arbeitslose, hochverschuldete Landwirte oder Handwerker [waren], die auf schmerzhafte Weise versuchten, an das Geld aus ihren Policen zu kommen“ (Combach 2003, S. [58]). Insbesondere unter Ärzten ist die Zahl derjenigen hoch, die sich aus finanziellen Erwägungen heraus selbst verstümmeln. Ein Grund dafür mag in der Tatsache liegen, daß für Zahnärzte und Ärzte höhere Tarifsätze gelten (vgl. Combach 2003, S. [58]) und sich die Taten mithin besonders lohnen.

Versucht man, aus den vorangegangenen Abschnitten ein Resümee zu ziehen, so bleibt zunächst festzuhalten, daß die Gleichsetzung der Begriffe „Selbstverletzung“ und „Krankheit“ eine unzureichende Verkürzung darstellen würde. Vielmehr sind selbstverletzende Verhaltensweisen in der Geschichte der Menschheit im allgemeinen und in unserer Gesellschaft im besonderen tief verankert. Sie stellen einen festen Bestandteil im alltäglichen Leben dar und sind daher keinesfalls von vorne herein als krankhaftes Verhalten zu verstehen. Auf der anderen Seite läßt jedoch sich nicht verleugnen, daß einige der oben erwähnten Beispiele in dieser Hinsicht mehr als grenzwertig anmuten. Daher ist insgesamt festzustellen, daß sich eine klare Trennlinie zwischen den pathologischen Selbstverletzungen auf der einen und den vielfältigen Formen des SVV, die durch Religionen und Rituale in die jeweilige Kultur eingebettet und/oder im gesellschaftlichen Alltag akzeptiert, bzw. zumindest toleriert werden auf der anderen Seite vielfach nicht eindeutig ziehen läßt. Mitunter gehen diese verschiedenen Ausprägungen selbstverletzenden Verhaltens fließend ineinander über. Diesen Gedanken weiter verfolgend, ließe sich die krankhafte Selbstverletzung mithin grundsätzlich auch als übersteigerte Form normkonformen Verhaltens verstehen. Welchen Verhaltensweisen Krankheitswert zuzuschreiben ist und welchen nicht, hängt dabei auch stets mit dem jeweiligen kulturellen Hintergrund und der geltenden gesellschaftlichen Ordnung zusammen. Wenn man sich diese Tatsachen vor Augen führt, verlieren auch die heute so verbreiteten krankhaften Selbstverletzungshandlungen – auf die im Folgenden näher eingegangen wird – wenigstens ein Stück weit ihre Befremdlichkeit.

2.3 Selbstverletzung als Krankheit

In Abgrenzung zu den anderen Formen des SVV lassen sich für die Selbstverletzung im Sinne einer Krankheit m.E. trotz der oben erwähnten möglichen Überschneidungen einige charakteristische Aspekte herausarbeiten.

So besteht ein wesentliches Merkmal der pathologischen Variante des SVV darin, daß es oft impulsiv vollzogen wird und meist im privaten Raum – gewissermaßen außerhalb der sozialen Gemeinschaft – stattfindet. Demgegenüber haben religiöse, rituelle und all-tägliche Selbstverletzungen ihren Bezugspunkt in der Gesellschaft, zumal sie „in die Tradition eines Volkes eingebettet [sind] und (..) eine spezifische Bedeutung in der Geschichte und den Glaubensvorstellungen einer sozialen Gruppe [haben]. Die verletzenden Handlungen zielen zwar auf ein Individuum, doch da sie in das Netz des sozialen Lebens verwoben sind, ist die ganze Gemeinschaft mitbeteiligt und mitbetroffen“ (Hänsli 1996, S. 56).

Dementsprechend lassen sich auch die Beweggründe, die jeweils zu selbstverletzendem Verhalten führen, deutlich voneinander abgrenzen. Denn während krankhaftem SVV innerseelische Konflikte zugrunde liegen, fußen akzeptierte Formen der Selbstbeschädigung letztlich in Wertvorstellungen und Normen, die von außen an das Individuum herangetragen werden.

Des weiteren läßt sich in Hinblick auf die meisten akzeptierten Selbstbeschädigungen feststellen, daß es bei der Durchführung der entsprechenden Handlungen keineswegs um die Verletzung an sich geht. So ist z.B. mit dem Piercen nicht die Intention verbunden, seinen Körper mit einer Nadel zu durchbohren und sich Schmerzen zuzufügen. Vielmehr ist diese Prozedur nur ein unvermeidbarer Schritt auf dem Weg zum eigentlichen Ziel – dem besseren Aussehen im Sinne des geltenden Schönheitsideals. Der schädigende Aspekt steht somit nicht im Vordergrund, sondern wird lediglich in Kauf genommen. Dem gewünschten Effekt zuliebe werden Risiken eingegangen, die – wie erwähnt – teilweise gravierend sind. Typischerweise wird die Selbstverletzung jedoch in diesen Fällen von der optimistischen Überzeugung begleitet, „daß schon alles gutgehen wird“. Viele gesellschaftlich akzeptierte Formen der Selbstverletzung sind zudem dadurch gekennzeichnet, daß die schädigende Wirkung nicht unmittelbar eintritt und sich die jeweiligen Risiken somit über längere Zeit hinweg erfolgreich verdrängen lassen. So machen sich bspw. die Folgen des Rauchens bekanntermaßen erst nach einigen Jahren bemerkbar. Die Gründe für das Rauchen mögen sehr vielfältig sein – aber man kann sicherlich davon ausgehen, daß niemand raucht, um „endlich“ eine der bekannten Folgeerkrankungen zu bekommen. Demgegenüber ist bei der pathologischen Form des SVV die Schädigung des eigenen Körpers charakteristischerweise tatsächlich beabsichtigt. Die entsprechenden Handlungen werden von den betroffenen Personen zielgerichtet mit der vordergründigen Absicht durchgeführt, eine Verletzung bzw. Schädigung herbeizuführen. Dabei gilt für den Großteil der krankhaften Selbstverletzungen eine weitere Besonderheit: sie sind i.d.R. so angelegt, daß sich sofort ein sichtbares bzw. spürbares Ergebnis einstellt.

Abschließend sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die oben dargestellten Merkmale des pathologischen SVV in Abgrenzung zu religiösen, rituellen und alltäglichen Formen der Selbstbeschädigung insgesamt eher als grobe Anhaltspunkte aufzufassen sind. Sie lassen sich keinesfalls uneingeschränkt verallgemeinern, zumal die Selbstverletzung als Krankheit ihrerseits in mehrere Unterformen aufzugliedern ist. Sie kann in unterschiedlicher Ausprägung vorkommen, Ausdruck mehrerer Erkrankungen sein, sich auf verschiedene Körperregionen beziehen, mit vielfältigen Mitteln und Methoden durchgeführt werden und unterschiedliche Zwecke verfolgen. Kurz: Selbstverletzung als Krankheit ist ein sehr weites Feld, das es im Folgenden zu beleuchten und näher einzugrenzen gilt.

3 Begriffliche Einordnung und Abgrenzung von anderen Begriffen

Wie oben bereits angedeutet, kann mit der Bezeichnung „Selbstverletzung als Krankheit“ bzw. „krankhafte Selbstverletzung“ grundsätzlich eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Phänomene beschrieben werden. Es liegt auf der Hand, daß es den Rahmen dieser Diplomarbeit sprengen würde, auf sie alle im Detail einzugehen und insofern eine nähere Eingrenzung erforderlich ist. Im Folgenden soll daher die Bezeichnung „Selbstverletzung“ zunächst begrifflich eingeordnet und entsprechend ihrer Verwendung in der vorliegenden Arbeit genauer definiert werden. Ausgehend von dieser Definition soll anschließend eine Abgrenzung zu anderen Formen der krankhaften Selbstverletzung und verwandten Phänomenen vorgenommen werden.

3.1 Begriffsklärung

Der Versuch, eine möglichst treffgenaue Erklärung des Begriffs „Selbstverletzung“ bzw. des Ausdrucks „selbstverletzendes Verhalten“ zu geben, erweist sich – dies sei vorab bemerkt – als relativ schwierig. Nicht zuletzt die große Heterogenität der betroffenen Patientengruppe, sowie die Vielfältigkeit der Symptomatik und der zugrundeliegenden psychodynamischen Prozesse machen es schwierig, eine Definition zu finden, die der Komplexität des Phänomens gerecht wird. Auf diese Problematik dürfte auch die Tatsache zurückzuführen sein, daß eine Durchsicht der relevanten Fachliteratur ebenfalls kein eindeutiges Ergebnis erbringt. Eine einheitliche Definition ist bislang in den entsprechenden Werken jedenfalls nicht auszumachen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Benennung des Phänomens an sich, so daß in der Literatur eine relativ breite Palette gängiger Synonyme existiert. Neben den oben genannten Begriffen gehören etwa – um nur einige Beispiele anzuführen – die Ausdrücke „Selbstbeschädigung“, „Selbstverstümmelung“, „Automutilation“, „Autoaggression“ und „selbstdestruktives Verhalten“ zu den am häufigsten verwendeten Termini. Weil selbstverletzende Handlungen großteils in Form von Beschädigungen der Haut auftreten, läßt sich dementsprechend in der dermatologischen Literatur ebenfalls eine verstärkte Beschäftigung mit dem Phänomen des selbstverletzenden Verhaltens feststellen. Dort ist die Bezeichnung „Para-Artefakt“ geläufig. Im englischen Sprachraum werden im Zusammenhang mit der Selbstverletzung die Begriffe „self-mutilation“, „self-injurious behaviour“, „deliberate self harm syndrome“, bzw. zur Umschreibung bestimmter Untergruppen „delicate self cutting“ und „syndrome of the wrist cutter“ besonders häufig verwendet (vgl. Herpertz/ Saß 1994, S. 297).

In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „Selbstverletzung“ definiert als eine offen durchgeführte, unmittelbare, selbstzugefügte und beabsichtigte Verletzung des eigenen Körpers, der Krankheitswert zuzuschreiben ist, die jedoch ohne suizidale Intention erfolgt. Aus Gründen der Einfachheit und besseren Lesbarkeit werden die oben genannten deutschsprachigen Termini dabei teilweise synonym gebraucht.

Zum besseren Verständnis der hier verwendeten Definition soll im Folgenden versucht werden, ihre wesentlichsten Elemente näher zu erläutern, indem sie gegenüber benachbarten Phänomenen und Begriffen eindeutig abgegrenzt werden. Dabei werden besonders die sog. „artifiziellen Krankheiten“ relativ ausführlich behandelt werden, zumal es sich dabei um eine große und wichtige Gruppe selbstverletzender Verhaltensweisen handelt – allerdings stellen sie nicht den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit dar.

3.2 Abgrenzung von artifiziellen Krankheiten

Zu den wesentlichen Kriterien der Selbstverletzung im Sinne der obigen Definition gehört die Tatsache, daß sie offen durchgeführt wird. Eine solche offene Selbstverletzung liegt vor, „wenn der Patient die schädigende Handlung vor Zeugen vornimmt oder im Verlauf der Erstversorgung oder auch während der ersten psychosomatischen Konsiliar- untersuchung die Verursachung aufklärt“ (Willenberg/Eckhardt, zit. nach Schmeißer 2000, S. 20). Dies bedeutet also, daß die Manipulationen am eigenen Körper offen zugegeben werden und die Betroffenen nicht versuchen, sie gegenüber anderen Menschen zu verheimlichen. Insofern ist die offene Selbstverletzung von den sog. „artifiziellen Krankheiten“ abzugrenzen, zu deren zentralen Merkmalen die Verleugnung der absichtlichen Herbeiführung körperlicher Beschwerden und somit die Verheimlichung der zugrundeliegenden Ursachen zählen. In der deutschsprachigen Literatur wird dieses Phänomen dementsprechend zum Teil auch unter der Bezeichnung „heimliche Selbstverletzung“ beschrieben. Des weiteren sind im Deutschen die Termini „vorgetäuschte Störungen“ und „selbstmanipulierte Krankheiten“ gebräuchlich. Im englischen Sprachraum hingegen wird meist der Ausdruck „factitious disorders“ verwendet. Gegenwärtig werden in der Fachliteratur vier verschiedene Störungsbilder unter dem Oberbegriff „artifizielle Krankheiten“ zusammengefaßt: die artifiziellen Krankheiten (als größte Untergruppe des gleichnamigen Oberbegriffs), das Münchhausen-Syndrom, das erweiterte Münchhausen-Syndrom bei Kindern, sowie das erweiterte Münchhausen-Syndrom bei Erwachsenen (vgl. Eckhardt 1992, S. 409f). Neben dem erwähnten Aspekt der Verheimlichung besteht die wesentliche Gemeinsamkeit dieser Störungen darin, daß die betroffenen Patienten Krankheitssymptome übertrieben präsentieren, vortäuschen und/ oder künstlich erzeugen. Ziel der Manipulationen ist es letztlich, sich in die Rolle des Patienten begeben zu können und „Klinikaufnahmen und insbesondere invasive diagnostische und therapeutische Eingriffe (...) zu erreichen“ (Eckhardt-Henn 2000b, S. 294). Die Genauigkeit der beschriebenen Beschwerden schwankt dabei von Fall zu Fall. Während manche Patienten über eher unspezifische Symptome klagen, schildern andere Betroffene ihre (angeblichen) Störungen in allen Einzelheiten. Häufig verfügen die Artefaktpatienten über ein auffällig umfassendes medizinisches Fachwissen, was es ihnen erleichtert, realistische Krankheitszeichen zu präsentieren. Um die Glaubwürdigkeit der vorgetäuschten bzw. künstlich erzeugten Beschwerden zu erhöhen, geben sie mitunter falsche Daten zur Krankengeschichte an oder fälschen Unterlagen und Befunde (vgl. Eckhardt 1994, S. 46). Typischerweise gelingt es dieser Patientengruppe, die behandelnden Ärzte auf subtile Weise so zu manipulieren, daß diese sich bspw. zu einer ungewöhnlich unkritischen Interpretation von Untersuchungsbefunden oder sogar zur vorschnellen Durchführung riskanter Operationen hinreißen lassen. Insofern kann zusammenfassend gesagt werden, daß ein weiteres Charakteristikum der artifiziellen Krankheiten in einer spezifischen pathologischen Arzt-Patient-Interaktion besteht (vgl. Eckhardt-Henn 2000a, S. 334). Wie oben angedeutet, sind die Schilderungen der vorgetäuschten bzw. künstlich herbeigeführten Krankheitszustände zum Teil derart realistisch, daß sie sich auch von erfahrenen Medizinern, bzw. medizinisch ausgebildetem Personal, nicht ohne weiteres als solche identifizieren lassen. Allerdings weisen die entsprechenden Fälle häufig gewisse Besonderheiten auf, die auf eine artifizielle Störung hindeuten. So sollte etwa bei wiederholten Störungen der Wundheilung, regelmäßiger Verstärkung der Symptome bei bevorstehenden Krankenhausentlassungen, sowie bei einer ungewöhnlich hohen Zahl von Operationen in der Vorgeschichte das Vorliegen heimlicher Selbstbeschädigung in Betracht gezogen werden. Auch die auffällige Bereitschaft eines Patienten, sich invasiven medizinischen Eingriffen zu unterziehen und seine gleichgültige Einstellung gegenüber dem Verlauf der Erkrankung kann ein Indiz für eine bestehende artifizielle Störung sein (vgl. Eckhardt 1996, S. C-1127). Dabei muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß sich im Falle der artifiziellen Krankheiten die manipulativen, bzw. vortäuschenden Handlungen der willentlichen Kontrolle entziehen. Anders als bei der Simulation, bei der Krankheiten bewußt vorgetäuscht werden, um sich Vorteile zu verschaffen oder eine von außen auferlegte Notlage zu erleichtern, erfolgt die Täuschung hier keineswegs freiwillig, sondern hat vielmehr Zwangscharakter (vgl. Klosinski 1999, S. 25). Häufig sind die Betroffenen darüber hinaus auch nicht in der Lage, zumindest sich selbst einzugestehen, daß sie ihre Symptome eigenhändig erzeugt haben. So beschreibt etwa Sachsse: „Nie und nimmer kämen sie auf die Idee, dass sie sich in einem dissoziierten Zustand dieses Symptom selbst beigebracht haben“ (Sachsse, zit. nach Schneider 1999, S. 12). In Hinblick auf die Frage, welche Art von (angeblichen) Symptomen im Zusammenhang mit den vier genannten Störungsbildern auftauchen kann, läßt sich keine eindeutige Aussage treffen. Die vermeintlichen Beschwerden können sämtlichen medizinischen Fachrichtungen entstammen, was im Umkehrschluß bedeutet, daß – salopp gesagt – keine Disziplin vor Artefaktpatienten wirklich sicher ist und somit Dermatologen, Internisten, Gynäkologen, Chirurgen, Psychiater etc. gleichermaßen damit rechnen müssen, es in ihrem Berufsalltag mit vorgetäuschten oder künstlich erzeugten Krankheitszeichen zu tun zu bekommen. Die Bandbreite möglicher Symptome erscheint dabei schier unermeßlich. Auch die Frage, welche Beschwerden am häufigsten auftreten, läßt sich nicht eindeutig beantworten. So kommt eine Studie an 104 Patienten zu dem Ergebnis, daß Schmerzen (75%), Blutungen (31%) und Beschwerden im Urogenital-Bereich (25%) zu den am häufigsten vorgetäuschten, bzw. selbstinduzierten Symptomen zählen (vgl. Paar 1996, S. 145). An anderer Stelle werden in der Fachliteratur im gleichen Zusammenhang demgegenüber „rezidivierende Abszesse, Wundheilungsstörungen, artifizielle Fieberzustände und Anämien“ (Eckhardt 1996, S. C-1127) genannt.

Die Vielfalt möglicher Symptome findet ihre Entsprechung in der Variationsbreite der Mittel, die zu ihrer Herbeiführung eingesetzt werden. Hauterkrankungen werden z.B. häufig durch Auftragen ätzender Flüssigkeiten oder subkutane Injektion verunreinigter Substanzen provoziert. Die Einnahme pyrogen wirkender Stoffe und die Selbstentnahme großer Blutmengen hingegen sind Beispiele für Methoden, mit deren Hilfe internistische Beschwerden erzeugt werden – in diesem Fall Fieberzustände bzw. Blutarmut (vgl. Eckhardt-Henn 2000a, S. 333).

Zu den Entstehungsbedingungen und Ursachen der artifiziellen Störungen liegen bislang keine gesicherten Erkenntnisse vor. Aus Einzelfallstudien und Untersuchungen an kleinen Patientenpopulationen läßt sich jedoch der Schluß ziehen, daß die heimlichen Selbstverletzungen nicht auf einer speziellen psychopathologischen Störung basieren, sondern bspw. Ausdruck einer zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörung oder einer neurotischen Störung sein können. Auffallend regelmäßig ist es bei den betroffenen Patienten in der Vorgeschichte zu schweren traumatisierenden Erlebnissen gekommen. Meist konnte kein stabiles und reifes Selbst und damit einhergehend auch nicht die Fähigkeit zu stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt werden. Psychodynamisch kann die heimliche Selbstverletzung als Reinszenierung der – meist in der frühen Kindheit erfahrenen – Traumatisierungen verstanden werden. Häufig steht sie in Zusammenhang mit unbewußten Schuld- oder Minderwertigkeitskomplexen und fungiert als Spannungslöser oder Mittel der Selbstbestrafung (vgl. Eckhardt 1996, S. C-1129).

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die verschiedenen Formen der artifiziellen Störungen detailliert einzugehen, da sie nicht den Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit darstellen. Daher sollen im Folgenden jeweils nur die wichtigsten Besonderheiten und auffälligsten Unterschiede in aller Kürze vorgestellt werden:

In Hinblick auf die artifiziellen Krankheiten (als Untergruppe) fällt zunächst auf, daß diese Form der Artefaktkrankheiten überwiegend bei Frauen auftritt. Es kann davon ausgegangen werden, daß ca. 80% der Betroffenen weiblichen Geschlechts sind. Signifikant ist weiterhin die Häufung eines bestimmten Berufszweigs: etwa 1/3 der Patienten kann eine medizinische Ausbildung vorweisen. Personen, die unter einer artifiziellen Störung leiden, sind im allgemeinen als sozial relativ angepaßt zu bezeichnen. Oft haben sie auch nach längerer Krankheit noch ein intaktes familiäres bzw. soziales Umfeld (vgl. Eckhardt 1992, S. 411). Die Symptomatik ist im wesentlichen auf die oben beschriebene Vortäuschung bzw. absichtliche Erzeugung von Krankheiten beschränkt.

Im Gegensatz dazu weisen Patienten, die unter dem Münchhausen-Syndrom leiden, neben den erwähnten allgemeinen selbstmanipulativen Verhaltensweisen eine Reihe weiterer typischer Kennzeichen auf. Besonders charakteristisch für dieses 1951 von Asher erstmals beschriebene Syndrom ist etwa das Phänomen der sog. „Pseudologia phantastica“. Dies bedeutet, daß die Patienten bzgl. sämtlicher Aspekte, die ihr eigenes Leben betreffen, zur Fantasterei neigen. Sie legen sich erfundene Identitäten und falsche Namen zu, erzählen spektakuläre Geschichten über ihr bisheriges Leben und liefern z.T. abenteuerliche Erklärungen über ihre (vermeintlichen) Krankheiten, deren Symptome sie in dramatisierender Weise präsentieren. Im Krankenhaus fallen sie häufig dadurch auf, daß sie sich schlecht in den Klinikalltag integrieren können, sozial eher unangepaßt sind und permanente Aufmerksamkeit und Beachtung fordern. Besonders charakteristisch für Münchhausen-Patienten sind zudem wiederholte abrupte Behandlungsabbrüche, sowie Selbstentlassungen ohne erkennbaren Grund und entgegen ärztlichem Rat. In der Gesamtschau fügen sich diese Besonderheiten letztlich zum Bild des „Hospital-hoppers“ – zum Patienten, der von Krankenhaus zu Krankenhaus wandert - zusammen (vgl. Klosinski 1999, S. 25). Die zwischenmenschlichen Beziehungen dieser Patientengruppe sind meist schwer gestört. Die Betroffenen sind überwiegend männlichen Geschlechts und mittleren Alters. Eine zusammenfassende Beschreibung des typischen Münchhausen-Patienten liefert Reinhard Plassmann:

„Sie führen sich in Ambulanzen und Spitäler mit oder ohne Selbstmanipulation ein, immer aber durch Darstellung und Schilderung hochakuter Krankheitszustände, wie z.B. Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluterbrechen, Nierenkolik etc., welche geeignet sind, Interesse, Faszination und intensive Fürsorglichkeit beim Arzt zu erwecken. Sie lassen alle Eingriffe und Untersuchungen gerne geschehen, sind „ideale Patienten“ und idealisieren ihre Ärzte, bis Zweifel an der Echtheit der Krankheit aufkommen mit der Folge eines plötzlichen Beziehungsumschwungs bis hin zu aggressiver Entwertung der Ärzte (...) und abruptem Beziehungsabbruch. Danach inszenieren diese Patienten das gleiche Drama mit neuen Akteuren in einer anderen Klinik“ (Plassmann 1987, S. 886).

Während Patienten, die unter dem Münchhausen-Syndrom leiden, an ihrem eigenen Körper Symptome vortäuschen bzw. erzeugen, ist für beide Formen des erweiterten Münchhausen-Syndroms die Herbeiführung von Krankheitszeichen an Dritten charakteristisch. In der Literatur wird zur Beschreibung dieses Phänomens häufig auch der englische Terminus „Munchhausen-by-proxy-syndrome“ verwendet.

Das erweiterte Münchhausen-Syndrom bei Kindern liegt vor, wenn die Mutter – in seltenen Fällen auch der Vater – bei ihrem Kind Symptome vortäuscht oder absichtlich erzeugt, so daß letztlich eine Krankenhausaufnahme und risikoreiche medizinische Eingriffe – bis hin zu gefährlichen Operationen – erreicht werden. Zwar fügen die Betroffenen in diesem Fall die Verletzungen nicht ihrem eigenen Körper zu. Dennoch lassen sich die entsprechenden Verhaltensweisen unter den Begriff der „Selbstverletzung“ subsumieren, zumal es sich – wie Schleiffer beschreibt – „bei den kindlichen Opfern schließlich um Selbstobjekte [handelt], d.h. um Personen, die der Selbstwertregulation dienen“ (Schleiffer 1998, S. 130). Dem Munchhausen-by-proxy-syndrome liegen also komplizierte psychodynamische Prozesse zugrunde. Sehr verkürzt ausgedrückt benutzen die Eltern bei diesem Störungsbild ihre Kinder gewissermaßen stellvertretend als Teil ihres eigenen Körpers und schädigen ihn, um auf diese Weise nicht zu bewältigende Affekte abzuführen. Am häufigsten kommt es im Zusammenhang mit dem Munchhausen-by-proxy-syndrome bei den Kindern zu wiederkehrenden Durchfällen und epileptischen Anfällen. Erstere werden etwa durch die Gabe von Brech- oder Abführmitteln erreicht; letztere werden herbeigeführt, „indem die Mütter den Kindern die Luft mit der Hand abdrücken oder ihnen eine Plastiktüte überstülpen“ (Eckhardt 1994, S. 73). Einige Autoren weisen zurecht darauf hin, daß es sich bei diesem Syndrom um eine besondere Form der schweren Kindesmißhandlung handelt, die nicht selten zum Tod führt. Sofern die betroffenen Kinder ihren Müttern nicht entzogen werden, ist es laut Plassmann sogar äußerst unwahrscheinlich, daß die Kinder überleben: „sofern die Kinder bei ihren Müttern bleiben, ist ein späterer Kindstod fast die Regel“ (Plassmann 1987, S. 887). Im Alltag fällt es – wie auch bei den anderen Formen der heimlichen Selbstverletzung – wiederum nicht leicht, das Vorliegen dieser Störung zu identifizieren. Sollten allerdings bspw. Krankheiten ohne erkennbaren Grund anhalten oder wiederkehren, so könnte dies als Hinweis auf das erweiterte Münchhausen-Syndrom verstanden werden. Gleiches gilt auch, wenn es bei einer Trennung von der Mutter beim Kind zu einer Verbesserung der Symptomatik kommt (vgl. Klosinski 1999, S 26).

Das Munchhausen-by-proxy-syndrome bei Erwachsenen findet in der Literatur nur wenig Beachtung, zumal es sich dabei um ein sehr selten auftretendes Phänomen handelt. Es ist hauptsächlich durch die künstliche Erzeugung von Symptomen bei erwachsenen Angehörigen oder anderen Personen gekennzeichnet, die dem Betroffenen nahestehen. Ziel ist es auch bei dieser Störung, die Aufnahme in ein Krankenhaus und die Durchführung medizinischer Untersuchungen und Eingriffe zu erreichen. Die Herbeiführung der Krankheitszeichen erfolgt dabei häufig durch die heimliche Verabreichung von Arzneimitteln.

3.3 Abgrenzung von indirekten Selbstverletzungen

Zu den Kriterien des selbstverletzenden Verhaltens im Sinne der zu Beginn dieses Kapitels genannten Definition gehören u.a. auch die Aspekte unmittelbar und beabsichtigt. Dies bedeutet, daß die Selbstverletzung sofort zu einem erkennbaren Resultat führt und dieses mit der Selbstverletzung auch gezielt herbeigeführt werden sollte. Damit sind indirekte Selbstverletzungen ausgeschlossen, deren schädigender Charakter sich erst nach längerer Zeit bemerkbar macht und/oder bei denen nicht die Motivation im Vordergrund steht, dem eigenen Körper Schaden zuzufügen. Wie im zweiten Kapitel bereits beschrieben wurde, treffen diese Merkmale auf einen Großteil der gesellschaftlich akzeptierten, bzw. tolerierten Formen der Selbstbeschädigung zu. Es gibt jedoch auch eine Reihe von indirekt schädigenden Verhaltensweisen, die eher in die Kategorie des Krankhaften einzuordnen sind. Als Beispiele sind hier etwa der mißbräuchliche Konsum von Drogen, Alkohol und/oder Medikamenten, sowie die verschiedenen Eßstörungen zu nennen. Auch diesen Verhaltensweisen liegt – ähnlich wie bei den akzeptierten Selbstverletzungen – nicht primär eine selbstschädigende Absicht zugrunde. Vielmehr stellt die Schädigung eher eine unangenehme Begleiterscheinung dar.

In Abgrenzung zu der obigen Definition ist an dieser Stelle noch auf zwei weitere Formen indirekter Selbstverletzung hinzuweisen, nämlich zum einen auf die krankhaft erhöhte Unfallneigung und zum anderen auf die Hypochondrie. Zwar geht es Menschen, die in krankhafter Weise zu Unfällen neigen, wohl im Grunde darum, ihrem Körper Schaden zuzufügen. Da dieser Wunsch sich jedoch vollkommen dem Bewußtsein der Betroffenen entzieht (vgl. Eckhardt 1994, S. 226), kann in diesem Zusammenhang nicht von beabsichtigten Verletzungen im eigentlichen Sinn gesprochen werden. Denn die Patienten begeben sich quasi unfreiwillig immer wieder in Gefahrensituationen, in denen ihr Schicksal dann gewissermaßen dem Zufall überlassen bleibt. Demgegenüber sind Personen, die an einer schweren hypochondrischen Störung leiden, geradezu wahnhaft von der Idee besessen, an einer ernsthaften körperlichen Erkrankung zu leiden. Aus dieser Überzeugung heraus sind sie bereit, unnötige medizinische Untersuchungen und Eingriffe an sich vornehmen zu lassen, welche letztlich mit diversen Schädigungen verbunden sein können. Dabei steht der schädigende Charakter jedoch nicht im Vordergrund, zumal es den betroffenen Patienten vielmehr darum geht, Gewißheit über ihre vermeintliche Krankheit zu gewinnen. Zudem handelt es sich bei den eventuell entstehenden Schäden auch nicht – wie die Definition es fordert – um selbstzugefügte Verletzungen.

[...]

Fin de l'extrait de 93 pages

Résumé des informations

Titre
Selbstverletzung als Krankheit - Erscheinungsbild, Hintergründe und Therapie offener Selbstbeschädigung
Université
University of Applied Sciences Bielefeld
Note
1,7
Auteur
Année
2005
Pages
93
N° de catalogue
V67985
ISBN (ebook)
9783638596183
ISBN (Livre)
9783656803836
Taille d'un fichier
772 KB
Langue
allemand
Mots clés
Selbstverletzung, Krankheit, Erscheinungsbild, Hintergründe, Therapie, Selbstbeschädigung
Citation du texte
Dipl.-Sozialarbeiterin // Magister Artium Katharina Siebert (Auteur), 2005, Selbstverletzung als Krankheit - Erscheinungsbild, Hintergründe und Therapie offener Selbstbeschädigung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67985

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