Piercing in Deutschland. Eine historisch-analytische Betrachtung


Mémoire (de fin d'études), 2007

110 Pages, Note: 2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1. Einführung in das Thema Piercing
1.1. Definition des Piercings
1.2. Einblick in die historische Entwicklung des Piercings
1.2.1. Die Anfänge des Piercings
1.2.2. Die Entwicklung des Piecings in der westlichen modernen Gesellschaft
1.2.2.1. Die Gay- Community/ SM- Szene
1.2.2.2. Die Punks
1.2.2.3. Die Modern-Primitives
1.2.2.4. Der Durchbruch des Piercings an die Öffentlichkeit

2. Das Piercing als eine Form der nonverbalen Kommunikation 26
2.1. Die Inszenierung des Körpers durch Piercing
2.1.1. Stil
2.1.2. Theatralität
2.1.3. Selbstdarstellung
2.1.4. Korporalität und Körperzeichen
2.1.4.1. Individualitätszeichen
2.1.4.2. Ästhetische Prestigesymbole
2.1.4.2.1. Die Schmuck-Theorie
2.1.4.2.2. Symbole der Dekoration
2.1.4.3. Statuszeichen
2.1.4.4. Distinktions- und (Gruppen-)Zugehörigkeitszeichen
2.1.4.5. Persönlichkeitsmerkmale
2.1.4.5.1. Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung
2.1.4.6. Zeichen interpersonaler Einstellung
2.1.4.6.1. Sexualität
2.1.4.6.2. Aggression
2.1.4.6.3. Aufsässigkeit
2.1.4.7. Normalitätszeichen und Stigmata
2.1.4.8. Rahmungszeichen und Authentizitätszeichen
2.1.4.9. Soziale Geschlechtszeichen
2.1.4.10. Alterszeichen
2.2. Die Authentizität des Piercings
2.3. Zusammenfassung

3. Piercing unter pathologischen Aspekten: Die Persönlichkeitsstörung
3.1. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS)
3.1.1. Selbstverletzendes Verhalten bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
3.1.1.1. Kurzer Exkurs zur Bedeutung des Masochismus
3.1.2. Empirische Studie zu Selbstverletzung und Piercing von Anke Schneider
3.1.3. Bedeutung der Körpergrenzen bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung
3.1.3.1. Die Bedeutung der menschlichen Haut
3.1.3.1.1. Das Haut-Ich
3.1.4. Schlußfolgerung
3.2. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung
3.2.1. Schlußfolgerung
3.3. Die Neurose
3.3.1. Piercing als eine Form der Zwangsneurose (Zwangsstörung) oder der Sucht?
3.3.2. Schlußfolgerung
3.4. Zusammenfassung

Schluss

Anhang

Quellenverzeichnis

Vorwort

Die Wahl meines Themas hat sicherlich mit mir selbst zu tun. Ich habe im Alter von 17 damit begonnen, mich piercen zu lassen und trug vor einigen Jahre, etwa im Alter von 20, ca. 30 Piercings. Mein Interesse an dem Metier war so groß, dass ich selbst begann, den „Beruf“ des Piercers in einem Studio zu erlernen. Der Kontakt mit der Kundschaft war für mich jedoch recht schnell desillusionierend. Ein Piercing bedeutet mir persönlich recht viel. Aber plötzlich kamen Kunden auf mich zu, die meinten: „Ich will ein Piercing. Is egal wohin.“ Diese Beliebigkeit erschreckte mich und ich begann, mir Gedanken über die Bedeutung von Piercing zu machen. Was transportiert der Schmuck für mich? Die Ansicht beispielsweise Julia Schochs . die nach meiner Literaturrecherche viele teilen, wollte ich auf keinen Fall vertreten:

„Der Mythos scheint mit dieser Mode (, die der Körpermodifikation) in unsere Moderne eingebrochen zu sein. Die instinktive Sehnsucht der Gesellschaft nach archaischen, irreversiblen Riten ist noch da, deren Sinn jedoch verloren. Geblieben ist eine leere Zeichenform, der die Füllung fehlt“ (Schoch 2005, S. 226).

Meine frustrierenden Erlebnisse mit der Kundschaft wurden noch durch die Medien verstärkt, die der tieferen Bedeutung von Piercing, die ich zu diesem Zeitpunkt nur erahnen konnte, so gar keine Beachtung schenken wollten.

So prägen beispielsweise folgende Auszüge u.a. das öffentliche Bild von Piercing:

„Manchmal braucht es einen Bolzenschneider zum Öffnen eines Geburtskanals. (…) Um das Kind nicht mit einem Kaiserschnitt auf die Welt holen zu müssen, fummelte der Arzt den Piercing-Schmuck (…) aus dem Intimbereich. Erst dann hatte das Kind genug Platz und konnte auf natürlichem Weg geboren werden“ (Schweitzer 2001, S. 210)

„Besonders gefürchtet sind Hepatitis B oder C. Wer sich beim Anbringen eines Piercings eines dieser chronischen Leberentzündungen zugezogen hat, muss häufig miterleben, wie seine Organe von einem Virus zerstört werden“ (ebd., S. 210)

„Berichtet wird (…) von Patienten, deren Herzklappen zerfressen wurden, nachdem sich ein Piercing-Ring infiziert hatte und die Erreger in die Blutbahn geschwemmt worden waren. Die Ärzte mussten ihnen künstliche Klappen einsetzen“ (ebd., S. 210)

„Zumindest eine Frau hat schon wegen eines entzündeten Rings eine Brust verloren“ (ebd., S. 210)

„Weil die Zunge von vielen Gefäßen durchzogen ist, kann sie nach dem Durchstechen binnen Sekunden mit Blut voll laufen, anschwellen wie ein Wasserballon und so die Atemwege versperren. Nur ein Luftröhrenschnitt kann dem Erstickenden dann noch helfen“ (ebd., S. 210)

Die Horrorgeschichten überschlagen sich. Schon ewig kursiert die „düstere Legende“, man könnte von einem Piercing gelähmt werden. In all den Jahren habe ich niemals eine Person angetroffen, deren Gesicht von einem Piercing gelähmt gewesen wäre. Auch keiner der vielen professionellen Piercer wusste von solch einem Fall zu berichten. Gefährlich wird ein Piercing dann, wenn es sich entzündet, weil es nicht richtig gepflegt wurde, und die Entzündung unbehandelt bleibt. Die Folgen dieser Unachtsamkeit sind m.E. durchaus vermeidbar.

Doch dies nur am Rande.

Ich hoffe durch meine Arbeit mehr Einblick in das Thema liefern zu können, ohne zu dramatisieren und ohne einen gewissen Voyeurismus an den Tag zu legen, auf den ich in einigen Werken[1] gestoßen bin. Mit diesen Zeilen richte ich mich auch an meine Eltern, die mir so oft die Frage stellten „Warum? Warum muss das sein? Warum tust Du Dir das an?“ Fragen, die sich sicher viele Eltern stellen.

Leider konnte ich nur einen Bruchteil der Aspekte beleuchten und auf einige nur sehr oberflächlich eingehen.[2] An vielen Stellen musste ich auf weiterführende Literatur verweisen, da der Umfang meiner Arbeit sonst enorme Ausmaße angenommen hätte. Sehr zu empfehlen ist das Buch Erich Kastens „Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und anderen Körperveränderungen“. Es erschien im Juli diesen Jahres und war für mich zugegebener Maßen Anlass zur Frustration, da ich hier auf dem „Silbertablett serviert“ bekam, was ich Monate zuvor mühevoll erarbeitet hatte.

Sehr wichtig ist mir zu betonen, dass ich keine Wahrheiten produziere. Es geht nur um neue Perspektiven, Möglichkeiten, Aspekte, aber keinesfalls darum, einer Person zu unterstellen, sie hätte genau jene Motive für das Anbringen ihres Piercings, auf die ich in meiner Arbeit eingehe.

„Durch meine Forschung ist mir klar geworden, dass das Thema ´Körpermodifikation´ hochkomplex ist und es keinerlei feste Grenzen gibt. Es ist eine sehr individuelle Angelegenheit und die Motivationen hierzu lassen sich nicht verallgemeinern oder einer anderen Stufe von Pathologie zuordnen“ (Stirn 2004, S. 14).

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Anne Schinke Offenbach am Main, den 24.08.2006

Einleitung

In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf die sozialpsychologischen und auf die pathologischen Aspekte des Piercing.

Zunächst definiere ich Piercing genauer und erläutere dabei besonders praktische wie medizinische Gesichtspunkte. Dies soll sachlich an das Thema Piercing heranführen und dem Leser, der sich noch nicht mit diesem Körperschmuck beschäftigt hat, einen kleinen Einblick in die Materie ermöglichen.

Danach zeichne ich die historische Entwicklung innerhalb der westlichen Industrienationen seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. In diesem Rahmen gehe ich auf die wichtigsten Subkulturen ein, deren Identität vom Piercing geprägt ist und erläutere im Anschluss, wie es dem Piercing gelang, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und zur Mode zu werden. Auf den Bereich Piercing in fremden Kulturen gehe ich nicht weiter ein, da dies für die Verhältnisse in Deutschland keine Relevanz besitzt.

Im zweiten Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich dann mit Piercing als Medium der nonverbalen Kommunikation. Ich habe mich dazu entschieden, diesen sozialpsychologischen Aspekt des Piercing näher zu betrachten, da ich nach meiner Literaturrecherche den Eindruck hatte, diese Dimension werde zu wenig beachtet. Ich kläre hier zunächst, welche soziale Funktion das Piercing hat. Dann gehe ich der Frage nach, wie der Körper durch Piercing inszeniert wird und was die Authentizität dieser Form des Schmucks ausmacht.

Im dritten Teil geht es um pathologische Aspekte des Piercing.

Aglaja Stirn kritisiert zu recht, dass vielfach ein gänzlich unreflektierter Zusammenhang zwischen Selbstverstümmelung und Piercing hergestellt wird (vgl. Stirn 2003, S. 28).

Gerade deshalb konzentriere ich mich auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ich werde das Piercing hier zwar auch unter dem Aspekt der Selbstverletzung betrachten, aber erweiternd seine prothetische Funktion erläutern: Da die Verletzung sich oberflächlich - auf der menschlichen Haut - zuträgt, werde ich in diesem Rahmen die Haut, deren Bedeutung m.E. stark vernachlässigt wird, ihre Funktion und die Theorie des Haut-Ich nach Anzieu genauer beleuchten.

Die Themen Piercing und narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Neurose bzw. Sucht behandele ich eher sekundär, da sie in Bezug auf Piercing weniger Relevanz besitzen. Ich beschäftige mich in diesem Abschnitt meiner Arbeit auch nicht mit Therapieformen, da diese nicht Thema meiner Arbeit sind.

Zum Abschluss werde ich die wichtigsten Erkenntnisse meiner Arbeit zusammenfassen und einen Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen liefern.

Gegenstand meiner Betrachtung ist das Piercing in Deutschland. Daher stützt sich meine Arbeit auch nahezu ausschließlich auf deutsche Literatur und nicht auf die internationale Forschung.

Zu den wichtigsten Vertretern im Bereich der Forschung zum Thema Piercing in Deutschland gehört sicherlich Frau Priv. Doz. Dr. med. Aglaja Stirn, Jg. 1962, und Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psycho- und Gruppenanalytikerin. Als Oberärztin leitet sie die Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Frau Stirn befasst sich bevorzugt mit psychologischen und anthropologischen Aspekten des Piercing. Dies wird an einer Auswahl ihrer Arbeiten deutlich:

„Körpermagie, Körpernarzissmus und der Wunsch, Zeichen zu setzen: Eine Psychologie von Tattoo und Piercing“( In: Hirsch, Mathias (Hrsg.) Der eigene Körper als Symbol. Der Körper in der Psychoanalyse von heute. Gießen: Psychosozial-Verlag 2002, S. 199- 222.)

„´Nur tätowierte und gepiercte Menschen dürfen heiraten´ Eine Kulturgeschichte der Körpermodifikation“ (In: Körpermodifikation und Selbstverletzung. Hofgeismarer Vortrage, Band 24/2004, S. 3- 19.)

„Körperkunst und Körpermodifikation- Interkulturelle Zusammenhänge eines weltweiten Phänomens“ (In: Paediatrica, (2003) Vol. 14 No. 4, S. 28- 32.)

„Vom Initiationsritus zu geschmückten Haut. Tätowierung im Spiegel von Stammestradition und neuem Kunstverständnis“ (In: Psychother Soz, (2001) 3/ 4, S. 283- 304.)

„Piercing- Psychosoziale Perspektive eines gesellschaftlichen Phänomens“(In: Psychosozial, (2003) 94, S. 7- 12.)

„Trauma und Tattoo- Piercing, Tätowieren und verwandte Formen der Körpermodifikation zwischen Selbstfürsorge und Selbstzerstörung traumatisierter Individuen“ (In: Psychotraumatologie, (2002) 2(3), S. 52.)

„´Meine Seele brennt in meiner Haut´- Kunstvolles Tätowieren und Piercing als selbstheilende Handlung traumatisierter Menschen“ (In: Psychother Psychosom med Psychol, (2002) 52, S. 119- 120.)

„The Hidden World of the Naga“ (New York: Prestel 2003.)

Ein weiterer Autor, der sich u.a. im Blick auf medizinische und psychologische Aspekte mit dem Piercing beschäftigt, ist PD Dr. Erich Kasten[3], tätig am Universitätsklinikum in Magdeburg. Sein bedeutendes Buch „Body-Modifikation“ erschien dieses Jahr.

Beide Vertreter haben sicherlich eine zentrale Bedeutung, wenn es um Forschung über Piercing in Deutschland geht, abgesehen von zahlreichen populär argumentierenden Autoren, die jedoch nachrangig sind. Aglaja Stirn selbst bemängelt, dass Literatur, die sich mit psychologischen und sozialen Aspekten von Körpermodifikationen in der westlichen Gesellschaft beschäftige, eher spärlich gesät sei (vgl. Stirn 2003, S. 28).

Auch unter feministischen Aspekten scheint nach meinen Erkenntnissen kein sehr ausgeprägtes Interesse an dem Thema Piercing zu bestehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier eher auf den Körper, den Kult um diesen und die Ansprüche, die die Gesellschaft an den weiblichen „Body“ stellt, Stichwort Schönheitschirurgie, Diäten, Fitness usw. .

Noch nicht hinreichend beleuchtet sind in Deutschland die soziologischen Aspekte des Piericing. Ich konzentriere mich daher auf keine bestimmte Gruppe, keine soziale Schicht, keine Altersklasse usw. Ich liefere auch kein Profil eines „typischen Gepiercten“. Die Erklärung für mein Vorgehen ist recht einfach: In Deutschland gibt es bisher kein gesichertes Datenmaterial über das Piercing im allgemeinen. Die Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ schätzt die Zahl der Gepiercten und Tätowierten zwar auf rund zwei Millionen (vgl. Stirn 2002; S. 223). Da viele Piercings jedoch nicht von einem professionellen Piercer, sondern häufig von Bekannten, Freunden oder vom Träger selbst angebracht werden, ist die genaue Zahl an Gepiercten nicht bekannt, ebenso wenig das „Klientel“.

Aglaja Stirn gibt zwar an, die Rate der Gepiercten in Deutschland liege bei etwa sieben Prozent. Die Höchstrate an gepiercten Frauen finde sich zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr. Sie betrage 38 Prozent. Das erste Piercing bei Männern sei das Ohr, gefolgt von der Brustwarze. Bei der Frau stehe an erster Stelle der Bauchnabel (vgl. Stirn 2004, S. 14), wenn man den Ohrring außer Acht lasse. Mit diesen Angaben sollte man aufgrund der Dunkelziffer aber eher vorsichtig umgehen.

Deshalb konnte ich auch auf keine geschlechterspezifischen Aspekte eingehen, weil hierzu verlässliche Angaben gleichfalls nicht vorliegen. Nur im Zusammenhang mit Tattoos wird von spezifischen Motiven und Körperstellen gesprochen, nicht aber beim Piercing.

Man kann sich zwar denken, dass ein Bauchnabelpiercing vor allem von Frauen getragen wird. Spekulationen sind jedoch keine Basis für eine wissenschaftliche Arbeit.

Unbestritten ist sicherlich, dass Piercing ein soziologisch und pädagogisch relevantes Jugendphänomen und ein auffälliger Bestandteil der Kultur von Jugendlichen geworden ist. Piercing kann heute nicht mehr als gesellschaftliche Randerscheinung abgetan werden, auch wenn derzeit noch mehr junge Mädchen denn junge Männer als Träger von Piercings vertreten sind. Auf jeden Fall werden sich Pädagogen, seien es Lehrer oder Sozialarbeiter, verstärkt mit dem Thema auseinandersetzen und die hierfür erforderliche Kompetenz erwerben müssen. Ich behandele die allgemeinen und pathologischen Erscheinungsformen des Piercings, weil es vom Stand der Forschung her zu früh ist, nur pädagogische Aspekte zu behandeln. Jugendkultur, Verunsicherung, Identitätsprobleme, Körperinszenierung - all das sind Fassetten eines Problems, mit dem sich die Pädagogik befasst. Erzieher die handlungsrelevant tätig werden wollen, müssen zunächst verstehen, was bei und in Jugendlichen vorgeht. Zu diesem besseren Verständnis will die vorliegende Arbeit einen kleinen Beitrag leisten.

Alles in allem ist mir bei meinen Recherchen aufgefallen, dass das Piercing im Schatten des Tattoos steht und dort gleichsam unterzugehen droht, denn die wissenschaftlichen Werke über Tattoos sind bereits deutlich zahlreicher, und wenn sich Autoren mit dem Thema „Tattoo und Piercing“ beschäftigen, steht in den meisten Fällen das Tattoo im Mittelpunkt, während das Piercing nur am Rande erwähnt wird.

In meiner Arbeit bediene ich mich ausschließlich der männlichen Form. Das heißt für mich jedoch nicht, „die Gepiercte“ auszuschließen. Für mich bedeutet vielmehr die ständig zusätzliche Verwendung der weiblichen Form eine Überbetonung und damit eine Festschreibung des Geschlechterunterschiedes.

1. Einführung in das Thema Piercing

„Die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei ist nur schwer zu ziehen: Stecken Sie sich einen Ring in Ihre Nase, und Sie sind eine Wilde; stecken Sie sich zwei Ringe in Ihre Ohren, und Sie sind zivilisiert“

(Sinnsprüche, 11.07.2006)

Körpermodifikationen fangen zwar bei dem Ohrloch an, hören bei der gespaltenen Eichel jedoch noch lange nicht auf. Diese mehr oder weniger extremen Eingriffe in den Körper unterliegen keiner medizinischen Notwendigkeit. Sie werden heute meist von darauf spezialisierten kommerziellen Anbietern durchgeführt. Welchen Zweck sie dennoch erfüllen, werde ich im Verlauf meiner Arbeit erläutern.

So könnte man an dieser Stelle auch die immer populärer werdende plastische Schönheitschirurgie nennen, auf die ich in meiner Arbeit nicht eingehen werde, in welcher der Chirurg die Körper nach dem gängigen Schönheitsideal modelliert. Da diese Formen der Körpermanipulation, sei es eine Fettabsaugung, ein Lifting, eine Verödung, das Einsetzen von Implantaten oder das Brechen der Schienbeine zur Verlängerung, dem herrschenden Musterbild entsprechen, werden sie kaum als abweichendes Verhalten wahrgenommen und wirken daher auch weniger krankhaft als gesellschaftlich geringer oder gar nicht anerkannte Körpermodifikationen.

Die Körpermodifikation kennzeichnet ein gesellschaftlich komplementäres Schönheitsideal, der unversehrte versus den modifizierten Körper, das aber von der gleichen Einstellung zum Körper und seiner Manipulierbarkeit durchdrungen zu sein scheint. (Vgl. Stirn 2003, S. 10)

„Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, (…). Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“

(Mose 1, 27-31)

Der Mensch ist jedoch längst zu seinem eigenen Schöpfer geworden!

Um eine gewissen Vorstellung von dem zu erhalten, was in Deutschland praktiziert wird, auf welchen Kulturkreis es zurückzuführen ist, aber auch um das Piercing zu „relativieren“ und um ihm seine „Dramatik“ zu nehmen, habe ich eine kleine Liste von Körpermodifikationen zusammengestellt, in die bei Interesse im Anhang dieser Arbeit Einblick genommen werden kann.

Die angesprochenen, heute in Deutschland, vermehrt jedoch in Nordamerika, praktizierten Verfahren, setzten sich sowohl aus neuen wie auch aus traditionellen Körpermodifikationen zusammen. Sie sind noch lange nicht vollzählig[4], sondern bieten nur eine kleine Übersicht über das „Machbare“.

1.1. Definition des Piercings

Auf eine uralte Form der Körpermodifikation möchte ich besonders eingehen. Sie findet sich auf der ganzen Welt und wurde zu jeder Zeit mehr oder weniger praktiziert: das Piercen.

Das deutsche Wort Piercing leitet sich von dem englischen „to pierce“: durchstechen, durchbohren, durchdringen ab.

Piercing ist die Kunst, die Haut bzw. ein Organ zu durchstechen, um ein Schmuckstück darin einzusetzen.

Zum Stechen benutzt der Piercer eine spezielle rasiermesserscharfe Piercingnadel, eine 1,2- 2,6 mm starke medizinische Kanüle, um die sich ein kleiner Schlauch befindet. Die zu piercende Körperstelle wird zuerst mit einem Stift durch einen Strich oder Punkt markiert, dann desinfiziert und schließlich mit einer feststellbaren Zange aus dem OP-Bereich fixiert. Mit der Kanüle wird daraufhin

„ein Schnitt in das Gewebe gemacht und der Ring oder der Stift eingefädelt, der bis zum Abheilen in der Wunde bleibt. Dadurch wachsen Haut und Gewebe nicht wieder zusammen, sondern bilden um den Schmuck eine Art Kanal mit einer neuen Hautschicht“ (Gruhlke 1999, S.36).

Während der ganzen Prozedur sollte der Piercer Handschuhe tragen, die vor dem eigentlichen Stechen noch einmal gewechselt werden. Die eingesetzte Kanüle wird nach Gebrauch entsorgt und die Instrumente im so genannten Autoklav sterilisiert. (Vgl. Laukien 2003, S. 116- 117)

Bevorzugt wird Gewebe wie das Ohrläppchen, die Zunge, der Bauchnabel, der Nasenflügel, die Eichel usw. durchstochen und ein Piercing aus nickelfreiem Chirurgenstahl, PTFE oder Titan eingesetzt. Sobald der Kunde das Studio verlässt, ist es an ihm, das Piercing regelmäßig, manchmal über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr zu pflegen, bis der Wundkanal vollkommen ausgeheilt ist. Ein Piercing sollte mit Octenisept zweimal täglich gereinigt werden. Im Mundbereich wird mit Listerine gespült und Schmuck im Intimbereich kann hervorragend mit Eigenurin gesäubert werden. Ein seriöses Studio steht dem Kunden während dieser Zeit selbstverständlich noch mit Rat und Tat zur Seite.

Auch einige Ärzte führen Piercings aus, obwohl dies nach Meinung der Bundesärztekammer keine ärztliche Tätigkeit darstellt und als ein Verstoß gegen den Hippokratischen Eid ausgelegt werden kann, der besagt, dass kein Arzt einem Menschen Schaden zufügen darf, denn ein Piercing dient nicht der Heilung und birgt eben doch ein gewisses Gesundheitsrisiko. (Vgl. Kasten 2006, S. 51)

Auch wenn es nur Ärzten erlaubt ist, ein Lokalanästhetikum zu injizieren, ist die Spritze allein meist schon so schmerzhaft wie das Piercing selbst, und es besteht die Gefahr des Aufschwemmens des Gewebes, was das genaue Anbringen eines Piercings erheblich erschwert.

Bei Naturvölkern besteht der Schmuck jedoch eher aus Materialien wie Elfenbein, Jade, Holz, Knochen oder verschiedenen Edelsteinen (vg. Feige 2002, S. 92).

Der eingesetzte Schmuck verbleibt mindestens für einige Wochen, wenn nicht Jahre oder bis zum Tode im Körper. Ich betone den Zeitraum, um mich von temporären Piercings, den so genannten Play-Piercings, zu distanzieren. Die Play-Piercings werden meist mit Nadeln gestochen und nur für kurze Zeit in der Haut belassen, ohne ein Schmuckstück einzusetzen. Größtenteils wird nicht nur eine Nadel, sondern gleich Dutzende gesetzt, die teilweise kunstvolle Muster wie Spiralen ergeben. (Vgl. Kasten 2006, S. 56- 57) Eine „Unterart“ des Play-Piercings stellt das Zusammennähen von Körperöffnungen oder Körperteilen dar, genannt Sutering oder Sewing, bei dem z.B. Finger aneinander genäht werden. Besonders das Zusammennähen des Mundes kann eine große symbolische Bedeutung innehaben. Es können jedoch auch Muster auf die Haut oder zwei Köper an einander genäht werden. Es wird auch von einem Fall berichtet, bei dem sich ein Mann Knöpfe direkt auf die Haut nähte. (Vgl. ebd., S.73- 74) Man sieht: der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.[5][6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.2. Einblick in die historische Entwicklung des Piercings

1.2.1. Die Anfänge des Piercings

Piercing ist keine modische Erfindung unserer Zeit, sondern gerade bei den Naturvölkern ein gängiges Ritual. Bei ihnen diente das Durchbohren des Körpers beispielsweise als sichtbares Zeichen ihres Glaubens, dem Schutz vor dem Eindringen böser Geister oder verhinderte das Entrinnen der Seele aus dem Körper. (Vgl. Feige 2004, S. 11). Eine besondere Rolle spielte das Piercing auch als „Rite-of-Passage” (Laukien 2003, S. 10). Das Überwinden von Schmerzen vor Zeugen berechtigte dann zur Heirat oder zum selbständigen Jagen. Es machte den Träger zu einem vollwertigen Mitglied seiner Gruppe (vgl. ebd., S. 10).

Die Papua aus dem Pazifik glaubten, sie könnten durch Piercings den Mut, die Schnelligkeit oder die Kräfte verehrter Tiere übernehmen. Um ihre Opferbereitschaft zu bekunden, durchbohrten sich die Maya für ihre Götter die Zungen. Die Inkas in Peru signalisierten durch Ohrpflöcke ihren hohen sozialen Status. Piercings wurden aber auch zur Unterscheidung von Stämmen und Familien eingesetzt, so geschehen entlang des Amazonas. Die Verschiedenen Materialien wie Jade, Gold, Diamanten usw. stellten ein äußeres Zeichen der Gesundheit eines Mitgliedes dar. (Vgl. Feige 2004, S. 11- 12)

Man muss jedoch erwähnen, dass das Manipulieren des Körpers und seine Bedeutung einer ständigen Veränderung unterliegen. Der Sinn hängt sowohl von dem Ort, der Zeit und der Gruppe ab und kann nicht für immer festgeschrieben werden. Das Piercing wird sich im Laufe der Zeit immer wieder mit neuen Bedeutungen füllen. (Vgl. Zbinden 1999, S. 58)

Piercing historisch zu belegen ist insofern problematisch, als sich der menschliche Körper über die Jahre zersetzt. Nur Funde von Schmuck, Zeichnungen und später Berichte können als historische Belege dienen.

Die ältesten archäologischen Funde lassen sich bis zu 7000 Jahre zurück datieren. Funde von Ohrgehängen aus Horn und Knochen weisen auf Ohrlöcher hin, die wohl gedehnt wurden. 5000 Jahre alte Lehmfiguren aus Mesopotamien zeigen Piercings im Ohrknorpelbereich. Selbst in Ägypten waren bereits um 1400- 1300 vor Christus durchbohrte und gedehnte Ohrlöcher üblich. So bildet beispielsweise die goldene Totenmaske des berühmten Pharao Tutenchamun große Ohrlöcher ab und in seinen Grabbeigaben befinden sich schwere Goldohrringe.

In Europa gibt es nur wenige Spuren, die Piercings belegen, so eine ca. 2600 Jahre alte keltische Bronzemaske aus der Hallstattkultur, die auf beiden Seiten mehrere Ohrlöcher darstellt.

In Rom und Griechenland galt der unversehrte Körper als Ideal. Daher wurde dort das Piercing als Zeichen des Barbarentums ausschließlich zur Strafe eingesetzt oder um das Onanieren von jungen Sängern und Schauspielern zu unterbinden. Ferner diente in Rom das Piercen der Vorhaut an zwei Stellen und das Einsetzten eines Bronzerings bei den Musikern und Sklaven wohl dazu, sexuelle Übergriffe auf Herrin und Sklavinnen zu verhindern. Im Louvre in Paris soll es zwei Statuen geben, die Sklaven mit den beschriebenen Keuschheitspiercings zeigen.

Weit verbreiteter jedoch war das Piercing im vorkolumbianischen Mittelamerika. Viele spanische Eroberer berichteten im 16. Jahrhundert von blutigen Ritualen, in denen nicht permanente Piercings von Ohren, Zunge, Wangen und Genitalien vorgenommen wurden, um den Göttern Opfer darzubringen und um sich innerlich zu reinigen. Diese Praktik kann heute noch in Form von Steinreliefs bewundert werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ferner zeigen Steinskulpturen der Olmeken, einer Kultur, die über 300 Jahre zurückreicht, extrem geweitete Ohrläppchen. In Berichten über huaxetische Krieger heißt es, sie würden enorme Septumringe[7] tragen, die Zähne spitz feilen und ihre Köpfe abplatten. Dies sollte den Feind wohl einschüchtern.

Auch die Totaken, Tarasken, Zapoteken und die weithin bekannten Azteken trugen Ohrtunnel, Septumgehänge und Lippenpflöcke aus den verschiedensten und schönsten Materialien. (Laukien 2003, S. 10-17)

Im Buch sieben des Kama Sutra wird die Apadravya, was in Sanskrit „Ersatzgegenstand“ bedeutet, als Aphrodisiakum vorgestellt. Bei dem Apadravya wird die Eichel an der unteren Seite quer durch die Harnröhre durchbohrt. (Vgl. Zbinden 1998, S. 92- 93)

1.2.2. Die Entwicklung des Piecings in der westlichen modernen Gesellschaft

In der westlichen Zivilisation galten solche Eingriffe wie das Piercing lange Zeit als primitiv, und die Gesellschaft wehrte sich gegen die Modifikation des Körpers, mit Ausnahme des Korsetts im 18. und 19. Jahrhundert, welches Verformungen des Skeletts herbeiführte.

„Perkutaner Körperschmuck war absonderlich, alles andere als ästhetisch, und gerade deshalb ideal für Gruppierungen, die es ´anders´ mochten- auffällig, provokant, rebellisch“ (Feige 2004, S. 12).

So brachten die Hippies in den 60er Jahren den Ohrring von ihren Pilgerreisen nach Indien in den Westen. Auch Motorradgangs trugen zur Verbreitung innerhalb Deutschlands bei. Aber die bedeutendsten Wurzeln liegen in der Gay- Community, der SM- Szene, bei den Modern- Primitives und der Punk- Bewegung. Auf diese werde ich daher im Folgenden ausführlicher eingehen.

1.2.2.1. Die Gay- Community/ SM- Szene

Richard von Krafft- Ebbing schuf den Begriff „Sadismus“ nach dem berüchtigten Marquis de Sade (1740- 1814) und „Masochismus“ nach Leopold von Sacher- Masoch, dem Autor des Buches „Venus im Pelz“. De Sade schildert u.a. in einem seiner Romane, wie einer Madame de Mistival zur Demütigung der After zugenäht wird. (Vgl. Zbinden 1998, S. 97)

Krafft- Ebbing zufolge stellen Sadismus und Masochismus zwei Formen sexueller Perversionen dar, die besonders durch violente Elemente, worunter auch das Piercen fällt, gekennzeichnet sind.

Da beispielsweise De Sade im 18. Jahrhundert lebte, lässt sich folglich sagen, dass Piercings in der Sadomasochistischen- und der Schwulenszene schon sehr lange verbreitet sind. Die so genannten Sexpiercings, also Piercings im Intimbereich, werden bevorzugt an der Brustwarze, dem Hodensack, der Vorhaut, der Eichel, den Schamlippen oder der Klitoris angebracht. Sie werden mit dem Ziel einer sexuell stimulierenden Wirkung getragen. (Vgl. Hoffmann 2001, S. 291)

In den 20ern des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte die „London Life“ Leserbriefe über die Freuden des Piercings. (Vgl. Zbinden 1998, S. 77- 78)

Ein bedeutendes Werk stellt „Die Geschichte der O“ dar, die 1954 in Frankreich und 1967 in Deutschland veröffentlicht wurde. Die Autorin Pauline Réage schildert in ihrem Buch, wie sich die namenlose O aus Hingabe an ihren Geliebten quälen und demütigen ließ. (Vgl. Hoffmann 2001, S. 145) So wurde an ihren äußeren Schamlippen ein Ring angebracht, der nicht entfernt werden konnte und den Namen ihres Herren trug (vgl. Zbinden 1998, S. 97).

Der Schmuck wurde demnach nicht nur zur sexuellen Stimulation getragen, sondern hat auch bedeutenden symbolischen Wert. So dient der Ohrring auf der rechten Seite als Erkennungszeichen innerhalb der Schwulenszene. Die Art des Piercings signalisiert ferner, ob der Träger z.B. dominant oder devot veranlagt ist. (Vgl. Randall 1998, S. 12)

Seit den 70er Jahren erschienen immer mehr Modedesigner, die mit einem fetischistischen Stil berühmt wurden. Ein Beispiel wäre die Sex-Boutique von Vivienne Westwood. „Die Mode macht sich die perverse Erotik zu eigen und empfängt die Bilder des SM Registers“ (Zbinden 1998, S. 79).

Eine besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem Londoner Club in Soho „Skin Two“ zu, der im November 1983 eröffnet wurde. Seinen Namen verdankte er dem Szenenausdruck für Gummibekleidung, die wie eine zweite Haut an dem Körper anliegt. (Vgl. Hoffmann 2001, S. 362). In ihm trafen verschiedene Subkulturen wie Punks, Gothics, „Hardcore-´Perverse´“ (Randall 1998, S. 10), modebewusste Jugendliche und gelegentlich auch Pop-Ikonen aufeinander. Auf diesem Wege wurden SM-Piercings einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. (Vgl. Randall 1998, S. 10)

1988 brachten die Betreiber des Clubs ein gleichnamiges Magazin heraus, welches heute mit weit über 30.000 Lesern international führend und trendbestimmend in dem Bereich der Fetischmoden ist (vgl. Hoffmann 2001, S. 362). Auch Jean Paul Gaultier wurde von dem Magazin über seine Piercings und fetischistischen Neigungen interviewt (vgl. Randall 1998, S. 11). Ihm ist es in besonderem Maße zu verdanken, dass erotische Kleider aus Lack, Latex, Leder, zerrissene Jeans und das Piercing peu à peu gesellschaftsfähig wurden. Gaultier präsentierte 1993 eine Kollektion, in der er sich stark tätowierter und gepiercter Models bediente. (Vgl. Laukien 2004, S. 51- 52)

„Die fetischistische Szene hat wahrscheinlich die wichtigste und einflussreichste kulturelle Bewegung in Gang gesetzt, die je in den Clubs und auf der Straße geboren wurde. Durch die Popularität der fetischistischen Mode hat der SM Trend solchen Einfluss auf die alltäglich Kultur, dass man öfters den Eindruck bekommt, die Oberflächlichkeit triumphiert“ (Zbinden, S. 83)

1.2.2.2. Die Punks

Mitte der 70er Jahre entwickelte sich die Punk-Bewegung in Großbritannien und mit ihr das Durchstechen von Ohrläppchen, Augenbrauen und Brustwarzen mit Sicherheitsnadeln. Die Auftritte der Punk-Musikgruppe „Sex Pistols“ in der Metropole London waren der Beginn einer neuen Ära. Die Punks integrierten vieles in ihr Erscheinungsbild, so auch sadomasochistische Elemente wie Leder, Latex, Halsbänder und das Piercing. Um die Ablehnung der gesellschaftlichen Werte Ausdruck zu verleihen, wurde nicht nur die Kleidung durch Zerreißen, Zerschneiden, Durchbohren und neuem Zusammensetzten unkenntlich gemacht, sondern ebenso der Körper. Die Punks erfanden sich neu und verkehrten die gängige Definitionen von Hässlichkeit und Schönheit. Die Piercings, die an Wilde erinnerten, sollten auf ironische Weise darstellen, dass das Wilde in unserer eigenen zivilisierten Gesellschaft verborgen liegt und nicht bei den Naturvölkern.

„Der Stil ist eine gelebte Gesellschaftskritik, vorgetragen mit der Unbedingtheit und Aggressivität der Jugend und mit der Verzweiflung darüber, dass die Hoffnung auf eine große Veränderung (…) kaum eine Basis haben kann“ (Breyvogel 2005 S. 51- 52).

Das Piercing als Symbol der Rebellion hinterließ einen tiefen Eindruck, da es sich um eine scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber dem Schmerz und Selbstverstümmelung handelte.

„Indem der Punk durch Piercing seine Haut schmückt, aber auch verstümmelt und sich so stigmatisiert, macht er körperlich jenen seelischen Schmerz sichtbar, der sich mit dem Wortsinn des Begriffs punk verbindet: Abfall, Mist“ (Lotz 2001, S. 235).

Den Punks waren so manche Mittel recht, um zu provozieren. Dies geschah jedoch nicht aus einer Laune heraus, sondern aus Ängsten der Jugendlichen vor einer unsicheren Zukunft ohne Arbeit: Schlagwort „No Future“. Für die Jugendlichen bestand oft nur die Wahl zwischen einer entfremdeten Arbeit oder der Arbeitslosigkeit, verbunden mit sozialem Abstieg, der bis an das Existenzminimum führen konnte. Da diese Problematik eine ganze Generation betraf, begannen mehr und mehr Jugendliche aus Großbritannien, diesen Stil zu imitieren. Und auch vor Deutschland machte der Punk nicht halt. (Vgl. Zbinden 1999, S. 59- 61) Er trat jedoch etwas verspätet in Deutschland auf, etwa 1978/79 (vgl. Breyvogel 2005, S. 52).

Doch schon bald wurde aus der Rebellion Mode, u.a. dank Malcom McLaren, dem Manager der „Sex Pistols“. Und mit dem „coolen“ Punk-Look verbreiteten sich auch zusehends der Körperschmuck. (Vgl. Zbinden 1999, S. 63) „Aus der `schockierenden Wut` wurde `exaltierte Mode` (…)“ (Randall 1998, S. 13).

1.2.2.3. Die Modern-Primitives

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Parallel zu den Punks in Großbritannien entwickelte sich an der amerikanischen Westküste eine neue Subkultur, die Modern Primitives. Eine zuerst kleine Gruppe setzte sich von der SM-Szene in Los Angeles ab und begann alte Rituale und Körpermodifikationen der Urvölker zu imitieren, jedoch mit chirurgischen Instrumenten und Schmuck, unter sterilen Bedingungen, wie sie in Piercingstudios herrschen. Véronique Zbinden hält die Modern-Primitives-Bewegung sogar für die treibende Kraft, die für die heutige Verbreitung des Piercings verantwortlich ist.[8]

Das erste Piercing-Studio der Welt eröffnete 1975 in Los Angeles „The Gauntlet“ unter der Leitung von Jim Ward und dem Musikproduzenten Doug Malloy, beide homosexuell (vgl. Zbinden 1998, S. 70). Der Multimillionär Malloy, geboren als Richard Symington, griff bei seinem Versuch, Piercing populär zu machen zu einem unmoralischen Mittel: er erfand historische Quellen und verbreitete seine falschen Informationen in dem so bedeutenden Buch „Modern Primitives“, das erstmals 1989 veröffentlicht wurde. Die beeindruckenden Fotos und Interviews faszinierten viele, die sich daraufhin der Bewegung anschließen wollten. Dieses Buch wurde zur bedeutendsten Informationsquelle für Jugendliche.

Die raffiniert eingefügten Legenden Malloys werden auch heute noch reproduziert, so geschehen in „Jugend. Mode. Geschlecht. Die Inszenierung des Körpers in der Konsumkultur“ aus dem Jahre 2003. Hier heißt es:

„So trugen beispielsweise im alten Ägypten Damen Bauchnabelringe als Zeichen ihrer Adligkeit, die römischen Centurios Brustwarzenringe, um ihre Männlichkeit und ihren Mut zu demonstrieren, angeblich sogar auch zur Befestigung ihrer kurzen Umhänge“ (Hertrampf 2003, S. 114).

Sein Partner, Jim Ward, stellte 1975 zum ersten Mal auf industriellem Wege Piercingschmuck her, der dann zu erschwinglichen Preisen erworben werden konnte. Er erfand ebenfalls den noch immer sehr populären Ball Close Ring (BCR), einen Ring, der mit einer Klemmkugel verschlossen wird, und den Barbell, einen Stab, an dessen Enden sich Gewinde befinden, auf die Kugeln aufgeschraubt werden können. Der Schmuck konnte über den Postweg oder direkt in dem Laden erworben werden. Ferner gründete er 1978 die Fachzeitschrift „Piercing Fans International Quarterly (PFIQ)“, in der Informationen zur fachmännischen und hygienischen Anbringung eingeholt werden konnten. (Vgl. Laukien 2003, S. 46- 47)

Ein weiterer Bekannter Malloys, Alan Oversby, der sich „Mr. Sebastian“ nannte, abgeleitet von dem Heiligen Sebastian, der als Märtyrer durchbohrt von unzähligen Pfeilen starb, arbeitete im Untergrund Großbritanniens, da unter Margaret Thatcher ein Piercing-Verbot herrschte. (Vgl. Laukien 2003, S. 47) Seine Adresse war nur sehr schwer in Erfahrung zu bringen. Dies übte jedoch einen zusätzlichen Reiz auf sein Klientel aus, welches vermehrt aus der schwulen SM-Szene stammte. Marcel Feige bezeichnet ihn daher als „Vater des Piercing in England“ (Randall 1998, S. 10).

Malloy gilt als die treibende Kraft hinter der Bewegung. Er umgab sich bevorzugt mit den wenigen Gepiercten aus allen sozialen Schichten, die es zu dieser Zeit gab und die vor allem aus der Homosexuellen-/ Leder-Szene stammten.

Einer von ihnen, ein Geschäftsmann, trat unter dem Pseudonym Fakir Mustafa auf. Er gilt als der Urheber der Bezeichnung „Modern Primitives“. Die bewusste Manipulation des Körpers sollte zu einem höheren Geisteszustand führen und die Mitglieder als eine ursprüngliche, primitive Gruppe im Zeitalter der Moderne etablieren. Im zarten Altern von 13 Jahren begann er nach Studieren des National Geographic, seinen Körper massiv zu manipulieren. Diese Prozeduren mutete er seinem Körper zu, um sich eben diesem zu bemächtigen, in einer Gesellschaft, die dazu neigt, den Körper zu negieren. Fakir Mustafa wollte durch extreme Schmerzerfahrungen sein Bewusstsein verändern. Er war der Überzeugung, der allgegenwärtige Konformismus könne nur durch Modellieren und Retuschieren des eigenen Körpers überwunden werden. (Vgl. Zbinden 1999, S. 67- 70)

So kann zusammenfassend folgendes festgehalten werden :

„Die Punks drücken den Verlust der Illusionen aus, die Verzweiflung und Oberflächlichkeit dieser Welt, während die Modern Primitives die physische und psychologische Nützlichkeit der Dekorationen anpreisen. Die Punks zerschneiden selbst ihre Haut (…), durchstechen sich mit Sicherheitsnadeln und tragen stolz ihre schaurige Zierde, in Übereinkunft mit ihrer apokalyptischen Philosophie. Die Modern Primitives betonen die Metamorphose des Körpers als eine Bereicherung, eine Verschönerung und Sublimierung (…). Die Modern Primitives wollen verändern, worüber sie noch Macht haben: ihren Körper“ (Zbinden 1999, S. 75).

Der Körper eines Modern Primitives wird zu einem Kunstwerk, um dem Traum einer besseren Gesellschaft näher zu rücken (vgl. Juno 1989, S. 4).

All sensual experience functions to free us from `normal` social restraints, to awaken our deadened bodies to life. All such activity points toward goal: the creation of the `complete` or `integrated` man and woman, and in this we are yet prisoners digging an imaginary tunnel of freedom. Our most inestimable resource, the unfettered imagination, continues to be grounded in the only truly precious possession we can ever have and know, and which is ours to do with what we will: the human body” (Juno 1989, S. 5).

Die Modern- Primitives- Bewegung stieß jedoch nicht nur bei dem Durchschnittsbürger, sondern auch bei Indianerverbänden auf Ablehnung. So dürfen Suspensions in Showperformances nicht mehr als „Sun-Dance“ bezeichnet werden, da das willkürliche Aufhängen an Haken, sei es zur Unterhaltung oder als persönliche Erfahrung, nichts mit der Religion und den ursprünglichen Ritualen gemein hätte.

„Vertreter einiger Kulturen distanzieren sich heute von der willkürlichen Aneignung ihrer Bräuche durch die Weißen, die ihnen durch die (…) Kolonialgeschichte schon so viel genommen hatten“ (Laukien 2003, S. 47).

[...]


[1] Ein guten Beispiel für diesen Voyeurismus oder „Szenen-Tourismus“ liefert Oettermann in „Heavily Tattooed“. In: Kamper, D.; Wulf, Ch. (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1982.

[2] So weist Aglaja Stirn darauf hin, dass Piercings im Genitalbereich dazu dienen können, psychologisch abgespaltene Körperteile wieder in das Körperbild zu integrieren. Besonders Frauen mit sexuellen Missbrauchserlebnissen können in einem kontrollierten Setting das traumatische Erlebnis re-inszenieren und die Macht über ihren eigenen Körper zurückgewinnen. (Vgl. Stirn 2004, S. 15)

Über die Körpermodifikation wird des Weiteren eine persönliche Lebensgeschichte kommuniziert, jedoch sind die Zeichen nicht für jedes Mitglied der Gesellschaft zu decodieren.

Markierung einer bestimmten Lebensphase, Verarbeitung von Verlust, Trennung, Tod oder Trauma, Überwindung von Krankheiten, das Überleben von Unfällen, die Dokumentation von Persönlichen Einstellungen oder der psychischen Verfassung oder Gründe, die mit der Peer-Group im Zusammenhang stehen. (Vgl. ebd., S. 10)

[3] Webseite: http://www.maodes.de/erikasten/Neue_Dateien/oben.html (Stand: 30.09.2006)

Kontaktadresse: erichkasten@aol.com

[4] Weitere Formen der Körpermodifikation: Körperbemalung, Schminken, Haartracht, Veränderung des Körpergewichts, Zahnspangen, Kronen, Krafttraining, Korsetts, Saline-Injektionen, Schönheitsoperationen, Knochenveränderungen usw.

[5] Bild: Play-Piercing

<http://www.bmezine.com/ritual/A60718/high/bmepb307855.jpg> Stand: 24.08.2006

[6] Rechtliche Aspekte des Piercings

Die Tätigkeit des Piercers ist kein anerkannter Beruf, und es existiert auch keine offizielle Ausbildung. Jeder, der ein Geschäft eröffnet, darf sich Piercer nennen. Man benötigt lediglich einen Gewerbeschein, dessen Kosten sich auf etwa 15 Euro belaufen und muss regelmäßig eine Gewerbesteuer entrichten. Dennoch unterliegt dieser Berufszweig einigen gesetzlichen Vorschriften und Richtlinien.

So regelt beispielsweise Richtlinie 94/27/EG der EU die „Beschränkung des Inverkehrbringen und der Verwendung gewisser gefährlicher Stoffe und Zubereitungen“. Dort wird ausgeführt, dass nur Einsätze zugelassen sind „ (…) die homogen sind und deren Nickelkonzentration- ausgedrückt als Masse Nickel der Gesamtmasse- unter 0,05 % liegt.“ (Cullmann, 23.04.2006)

Einen weiteren wichtigen Paragraph stellt § 223 aus dem Strafgesetzbuch dar.

„§ 223 StGB Körperverletzung

Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Der Versuch ist strafbar.“ (DeJure, 23.04.2006)

Der Piercer begeht aus der rechtlichen Perspektive eine Körperverletzung, wenn er seinem Kunden ein Schmuckstück setzt. Daher muss er sich zuvor mit einer Einverständniserklärung des Kunden absichern, da eine Person nach § 228 StGB in eine Körperverletzung einwilligen kann.

Das bürgerliche Gesetzbuch definiert die Geschäftsfähigkeit. Daraus geht hervor, dass ein Minderjähriger nur teilgeschäftsfähig ist. Das Alter zwischen 14 und 18 Jahren stellt eine gewisse Grauzone dar. Zwar kann der Jugendliche frei über sein Taschengeld verfügen und selbst eine Einwilligung in die Körperverletzung erteilen, zivilrechtlich ist der Jugendliche jedoch nur beschränkt geschäftsfähig und die Eltern können gegen einen Piercer deshalb noch im Nachhinein vorgehen. Verträge mit Minderjährigen sind schwebend unwirksam. So können die Eltern das Geld für das Piercing zurückfordern und Schadensersatzansprüche gegen den Piercer geltend machen. (Vgl. Tätowiermagazin, 28.04.2006)

[7] Bild: Septumring <http://www.devilstigmatattoo.ru/piercing/nose/septum/sep26.jpg> Stand: 24.08.2006

[8] Bild: Fakir Mustafar <http://www.faheykleingallery.com/images/photographes/mustafar_f/musafar_09_bg.jpg> Stand: 25.08.2006.

Fin de l'extrait de 110 pages

Résumé des informations

Titre
Piercing in Deutschland. Eine historisch-analytische Betrachtung
Université
University of Frankfurt (Main)
Note
2
Auteur
Année
2007
Pages
110
N° de catalogue
V71929
ISBN (ebook)
9783638624114
ISBN (Livre)
9783638691802
Taille d'un fichier
927 KB
Langue
allemand
Mots clés
Piercing, Deutschland, Eine, Betrachtung
Citation du texte
Anne Schinke (Auteur), 2007, Piercing in Deutschland. Eine historisch-analytische Betrachtung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71929

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