1. Individuelle Ebene: Verfolgungsschäden
Laut einer 1961 durchgeführten Studie gab es unter den bisher untersuchten Fällen niemanden,
der die KZ-Zeit ohne eine massive psychische Dauerstörung überwunden hat. Die Umstände
der Verfolgung und ihre Spätfolgen wurden intensiv von dem Psychiater Niederland
beschrieben, der Gutachten über zahlreiche Verfolgte verfaßt hat.
Bei vielen dieser Menschen wurde von anderen Psychiatern angenommen, ihre psychischen
Probleme rührten nicht von der Verfolgung her, sondern gingen auf Dispositionen und ähnliches
zurück – beispielhaft für die in der Nachkriegszeit verbreitete Ignorierung beziehungsweise
Verdrängung der Spätfolgenthematik.
1.1 Verfolgungsbedingte Umstände
Opfer von Völkermord leben unter destruktiven und Streß verursachenden Faktoren: Zu einer
Atmosphäre der ständigen Bedrohung (akute Todesgefahr und -angst) und eines immer näher
rückenden Verhängnisses kamen die Verunsicherung aller menschlichen Bezüge und Kontakte
(Gewalt, Demütigungen, Denunziation etc.) und völlige Rechts- und Schutzlosigkeit; all
dies führte zu leiblich-seelischer Zermürbung.
Das Denken wird auf wenige Dinge zentriert (Überleben, die Antizipation der eigenen Vernichtung),
durch den massiven täglichen Druck und die unfaßbaren Erlebnisse kommt es zu
Verzweifelung, Gleichgültigkeit und Abstumpfung.
Durch die äußere Situation konnte es auch zu einer Dehumanisierung kommen: So waren zum
Beispiel Juden, die sich in einem Keller versteckten, dazu gezwungen, das eigene Kind zu
töten, wenn es einen Laut von sich gegeben hätte.
In den KZs als totalen Institutionen wurde die Identität der Verfolgten zerstört, zudem
herrschten Hunger, mangelnde Hygiene sowie mangelnde körperliche und seelische Sicherheit.
[...]
Inhaltsverzeichnis
- I. Der Holocaust
- 1. Individuelle Ebene: Verfolgungsschäden
- 1.1 Verfolgungsbedingte Umstände
- 1.2 Folgen der Verfolgung
- 2. Interpersonelle Ebene: Der Holocaust im familiären Diskurs
- 2.1 Umgang mit der Vergangenheit
- 2.2 Psychische Störungen als Reaktion auf die Vergangenheit
- 3. Gesellschaftliche Ebene: Diskursveränderungen nach dem Holocaust
- 3.1 Die Diskursentwicklung in Israel und Deutschland
- 3.2 Der Stellenwert der Shoah
- 3.3 Auswirkungen auf die jüdische Identität
- II. Der Völkermord an den Aché in Paraguay
- 1. Geschichte der Verfolgung
- 2. Das Leben im Reservat
- 2.1 Lebensbedingungen
- 2.2 Schritte der Zerstörung des individuellen und kulturellen Selbstbewußtseins der Aché
- 3. Verarbeitung der Zerstörung der Lebenswelt der Aché in Liedern
- III. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit untersucht die Auswirkungen von Völkermorden auf das individuelle und gesellschaftliche Bewusstsein. Sie beleuchtet zwei Fallbeispiele: den Holocaust und den Völkermord an den Aché in Paraguay. Die Arbeit analysiert die Folgen der Verfolgung für die Betroffenen und die Auswirkungen auf ihre Identität und Lebenswelt.
- Die Folgen von Völkermorden auf das individuelle psychische Befinden
- Die Rolle des Familien- und Gesellschaftsdiskurses in der Verarbeitung von Traumata
- Die Auswirkungen von Verfolgung auf die Identität von Einzelnen und Gruppen
- Die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung von Erinnerung und Bewältigung
- Der Vergleich von unterschiedlichen Formen des Völkermords und ihrer Folgen
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beschäftigt sich mit den Folgen des Holocaust auf der individuellen Ebene. Es analysiert die Auswirkungen der Verfolgung auf die Psyche von Überlebenden, die Entstehung von psychischen Störungen sowie die Folgen für die soziale Integration. Dabei wird auf die Erkenntnisse des Psychiaters William G. Niederland Bezug genommen, der in seiner Arbeit „Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom“ die Auswirkungen des Holocausts auf die Psyche von Überlebenden untersucht.
Das zweite Kapitel beleuchtet den Völkermord an den Aché in Paraguay. Es behandelt die Geschichte der Verfolgung, die Lebensbedingungen der Aché im Reservat und die Auswirkungen der Zerstörung ihrer Lebenswelt auf ihre kulturelle Identität. Besonderes Augenmerk wird auf die Bedeutung von Liedern als Mittel zur Verarbeitung von Trauma und Verlust gelegt.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Themen Völkermord, Trauma, Verfolgung, Identität, Kultur, Diskurs, Erinnerung, Bewältigung, Holocaust, Aché, Paraguay, psychische Störungen, Überlebenden-Syndrom, Seelenmord.
- Quote paper
- M.A. Marion Näser (Author), 2002, Nach dem Völkermord - Implementierung der Katastrophe im Bewußtsein, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7238