Nach dem Völkermord - Implementierung der Katastrophe im Bewußtsein


Dossier / Travail, 2002

16 Pages, Note: 2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Der Holocaust
1. Individuelle Ebene: Verfolgungsschäden
1.1 Verfolgungsbedingte Umstände
1.2 Folgen der Verfolgung
2. Interpersonelle Ebene: Der Holocaust im familiären Diskurs
2.1 Umgang mit der Vergangenheit
2.2 Psychische Störungen als Reaktion auf die Vergangenheit
3. Gesellschaftliche Ebene: Diskursveränderungen nach dem Holocaust
3.1 Die Diskursentwicklung in Israel und Deutschland
3.2 Der Stellenwert der Shoah
3.3 Auswirkungen auf die jüdische Identität

II. Der Völkermord an den Aché in Paraguay
1. Geschichte der Verfolgung
2. Das Leben im Reservat
2.1 Lebensbedingungen
2.2 Schritte der Zerstörung des individuellen und kulturellen Selbstbewußtseins der Aché
3. Verarbeitung der Zerstörung der Lebenswelt der Aché in Liedern

III. Fazit

Literaturverzeichnis

I. Der Holocaust

1. Individuelle Ebene: Verfolgungsschäden

Laut einer 1961 durchgeführten Studie gab es unter den bisher untersuchten Fällen niemanden, der die KZ-Zeit ohne eine massive psychische Dauerstörung überwunden hat.[1] Die Umstände der Verfolgung und ihre Spätfolgen wurden intensiv von dem Psychiater Niederland beschrieben, der Gutachten über zahlreiche Verfolgte verfaßt hat.[2]

Bei vielen dieser Menschen wurde von anderen Psychiatern angenommen, ihre psychischen Probleme rührten nicht von der Verfolgung her, sondern gingen auf Dispositionen und ähnliches zurück – beispielhaft für die in der Nachkriegszeit verbreitete Ignorierung beziehungsweise Verdrängung der Spätfolgenthematik.[3]

1.1 Verfolgungsbedingte Umstände

Opfer von Völkermord leben unter destruktiven und Streß verursachenden Faktoren: Zu einer Atmosphäre der ständigen Bedrohung (akute Todesgefahr und -angst) und eines immer näher rückenden Verhängnisses kamen die Verunsicherung aller menschlichen Bezüge und Kontakte (Gewalt, Demütigungen, Denunziation etc.) und völlige Rechts- und Schutzlosigkeit; all dies führte zu leiblich-seelischer Zermürbung.[4]

Das Denken wird auf wenige Dinge zentriert (Überleben, die Antizipation der eigenen Vernichtung), durch den massiven täglichen Druck und die unfaßbaren Erlebnisse kommt es zu Verzweifelung, Gleichgültigkeit und Abstumpfung.[5]

Durch die äußere Situation konnte es auch zu einer Dehumanisierung kommen: So waren zum Beispiel Juden, die sich in einem Keller versteckten, dazu gezwungen, das eigene Kind zu töten, wenn es einen Laut von sich gegeben hätte.[6]

In den KZs als totalen Institutionen wurde die Identität der Verfolgten zerstört, zudem herrschten Hunger, mangelnde Hygiene sowie mangelnde körperliche und seelische Sicherheit.[7]

1.2 Folgen der Verfolgung

Gelingt den Opfern die Flucht, kann es zu Entwurzelungs- und Umstellungsdepressionen kommen.[8] Auch äußere begleitende Faktoren, wie sozialer Abstieg, Zerreißen der Familienbande, Tod von Familie und Freunden können zu Depressionen, Ängsten, sowie seelischen und psychosomatischen Krankheitszuständen führen.[9]

Sehr häufig kam es bei den von Niederland untersuchten Patienten zu chronischen, therapeutisch wenig beeinflußbaren Beschwerden und gravierenden Veränderungen der sozialen Persönlichkeit.[10] Am häufigsten traten neurotische und depressive zusammen mit psychosomatischen Symptomen sowie Infantilisierung vor allem auf emotionaler Ebene auf.[11]

Niederland erklärt die Befunde damit, daß die traumatischen Kindheitserlebnisse und Ängste ins Unterbewußtsein absinken und Reifungsprozesse ungünstig beeinflussen beziehungsweise sogar einen nachweisbaren Stillstand in der seelisch-geistigen Entwicklung herbeiführen können.[12]

Oft fand er apathisches und ruhiges Auftreten als Abwehrmechanismen gegen die Angst,[13] aber auch entgegensetzte Handlungstendenzen wie zum Beispiel das Bedürfnis zur Aktivität und Lärmverursachung bei einem Jungen, der sich oft verstecken und still sein mußte.[14]

Eine häufige Spätfolge ist starke Verfolgungsangst.[15] Die während der Verfolgung oftmals fortwährend erfahrene physische Mißhandlung (Aufenthalt in KZs etc.) löst permanenten Vertrauensverlust und eine tiefsitzende Angst vor Menschen aus;[16] oft besitzen die Verfolgungsopfer daher wenig oder kein Selbstvertrauen, neigen dazu, Streit zu vermeiden und zeigen ein angepaßtes, unauffälliges Verhalten (zum Beispiel wagte ein Patient es nicht, anderen zu widersprechen).[17]

Mißtrauen, Furcht und Argwohn beherrschen die gesamte Gefühls- und Gedankenwelt, oft treten phobische Erscheinungen wie plötzliches Zusammenschrecken beim Hören der Klingel oder Anblick uniformierter Menschen auf.[18]

Ein besonderes Phänomen ist die sogenannte Hypermnesie, ein überscharfes, mit starkem Affekt geladenes Erinnerungsvermögen an die traumatischen Verfolgungserlebnisse, das mit einer Beschädigung des Zeitsinnes einhergehen kann (die Chronologie der Erinnerungen kann fehlerhaft, die Zuverlässigkeit der Betreffenden eingeschränkt sein etc.).[19]

Bei einem Patienten waren starke Abhängigkeiten zur Mutter vorhanden, die auf frühere traumatische Trennungen zurückzuführen waren.[20] Zudem vermied er Angst durch minimale affektive Involviertheit, zeigte keine Spontaneität und litt unter Kontaktarmut sowie einem Mangel an Selbstvertrauen als Folgen eines Schock- und Streß-Traumas beziehungsweise Kombination eines akuten und chronischen Belastungssyndroms.[21]

Oft waren die Patienten aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr fähig, ein normales Leben zu führen, da sie im Umgang mit Menschen sowie der Organisation von Tätigkeiten große Schwierigkeiten hatten; dies führte bei zahlreichen Geschädigten zur äußeren und inneren Vereinsamung und Isolierung.[22]

All diese Symptome wirken sich auch auf nachfolgende Generationen aus, der Streß der Eltern überträgt sich auf die Kinder, die Verfolgung und der Haß auf die Verfolger werden zu einem Teil ihrer Identität; manche Nachkommen leiden daher unter dem Leben im Land der Täter.[23]

[...]


[1] Niederland, William G.: Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord. Frankfurt 1980, S. 22. Im Folgenden zitiert als: Niederland, Folgen der Verfolgung.

[2] Niederland, Folgen der Verfolgung.

[3] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 7-9, S. 19.

[4] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 10.

[5] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 15.

[6] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 12f.

[7] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 10-12.

[8] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 16, S. 40f.

[9] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 16.

[10] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 16f.

[11] Niederland, Folgen der Verfolgung, zum Beispiel S. 43-45.

[12] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 30.

[13] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 31f.

[14] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 13f.

[15] Niederland, Folgen der Verfolgung, zum Beispiel S. 101f.

[16] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 39-42.

[17] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 31.

[18] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 31, S. 230.

[19] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 69, S. 230f.

[20] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 33f.

[21] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 35f, S. 41.

[22] Niederland, Folgen der Verfolgung, zum Beispiel S. 57-59, S. 71, S. 129f.

[23] Niederland, Folgen der Verfolgung, S. 17f.

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Nach dem Völkermord - Implementierung der Katastrophe im Bewußtsein
Université
University of Marburg  (Institut für Völkerkunde)
Cours
SE Weltuntergägne und Endzeiterwartungen im Kulturvergleich
Note
2
Auteur
Année
2002
Pages
16
N° de catalogue
V7238
ISBN (ebook)
9783638145565
Taille d'un fichier
431 KB
Langue
allemand
Mots clés
Völkermord Aché Holocaust
Citation du texte
M.A. Marion Näser (Auteur), 2002, Nach dem Völkermord - Implementierung der Katastrophe im Bewußtsein, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/7238

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