Die grundlegenden Aussagen der Richtlinien und Lehrpläne fordern neben der „Vermittlung fachlicher Grundlagen“ vor allem die Erziehung der Schülerinnen und Schüler zu mündigen Bürgern, die befähigt sind zur „aktiven Mitwirkung am Leben in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen“. Entgegen den Konzeptionen des reproduktiven Lernens geht die neuere Geschichtsdidaktik davon aus, dass die Zielsetzung der individuellen Mündigkeit nur dann erreicht werden kann, wenn den Schülerinnen und Schülern eine individuelle Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lerngegenständen zugestanden wird und sie so ihre jeweils eigenen historischen Wirklichkeitskonstruktionen entwickeln können. Diese Aufforderung deckt sich nicht nur mit den Anforderungen der Richtlinien für Schule und Unterricht, sondern auch mit den Überzeugungen der pädagogischen Forschung.
Die Schülerinnen und Schüler müssen innerhalb des schulischen Unterrichts aufgefordert werden, in den gesamtgesellschaftlichen Urteilsbildungsprozess einzutreten, denn sie werden in der Zukunft aufgefordert sein, das „Tradierte selbständig, in eigener Verantwortung und unter Berücksichtigung im Einzelnen nicht vorhersehbarer Situationen zu verwalten, zu interpretieren und zu verteidigen.“
Blickt man auf neuere Untersuchungen bezüglich des Urteilsverhaltens zeigt sich jedoch, dass die Lernenden häufig zu unreflektierten und subjektivistisch gefassten Spontanurteilen bezüglich historischer Tatsachen neigen und den jeweiligen Urteilsbildungsprozess und dessen Bedingungen und Begrenztheiten nur unbewusst durchlaufen. Auf der Grundlage derart diffus gefasster Urteile lässt sich nur schwer ein begründetes und individuelles historisches Verständnis entwickeln, welches als tragfähige und fundierte Grundlage eines Gegenwartsverständnisses gelten kann, welches seinerseits in der Lage ist, die bestehenden gesellschaftlichen- sozialen und politischen Kräftefelder verantwortbar zu bewerten und weiterzuentwickeln.
In der vorliegenden Arbeit wird der Überlegung nachgegangen, wie es gelingen kann, die subjektivistischen Einzelaussagen der Lernenden innerhalb des Geschichtsunterrichts in den Stand kritisch-reflektierter, begründeter, objektivierter und damit kommunizierbarer Bewertungen historischer Sachverhalte zu überführen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Anspruch und Realität
- 2.1 Richtlinien und Lehrpläne
- 2.2 Konflikte praktischer Arbeit
- 3. Multiperspektivität
- 3.1 Vorbemerkungen
- 3.2 Eine theoretische Annäherung
- 3.2.1 Die Perspektivität
- 3.2.2 Die Rekonstruktion
- 3.2.3 Der Urteilsbildungsprozess
- 3.2.4 Gesamtaussage und Diskussion
- 3.2.5 Zur Effizienz der Konzeption
- 4. Praxis durch Theorie
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit analysiert die Rolle der Multiperspektivität in der Geschichtsdidaktik und deren Beitrag zur Entwicklung eines verantwortungsvollen Urteilsbildungsprozesses bei Schülerinnen und Schülern.
- Die Bedeutung von multiperspektivischer Geschichtsvermittlung für die Entwicklung eines fundierten und differenzierten historischen Verständnisses
- Die Herausforderungen der Umsetzung des Konzepts der Multiperspektivität in der Praxis des Geschichtsunterrichts
- Der Zusammenhang zwischen multiperspektivischer Geschichtsvermittlung und der Förderung der Mündigkeit und Urteilsfähigkeit von Lernenden
- Die Rolle von Richtlinien und Lehrplänen in der Gestaltung eines multiperspektivischen Geschichtsunterrichts
- Die Analyse des aktuellen Lehrbuchmarktes hinsichtlich der Rezeption und Umsetzung des Konzepts der Multiperspektivität.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Grundaussagen der Richtlinien und Lehrpläne vor, die die Erziehung zu mündigen Bürgern im Vordergrund sehen. Die Bedeutung der individuellen Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen und der Entwicklung individueller historischer Wirklichkeitskonstruktionen wird betont. Die Arbeit will untersuchen, wie es gelingen kann, die subjektivistischen Einzelaussagen der Lernenden in kritisch-reflektierte Bewertungen historischer Sachverhalte zu überführen.
Das zweite Kapitel untersucht die Ansprüche des Geschichtsunterrichts aus der Sicht der Richtlinien und Lehrpläne. Die Arbeit stellt heraus, dass die Befähigung zur Urteilsfindung in sozialer Verantwortung auf einem elementaren Basiswissen aufbauen muss. Dabei wird die Bedeutung des kritisch-kommunikativen Unterrichts im Hinblick auf die Anforderungen der Richtlinien und Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe betont.
Kapitel drei widmet sich dem Konzept der multiperspektivischen Geschichtsvermittlung. Es wird die theoretische Annäherung an das Konzept der Perspektivität, der Rekonstruktion und des Urteilsbildungsprozesses vorgestellt. Die Arbeit beleuchtet die Effizienz der Konzeption der Multiperspektivität und die Bedeutung der Vermittlung dieses Ansatzes als Instrumentarium selbständigen Denkens und Handelns für Schülerinnen und Schüler.
Schlüsselwörter
Multiperspektivität, Geschichtsdidaktik, Urteilsbildung, Richtlinien und Lehrpläne, Mündigkeit, historische Wirklichkeitskonstruktionen, Praxis, Theorie, Unterrichtskonzept, Lehrbücher, Reflektierte Bewertung, Kommunikation, Lernprozess
- Arbeit zitieren
- Reinhard Keßler (Autor:in), 2005, Multiperspektivität als Voraussetzung verantwortbarer Urteilsbildung , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75338