Weiblichkeitsentwürfe und empfindsame Moral in G.E. Lessings "Miß Sara Sampson" und "Emilia Galotti"


Tesis de Maestría, 2006

104 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I. Prolog
1. Thematik und Zielsetzung
2. Methode und Aufbau

II. Hauptteil
1. ‚Tugend’ und ‚Moral’ im 18. Jahrhundert
1.1. Der Tugendbegriff in Frühaufklärung und Empfindsamkeit
1.2. Die Korrelation von ‚Geschlecht’ und ‚Moral’
1.3. Die ‚tugendhaften’ Töchter
1.3.1. „So ist die Tugend ein Gespenst“ (S.S.: I, 7; S. 15):
Saras Tugendrigorismus
1.3.2. „Ich stehe für nichts“(E.G.: V 7; S. 85):
Emilias Bekenntnis zur Verführbarkeit
1.4. Die ‚lasterhaften’ Geliebten
1.4.1. „Ich bin eine nichtwürdige Verstoßene, […].“(S.S.: IV, 6; S. 66):
Marwoods Intrige
1.4.2. „Wie kann ein Mann ein Ding lieben, das ihm zum Trotze, auch denken
will?“(E.G.: IV, 3; S. 61): Orsinas Stigmatisierung als ‚Verrückte’
2. Die Familie im 18. Jahrhundert
2.1. Die Struktur der Familie in Frühaufklärung und Empfindsamkeit
2.2. Die Relevanz der Frau im patriarchalischen Familiengefüge
2.3. ‚Vater’ und ‚Familie’ in Lessings theoretischen Schriften
2.4. Die Väter- Töchter- Beziehungen
2.4.1. „Er ist noch der zärtliche Vater?“(S.S.: III, 3; S. 42):
Sara und William Sampson
2.4.2. „Solcher Väter gibt es keinen mehr“ (E.G.: V, 8; S. 86):
Emilia und Odoardo Galotti
2.5. Die Gruppe der Mütter
2.5.1. „-Gott! ich ward eine Muttermörderin […]!“(S.S.: IV, 1; S. 57):
Die Absenz der Mutter
2.5.2. „Soll ich umsonst Mutter sein?“ (S.S.: II, 4; S. 28):
Marwoods Mutterschaft
2.5.3. „- Ich unglückselige Mutter!“ (E.G.: III, 8; S. 53):
Claudia als Mediatorin zwischen höfischer und familialer Lebenswelt

III. Epilog
1. Resümee der literarischen Weiblichkeitskonzepte
2. Historische Weiblichkeitskonzepte in Frühaufklärung und Empfindsamkeit
3. Abschließender Vergleich

Literaturverzeichnis

I. Prolog

1. Thematik und Zielsetzung

Der Titel meiner Magisterarbeit lautet „Weiblichkeitsentwürfe und empfindsame Moral in G. E. Lessings ‚Miß Sara Sampson’ und ‚Emilia Galotti’ “. Das von mir intendierte Ziel besteht darin, mittels einer Analyse der Trauerspiele bestimmte literarische Weiblichkeitskonzepte abzuleiten und mit Hilfe historischer und soziologischer Ergebnisse auf die Problemstellung einzugehen, inwiefern diese Weiblichkeits-konzepte mit der historischen Realität kongruent sind oder nicht. Etwas profan ausgedrückt könnte man formulieren: Stehen die von Lessing dargestellten Frauenbilder im Einklang mit dem allgemeinen Geschlechterverständnis des 18. Jahrhunderts oder antizipiert Lessing eine modernere Auffassung bezüglich der Rolle der Frau? Diese Frage stellt sich meines Erachtens zu Recht, denn als Dramatiker der Aufklärung vertrat Lessing jene vernunftorientierten Maximen, die den ‚Menschen’ in den Vordergrund stellten und nicht dessen Geschlecht. Führt man diesen Gedankengang konsequent weiter, gelangt man zu den neueren feministischen Theorien und den von ihren Vertretern geforderten Egalitätsbestre-bungen, deren wichtigste Prämisse analog zu Lessings humaner Einstellung darin bestand, dass „all of us, men as well as women should be regarded as human beings.”[1] Dass Lessing in seinen Dramen nicht die Theorien der modernen ‚Women’s Studies’ oder ‚Gender Studies’[2] antizipierte, bzw. antizipieren konnte, versteht sich von selbst. Wenn ich im Folgenden den Begriff ‚Emanzipation’ verwende, ist dieser nicht im Sinne gegenwärtig geführter Debatten zu verstehen, sondern muss als eine Anerkennung und Aufwertung der weiblichen Sphäre, bzw. einer partiellen Loslösung von dem traditionell vorherrschenden Frauenbild des 18. Jahrhunderts begriffen werden.

Für die Beantwortung der oben angeführten Frage besitzt zum einen der Diskurs über Tugend und Moral und die sich im Zuge der Empfindsamkeit konstituierende Korrelation zwischen Tugendhaftigkeit und weiblicher Unschuld Relevanz. Zum anderen ist die Frage nach der vorherrschenden Familienstruktur des 18. Jahrhunderts und der Funktion, die der Frau innerhalb dieses Systems zufiel, bedeutsam, da sie sich als aussagekräftiger Indikator für das Verhältnis zwischen Vätern und Töchtern, bzw. Ehegatten und Ehefrau erweist.

2. Methode und Aufbau

Meine Magisterarbeit geht von der Prämisse aus, dass der Zusammenhang zwischen der sozialen Struktur einer Zeit und den in der Literatur abgebildeten Sozialstrukturen nicht als eindeutiges Kausalverhältnis aufgefasst werden kann und darf. Es ist vielmehr anzunehmen, dass ein weniger direktes Verhältnis zwischen literarischer Darstellung und historisch- sozialen Fakten eines Denk, bzw. Literatursystems besteht. Eine vollständige und idealtypische Kongruenz zwischen historischem Basiswissen und literarischem Überbau muss negiert werden. Die den Trauerspielen immanenten sozialen Strukturen und moralischen Kategorien müssen interpretiert werden, ohne zwangsläufig ein schlüssiges Deduktionsverhältnis zur historisch realen Sozialgeschichte herzustellen. Es sei hier darauf verwiesen, dass die zu untersuchenden Stücke und die in ihnen vertretenen Figuren keine vollständige mimetische Abbildung der historischen Realität darstellen. Die Weiblichkeitsentwürfe in Lessings Stücken müssen vielmehr als Konglomerat unterschiedlichster Einflüsse verstanden werden, als ein differenziertes System gegenseitiger Beeinflussung und Veränderung, in dem beispielsweise auch Lessings dramentheoretische Überlegungen für die Konzeptualisierungen seiner Figuren Relevanz besitzen. Für meine Untersuchungen ist es daher notwendig, auf der einen Seite Lessings theoretische und konzeptuelle Überlegungen einzubinden und andererseits die historisch-reale Situation zu thematisieren, um anschließend aufzuzeigen, inwiefern die literarische Darstellung in Lessings Trauerspielen von der historischen Realität divergiert, bzw. welche Teilbereiche er übernommen hat.

Meine Magisterarbeit gliedert sich dafür in Prolog, Hauptteil und Epilog. Im Prolog stelle ich Thematik und intendierte Zielsetzung vor und verdeutliche die textanalytische Arbeitsmethode und den Aufbau dieser Arbeit. Anschließend folgt mein Hauptteil, welcher sich in zwei Themenkomplexe teilt, anhand derer sich die von Lessing illustrierten literarischen Weiblichkeitskonzepte am sinnvollsten ableiten lassen: In den Komplex ‚Tugend und Moral im 18. Jahrhundert’ und in den Komplex ‚Familie im 18. Jahrhundert’. Die werkimmanenten Interpretationen, die dem ersten Teil folgen, beziehen sich auf die Gruppe der ‚tugendhaften’ Töchter und die Gruppe der ‚lasterhaften’ Geliebten. Die vorangehenden historischen Darlegungen über den Tugendbegriff in Frühaufklärung und Empfindsamkeit sowie der Korrelation von ‚Geschlecht’ und ‚Moral’ veranschaulichen die Fakten der sozialen und gesellschaftlichen Realität.

Der zweite Teil ist ähnlich strukturiert: Auf die soziologische Darstellung der Familie in Frühaufklärung und Empfindsamkeit folgt die Betrachtung der Relevanz der Frau innerhalb des patriarchalischen Familiengefüges. Des Weiteren erläutere ich anhand von Lessings theoretischen Schriften und Briefen dessen Auffassung zu Familie, um die beiden Stücke anschließend unter dem Aspekt patriarchalischer Familienordnung zu interpretieren.

Im Epilog fasse ich die von mir eruierten literarischen Frauenbilder zusammen und lege die in der Frühaufklärung und Empfindsamkeit konstitutiven historischen Weiblichkeitskonzepte dar. Ich beende meine Magisterarbeit mit einem abschließenden Vergleich, der v.a. auf die Frage rekurriert, ob Lessings Weiblichkeitsentwürfe im Einklang mit dem allgemeinen Geschlechterverständnis des 18. Jahrhunderts stehen oder ob er eine Konzeptualisierung modernerer Weiblichkeitsimagines antizipierte.

II. Hauptteil

1. ‚Tugend’ und ‚Moral’ im 18. Jahrhundert

1.1. Der Tugendbegriff in Frühaufklärung und Empfindsamkeit

Die Betrachtung des Tugendbegriffs in der frühen Aufklärung expliziert, dass sich das Subjekt (ergo Mann und Frau) in dieser Phase allein über seine Rationalität definierte, welche mit deistischer Religiosität und ‚Tugendhaftigkeit’, d.h. der Einhaltung tradierter Normen äquivalent gesetzt wurde. Normverstöße wie falscher Glaube oder die Verletzung des moralischen Sittenkodex erschienen als schlicht ‚unvernünftig’, wobei zwei Klassen von Normverletzungen zu differenzieren waren: reversible, auf Irrtum beruhende, Fehler und irreversible, die faktische Verletzung zentraler Normen betreffende Fehler (z.B. voreheliche Liebesbeziehungen). Michael Titzmann argumentiert in diesem Zusammenhang, dass aus diesen Prämissen heraus eine Dichotomisierung der Weltstruktur resultiere, in der es nur zwei mögliche Zustände gäbe. In Bezug auf den Moralbegriff bedeute dies entweder ‚Tugend’ (=Normerfüllung) oder Nicht- ‚Tugend’ (= ‚Fehler’ oder ‚Laster’).[3][4]

Tugend musste im weitesten Sinne als Ausdruck eines internalisierten Wertesystems verstanden werden, während der damit zusammenhängende Begriff der Moral die eigentliche Wertekategorie darstellte, nach der einzelne Handlungen bewertet wurden.[5] Sie wurde als eine Eigenschaft verstanden, die v.a. durch Vernunft definiert war und ohne ein Mindestmaß an Bildung nicht auskommen konnte. Der vorherrschende Rationalismus der Aufklärung begründete Tugend auf Vernunft und setzte die Begriffe nahezu gleich, so dass die tugendhaften Charaktere als Vertreter des gesunden Menschenverstandes und die ‚Lasterhaften’ als unvernünftig verstanden wurden.

Tugend und Moral waren in der frühen Aufklärung ergo keine spezifisch weiblichen Eigenschaften, sondern Eigenschaften, durch die sich der vernunftbegabte, aufgeklärte Mensch definierte.[6] Christian Franz Paullini erörterte in seinem Werk „Das Hoch- und Wohlgelehrte Teutsche Frauen-Zimmer“ (1705) die „ohne Fug in Zweifel gezogene Frage: Ob nemlich das Weibliche Geschlecht am Verstand dem Männlichen von Natur gleich / auch/ zu Verrichtung Tugendsamer Wercke und Thaten/ ebenmäßig fähig und geschickt sey.“[7] und kam zu dem Ergebnis, dass die Natur nicht zwischen den Geschlechtern divergiere, folglich beide Geschlechter zu Tugend und Weisheit gleichermaßen fähig seien. Die daraus resultierende neue Stellung der Frau als weibliche Gelehrte sollte sich in ihrer Tugend, für die das Wissen moralphilosophisch als Grundbedingung erachtet wurde, ausdrücken. Diese neue Korrelation von Verstand und Tugend stellte den Versuch dar, den neuen Typus vor Spott und geistlicher Kritik zu bewahren. Letztlich diente sie jedoch einzig der Förderung weiblicher Dienstbarkeit zu Gunsten des Mannes.[8]

Im Zuge der empfindsamen Strömung[9] wurden partielle Änderungen in Bezug auf den Tugend- und Moralbegriff evident. Das moralische Wertesystem errichtete im Zuge der Empfindsamkeit immer strenger werdende Sexualordnungen nicht nur im Familienkreis, sondern auch in der Gesellschaft, die Sittenverstöße mit zahlreichen Tabus und scharfer Gesetzgebung ahndete.

War die Moral in der Frühaufklärung noch eine für Männer und Frauen gleichermaßen geforderte gesellschaftliche Eigenschaft, lässt sich im Zuge der sich entwickelnden empfindsamen Bewegung der Wandel des Tugendbegriffs zu einer moralischen Kategorie konstatieren, welche eng mit weiblicher Unschuld korreliert wurde. Diese Änderung war u.a. das Resultat eines Paradigmenwechsels von der gelehrten und gesellschaftlich aktiven hin zur passiven, empfindsamen Frau mitsamt ihrer Zurückdrängung in den privaten Raum der Familie.

1.2. Die Korrelation von ‚Geschlecht’ und ‚Moral’

Wie bereits evident geworden sein dürfte, sind die Begriffe ‚Geschlecht’ und ‚Moral’ unmittelbar miteinander korreliert. Sie lassen sich nicht ohne einander denken: Auf der einen Seite finden sich die dem Geschlechterbegriff zugeschriebenen Rollenbilder, die aus den psychischen und physiologischen Erwartungshaltungen sowie aus den konventionellen- teils klischeehaften- Vorstellungen der entsprechenden Zeit resultieren. Auf der anderen Seite findet sich die ‚Moral’, die sich insbesondere im 18. Jahrhundert in paradigmatischer Weise als ein Konstrukt von Tugend und Laster definieren lässt. Wenn ich mich im Folgenden mit der Korrelation von ‚Geschlecht’ und ‚Moral’ beschäftige, gehe ich dabei vorwiegend auf den Zusammenhang von ‚Weiblichkeit’ und ‚Tugend’ ein. Gründe dafür liegen v.a. in einer Neudefinition des Tugendbegriffs. Wie bereits angedeutet war jener in der Frühaufklärung noch eine gesellschaftlich gefasste Eigenschaft, die für Männer und Frauen gleichermaßen gefordert wurde. Im weiteren Verlauf der Aufklärung und in der Phase der Empfindsamkeit verengte er sich jedoch zu einer moralischen Kategorie, so dass der Begriff ‚Tugend’ schließlich immer stärker mit sexueller Moral, respektive weiblicher Unschuld korreliert wurde. Karin Wurst argumentiert in diesem Zusammenhang, dass das Beiprodukt eines restriktiven Tugend- und Moralverständnisses die „Verteufelung der Sinne“ sei und zumeist an der Unterdrückung der Sexualität oder am Beispiel der Frau vorgeführt würde.[10] Aus diesem Grund halte ich es für sinnvoll, zunächst auf die sexuelle Moral vor dem Einfluss der Empfindsamkeit einzugehen und anschließend die sexuelle Moral während der empfindsamen Bewegung zu fokussieren. Es sei dabei zwischen der sexuellen Moral in der Ehe und der vorehelichen Sexualmoral differenziert.[11] Die rationalistisch- bürgerliche Moral der Aufklärung verstand Sexualität im Allgemeinen als beunruhigend und bedrohlich. Michel Foucault beschreibt dies in seinem Werk „Sexualität und Wahrheit“ (1977) wie folgt:

„Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich das Schweigen.“[12]

Aus diesem Grund wurde jeglicher geschlechtliche Umgang verurteilt, der nicht durch die Ehe legitimiert war, und es wurde sowohl von den unverheirateten Männern als auch von den Frauen Keuschheit und geschlechtliche Unberührtheit gefordert. Hier wurde jedoch eine doppelte Moral zwischen Mann und Frau evident: Die Forderung nach vorehelicher geschlechtlicher Enthaltsamkeit bezog sich vornehmlich auf die weiblichen Gesellschaftsmitglieder, bei ihnen stand die Forderung nach der Frau als ‚virgo intacta’ im Vordergrund. Die Absolutheit, mit der voreheliche Keuschheit gefordert wurde und die Rigorosität, mit der ein Verstoß gegen dieses Gebot geahndet wurde, zeugt davon, dass weiblicher Unschuld im System der bürgerlich-rationalistischen Moral signifikante Bedeutung zukam. Die vorherrschende Auffassung, in der weiblichen Unschuld repräsentiere sich ihr sittlicher Wert, hatte zur Folge, dass der Verlust ihrer Tugend gleichbedeutend mit dem Verlust jeglichen sittlichen Wertes war. Der vorehelicher Verlust weiblicher Unschuld bedeutete wiederum, dass die ‚gefallene’ Frau in der Gesellschaft nicht mehr heiratsfähig war, ausgenommen ihr Verführer erklärte sich zu einer Heirat bereit. Insgesamt lässt sich konstatieren, dass die Prinzipien, die auf eine Reglementierung der vorehelichen Sexualmoral fokussierten, auf den Grundgedanken der bürgerlichen Moral rekurrierten: Auf die Unterwerfung der als ordnungswidrig und bedrohlich empfundenen sexuellen Kräfte unter das Gebot einer von der Gesellschaft festgelegten Ordnung.

Eine Untersuchung der vorehelichen Sexualmoral während der empfindsamen Strömung indiziert partiell eine gewisse ‚Aufweichung’ der vormals rigorosen bürgerlichen Moralauffassung. Das Vergehen selbst erfuhr eine differenzierte Bewertung, was u.a. auf die veränderte moralische Einstellung des patriarchalischen Hausvaters zurückzuführen war.[13] Ein Fehltritt wie beispielsweise die voreheliche Verführung erhielt insgesamt weniger Gewicht, da er aus Sicht des positiv zu bewertenden Gefühls gemessen wurde und weniger am Maßstab einer objektiven von Familie und Gesellschaft repräsentierten Ordnung. In der empfindsamen Sexualethik deutete sich durch die nachsichtigere Beurteilung sexueller Verfehlungen die Tendenz zur Aufhebung jener doppelten Moral an, wie sie in der rationalistisch- bürgerlichen Sittlichkeitsauffassung zu finden war. Es blieb allerdings trotz der neuen sensitiven Gefühlskultur lediglich bei der Tendenz, denn auch die empfindsame Moral beurteilte Verfehlungen von Frauen durchweg ernster als von Männern. Besonders evident wurde dies an der Literatur, die nahezu nur Normverstöße von weiblichen Figuren darstellte, während entsprechende Fehltritte des Mannes kaum behandelt wurden. Besonders signifikant wird dies anhand der bürgerlichen Trauerspiele Lessings und Schillers, in denen der Diskurs über weibliche Unschuld zum bestimmenden Merkmal dieser Gattung wurde. Die Thematik kreist dabei fast immer um die durch Verführung oder vermeintliche Verführung bedrohte Unschuld der Frau und die Konfrontation von ‚Tugend’ und ‚Laster’, was ich im Folgenden anhand der von mir zu untersuchten Stücke exemplifizieren werde.

1.3. Die ‚tugendhaften’ Töchter

1.3.1. „So ist die Tugend ein Gespenst“ (S.S.: I, 7; S. 15):
Saras Tugendrigorismus

Neben der Tatsache, dass die Titel beider Werke die Namen der weiblichen Protagonisten tragen, lassen sich Lessings bürgerliche Trauerspiele „Miß Sara Sampson“(1755) und „Emilia Galotti“(1772) unter verschiedenen Gesichtspunkten vergleichen. Ich beschränke mich bei meiner Analyse auf die Aspekte ‚Tugend’ und ‚Familie’. In beiden Stücken wird an zentraler Stelle die „Halsstarrigkeit der Tugend“[14] thematisiert. Während in der „Miß Sara Sampson“ diese Art der Halsstarrigkeit, im Sinne eines kompromisslosen und restriktiven Tugendrigorismus von Vater und Tochter zumindest partiell als Fehler erkannt wird, übernimmt Emilia im gleichnamigen Stück die unnachgiebige Position des Vaters, derzufolge sie ihren Suizid einer (möglichen) Verführung vorzieht.

Die Betrachtung der „Miß Sara Sampson“ verdeutlicht die Signifikanz der Termini ‚Tugend’ und ‚Laster’, denn jene Begriffe sind zentraler Gesprächsgegenstand aller Protagonisten des Trauerspiels. Die Gespräche der weiblichen und männlichen Figuren weisen auf die bereits thematisierte Verengung des Tugendbegriffs zu einer moralischen Kategorie hin, die mit weiblicher Unschuld korreliert wird. Der dramatische Konflikt beider Stücke konstituiert sich v.a. daraus, dass sich die Bewahrung weiblicher Tugend für die Frauen als schwierig erweist, denn sie ist durch die Verbindung von „menschlicher Schwachheit“[15] und den Verführungsversuchen seitens der männlichen Protagonisten (Vgl. E.G.: II, 6; S. 27ff.) gefährdet. Deren Begehren ist größtenteils darauf gerichtet, die Frau um das zu bringen, worauf gerade ihr größter Reiz basiert: Ihre sexuelle Reinheit. Der weibliche Körper fungiert als fetischisierte Tugend, wobei eine Gefährdung jener Tugend zugleich als Bedrohung der patriarchalischen Ordnung innerhalb der emotionalisierten Familie angesehen wird. Betrachtet man die weibliche Hauptperson Sara Sampson in Lessings gleichnamigem Trauerspiel findet man diese Thesen bestätigt. Der Leser erfährt von Saras Verführung zunächst durch ihren Vater und dessen Diener Norton, welche berichten, dass sie mit ihrem Geliebten Mellefont von zu hause geflohen sei und mit ihm in einem „elenden Wirtshause“ (S.S.: I, 1; S. 5) residiere. Die Schilderungen des ihr nachgereisten Vaters William Sampson und dessen Dieners Waitwell demonstrieren, dass Sara ein tugendhaftes Mädchen war, bevor sie Mellefont kennen lernte:

Waitwell: „Das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der Sonne gelebt hat, das muß so verführt werden. […] Aus jeder kindischen Miene strahlte die Morgenröte eines Verstandes, einer Leutseligkeit, einer - -.“ (S.S.: I, 1; S. 5)

Obwohl Sir William Sampson seine Tochter nach tugendhaften und moralisch integren Wertmaßstäben erzogen hat, kann er ihre Verführung durch Mellefont nicht verhindern. Sein Ausspruch: „Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue. Solche Vergehungen sind besser als erzwungene Tugenden- […].“ (S.S.: I, 1; S. 6) verdeutlicht, dass Saras Vater nicht die Tugend als Norm in Frage stellt, sondern zwischen dem zärtlichen Gefühl und dem daraus resultierenden Fehler auf der einen Seite und einem gezwungenermaßen tugendkonformen Verhalten auf der anderen Seite abwägt. Er stellt letztlich das Gefühl über das sittliche Gesetz und schwächt damit die Verbindlichkeit objektiver Tugendnormen ab. Die Textstelle indiziert eine Anspielung Lessings auf das der Aufklärung zugrunde liegende stoische Tugendideal, das für ihn den direkten Kontrast zu dem in der Empfindsamkeit entstehenden sittlichen Ideal des ‚zärtlichen’ Herzens darstellte. Sir Williams Aussage wäre unter dieser Prämisse derartig zu interpretieren, als es besser ist, aus Gefühl lasterhaft zu werden, als aus Gefühllosigkeit tugendhaft zu bleiben, er charakterisiert sich damit als Vertreter einer neuen sensitiven Gefühlskultur.[16]

Die Untersuchung des weiteren Textverlaufes ergibt, dass Saras Flucht als erste- vom Text explizit dargestellte -Normverletzung gedeutet werden muss, da die eigentliche Verführung von Lessing in die Vorgeschichte verlegt worden ist. Sara hat mit der Abkehr von ihrem Elternhaus die von der bürgerlichen Gesellschaft postulierten Moralvorstellungen und mit ihr den Sittenkodex ihrer Zeit verletzt. Eine weitere Normüberschreitung wird evident, wenn man das szenische Arrangement betrachtet, das Lessing konstituiert hat: Sir Williams Tochter lebt bereits seit neun Wochen mit ihrem Geliebten in einem verrufenen Gasthof, ohne ihn zu heiraten, da Mellefont eine Heirat unter fadenscheinigen Gründen immer wieder verschiebt. Für sie ist dieser Zustand unerträglich, da sie mit ihm in einer Gemeinschaft lebt, die ihre Tugend gefährdet- die Tugend, in die sich Mellefont ursprünglich verliebt hat. Sara ergibt sich jedoch nicht leidend in ihr Schicksal, sondern drängt auf den Vollzug der Ehe, denn Ihrer Meinung nach macht das ehelose Zusammenleben mit Mellefont die „aufrichtigste Liebe“ zu einer „unheiligen Leidenschaft“ (S.S.: IV, 8; S. 75):

Sara: „Aber die neunte Woche, Mellefont, die neunte Woche fängt heute an, und dieses elende Haus sieht mich noch immer auf eben dem Fuße als den ersten Tag.“ „[…] Ach Mellefont, warum muß ich einen andern Begriff von dieser Zeremonie haben? – Geben Sie doch immer der weiblichen Denkungsart etwas nach. […].“ „Stehen Sie noch an, mir zuliebe dasjenige einige Tage eher zu tun, was Sie doch einmal tun werden?“ (S.S.: I, 7; S. 11f.)

Mellefonts Hinweise auf eine Erbschaftsangelegenheit, ein Argument, das er bereits bei Saras Vorgängerin Marwood zur Sicherung seiner Libertinage angeführt hat, ignorieren nicht nur das Wesen von Saras Forderungen, sondern zeigen sich im Verlauf des Gesprächs auch als bewusste Ausflüchte:

Mellefont: „Haben Sie es denn vergessen, was ich Ihnen zu meiner Rechtfertigung schon oft vorgestellt?“ „[…], zu Ihren Füßen bitte ich Sie: beruhigen Sie sich. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld.“ (S.S.: I, 7; S. 14/15)

Saras Einwand, ein Tag sei schon zu lang (Vgl. S.S.: I, 7; S. 15), akzentuiert an dieser Stelle ihren unbedingten Willen, das Zusammenleben zwischen Mellefont und ihr vor Gott zu legitimieren. Ihr Versuch, sich gegenüber Mellefont durchzusetzen, lässt hier durchaus auf kämpferische und teilweise emanzipatorische Züge schließen, was in der Lessing- Philologie jedoch aufgrund der engen Fokussierung auf ihre Tugendhaftigkeit oftmals vernachlässigt wurde. Sara betont, dass sie mit Mellefont „nicht um der Welt willen“, sondern um ihrer „selbst willen verbunden sein“ will (S.S.: I, 7;

S. 14). Ihre Argumentation offenbart, dass sie in diesem Aspekt geneigt wäre, sich über die Gesetze bürgerlicher Moral hinwegzusetzen. Trotzdem ist sie nicht frei von Gewissenkonflikten, denn worauf sie nicht verzichten kann, ist die Rechtfertigung „vor den Augen jenes Richters, der die geringsten Übertretungen seiner Ordnung zu strafen gedrohet hat.“ (S.S.: I, 7; S. 13) Ihrer Meinung nach hat sie sich durch ihre voreheliche Beziehung gegen die Gebote Gottes versündigt und die göttliche Ordnung aus dem Gleichgewicht gebracht.

Eine Legalisierung ihrer Beziehung zu Mellefont würde für Sara den ersten Schritt zu einer Aussöhnung mit Gott bedeuten. Saras Forderung offenbart, dass sie trotz ihres Fehltritts kein dissonantes Verhältnis zu bestehenden moralischen Normen und Werten hat, sondern jene vielmehr internalisiert hat, da der bürgerliche Moralkodex auch die Einhaltung religiöser Maximen und göttlicher Gebote umschließt. Sie verdeutlicht noch einmal, dass ihrer Eheforderung kein materielles Interesse zugrunde liegt:

Sara: „Legen Sie aber mein dringendes Anhalten nicht falsch aus. Ein andres Frauenzimmer, das durch einen gleichen Fehltritt sich ihrer Ehe verlustig gemacht hätte, würde vielleicht durch ein gesetzmäßiges Band nichts als einen Teil derselben wiederzuerlangen suchen. Ich, Mellefont, denke darauf nicht, weil ich in der Welt weiter von keiner Ehre wissen will als von der Ehre, Sie zu lieben. Ich will mit Ihnen nicht um der Welt willen, ich will mit Ihnen um meiner selbst willen verbunden sein.“ (S.S.: I, 7; S. 14)

Sara fühlt die Verletzung der Diskursregeln, denn sie ist einem Modell von Liebe und Ehe verpflichtet, das Intimität und Sexualität nur innerhalb der Ehe zulässt. Aus diesem Grund bleibt der Aspekt der Erotik zwischen Sara und Mellefont ausgeklammert, was auch durch die Tatsache explizit wird, dass die beiden getrennte Zimmer bewohnen (Vgl. S.S.: I, 5; S. 10f.). Wie Rose Götte zu Recht konstatiert, stellt sich Saras Liebe an keiner Stelle als „sinnliche Leidenschaft“[17] dar, denn Sara ist die typische Vertreterin einer tugendhaften und geistigen Liebe, die in der empfindsamen Liebesehe gipfelt. Dies lässt sich anhand der Epitheta eruieren, durch die Lessing seine Protagonistin beschreibt: „tugendhafte Freundin“ (S.S.: II, 3; S. 24), „das liebreichste und zärtlichste Herz“ (S.S.: III, 3; S. 47), oder „tugendhafte Schüchternheit“ (S.S.: III, 3; S. 47) sind nur einige der Begriffe, die sie charakterisieren. Lothar Pikulik hält die Liebe zwischen Sara und Mellefont für die „Hingabe an eine abstrakte, sittliche Idee“[18], in der sich die Partner ihrer gegenseitigen Tugend versichern. Eine Liebe, die ergo nicht auf sinnlichen Reizen beruht, sondern auf Verehrung des Partners und auf gegenseitige Respektbezeugungen abzielt. Trotz dieser gegenseitigen Liebes- und Respektbeteuerungen (Vgl. S.S.: I, 7; S. 13: „[…], ich bin in meinem Herzen die Ihrige und werde es ewig sein.“ oder S.S.: I, 7; S. 17: „Sie, liebste Sara, sehen und alle Marwoods vergessen, war eins.“) teilen Sara und Mellefont nicht dasselbe Tugendverständnis, was v.a. daran evident, dass Mellefont sich weigert, Sara zu heiraten. Für Sir Williams Tochter bedeutet die Hochzeit mit Mellefont hingegen eine „nähere Einwilligung des Himmels“ (S.S.: I, 7; S. 12). An dieser Stelle manifestiert sich die im 18. Jahrhundert vorherrschende Auffassung einer verbindlichen, objektiven Weltordnung, nach der sich das Individuum zu richten hat. Der Mensch gibt sich nicht selbst die Gesetze, er ist nicht autonom, vielmehr sind die Normen bereits von Gott gesetzt und jede Person hat die Pflicht, nach den gegebenen Gesetzen zu leben, bzw. die Vorschriften des Sittengesetzes einzuhalten, wenn sie in der Welt bestehen will. Saras Wunsch, ihr Zusammenleben mit Mellefont zu sanktionieren, verdeutlicht, dass sie das Sittengesetz anerkennt und in Einklang mit der vorgeschriebenen Weltordnung leben will. Ihr Ausspruch „Ich stelle mir vor, daß eine nähere Einwilligung des Himmels darin liegt“ zeugt von ihrer naturgegebenen Moralität, die ihre Objektivität und Absolutheit durch die Gleichsetzung mit einer göttlichen Forderung erhält. Lessing entwirft an dieser Stelle das Bild einer empfindsamen und gefühlsbetonten Frau, die sich und den Mann im Einklang mit den von Gott gegebenen Gesetzen wissen willen.

Der weitere Textverlauf verdeutlicht, dass Sara ihre eigene schärfste Anklägerin ist, denn sie wähnt ihre Tugend durch die Flucht mit Mellefont bereits als unrettbar verloren (Vgl. S.S.: I, 7; S. 14ff.).[19] Sie bezeichnet ihren Fehltritt als Verbrechen und präsentiert sich damit als Verfechterin einer kompromisslosen Moralität, die keinen Verstoß duldet. Es kann in diesem Zusammenhang von einer Verabsolutierung der anerkannten

Tugendnormen gesprochen werden. Saras übermächtige Schuldgefühle und ihre Gewissensqualen lassen sich anhand ihres Traumes in Szene I, 7 exemplifizieren:

Sara: „[…], als ich mich auf einmal an dem schroffsten Teile des schrecklichsten Felsen sahe. Sie gingen vor mir her, und ich folgte Ihnen mit schwankenden ängstlichen Schritten, die dann und wann ein Blick stärkte, welchen Sie auf mich zurückwarfen. […]- Hören Sie nur, Mellefont; indem ich mich nach dieser bekannten Stimme umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte und sollte eben in den Abgrund herabstürzen, als ich mich, noch zur rechten Zeit von einer mir ähnlichen Person [Hervorhebung durch Verfasser; E.Tr.] zurückgehalten fühlte. Schon wollte ich Ihr den feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog. Ich rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben! Sie holte mit der bewaffnete Hand aus- und ach! […].“ (S.S.: I, 7; S. 13)

Der Traum kann im übertragenden Sinne als Analogie zu Saras momentaner Lebenssituation gedeutet werden, wobei die schroffen Felsen ihre ungewohnte Lebenssituation im Gasthof darstellen und der Abgrund, in den sie zu stürzen droht, die Überschreitung bürgerlicher Wertmaßstäbe, bzw. die Verletzung des moralischen Sittenkodex repräsentiert. Die „ihr ähnliche Person“ (S.S.: I, 7;

S. 13) steht an dieser Stelle für ihre Nebenbuhlerin, deren Lebenssituation Saras Schicksal durchaus ähnelt. Sara erkennt dies nach ihrem zweiten Gespräch mit Marwood, was durch ihren Ausruf „- Ha! Nun erkenn ich sie- nun erkenn ich sie, die mördrische Retterin, deren Dolche mich ein warnender Traum preisgab. Sie ist es!“ (S.S.: IV, 8; S. 77) bestätigt wird. Dass es eine „ihr ähnliche Person“ ist, die Sara im Zuge ihrer Traumdeutung als Marwood identifiziert, verdeutlicht signifikant, wie sehr Sara sich in eine Parallele mit der ehemaligen Geliebten gestellt fühlt.[20] In dem Traum manifestiert sich v.a. Saras Angst vor den Folgen ihrer Normverletzung, denn für sie bedeutet ihr Fehltritt automatisch den Verlust ihrer Tugend und damit ihrer Ehre. Mellefont verteidigt Saras Sittsamkeit jedoch mit folgenden Argumenten:

Mellefont: „Wie? muß der, welcher tugendhaft sein soll, keinen Fehler begangen haben? Hat ein einziger so unseligen Wirkungen, daß er eine ganze Reihe unsträflicher Jahre vernichten kann? So ist kein Mensch tugendhaft; so ist die Tugend ein Gespenst, das in der Luft zerfließet, wenn man es am festesten umarmt zu haben glaubt; […]! Nein, Miß, Sie sind noch die tugendhafte Sara, die sie vor meiner unglücklichen Bekanntschaft waren.“ (S.S.: I, 7; S. 14/15)

Der Geliebte verdeutlicht, dass begangene Fehler (hier Saras Verführung und die Flucht aus dem Elternhaus) noch lange nicht den Verlust der Tugend zur Folge haben. Er revidiert damit Saras Position und revoltiert gegen einen Tugendbegriff, der nur durch einen vollkommenen Menschen erfüllt werden kann.

Ich halte es für sinnvoll, im Folgenden einige Passagen aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie zu extrahieren, um die o.g. Textstelle hinreichend interpretieren zu können. Es sei hier angemerkt, dass Lessing bereits auf einer sehr frühen Stufe seines dramatischen Schaffens das Problem einer an sich tugendhaften Haltung dargestellt hat, das sich, zum Nachteil des Handelnden und auf Kosten seiner Menschlichkeit verwirklicht. Als Enthüllung negativer Seiten von ideologisch erstarrten moralischen Positionen findet sich dieses Thema in fast allen seinen Dramen und kulminiert letztlich in dem 1779 erschienenen Werk „Nathan der Weise“, in welchem jegliche Art von Tugendrigorismus negativ bewertet wird, selbst wenn er sich in einer heroischen Tat manifestiert.[21] In seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ (1767) postuliert Lessing u.a. den Grundsatz, dass seine Trauerspiele ein Geschehen nicht mehr von oben herab mit hochgestellten Persönlichkeiten darstellen sollten. Die Stücke sollten vielmehr einfache Menschen darstellen, die den Lesern, bzw. Zuschauern Identifikationsmöglichkeiten böten und bei ihnen Affekte wie Mitleid und Mitgefühl auslösten. Dazu gehörte, dass die Protagonisten in seinen Stücken gewisse Fehler besitzen mussten, um lebendigen Menschen zu ähneln. Die Darstellung vollkommener und makelloser Figuren in seinen Stücken lehnte Lessing ab. Seiner Meinung nach würden die Figuren erst durch charakterliche Mängel zu Menschen, die den Leser, bzw. Zuschauer zum Mitfühlen und Mitleiden anregten.[22]

Die fortgeführte Untersuchung des poetischen Textes ergibt, dass Mellefonts Argumentation auf Sara wirkungslos bleibt, denn ihr übersteigertes Schuldbewusstsein lässt sie die Vergebung ihres Vaters (zunächst) ablehnen. Gegen den Zorn des Vaters glaubt Sara noch einen „Schatten von Verteidigung aufzubringen“ ( S.S.: III, 3; S. 43), denn jene scheint ihr die Möglichkeit des Vergessens und der Aufhebung der väterlichen Leiden zu sein:

Sara: „Wen man aber verachtet, um den bekümmert man sich nicht mehr.“ (S.S.: III, 3; S. 44)

Eine Verzeihung hingegen ermögliche ihr nur mehr Reue und zwänge sie damit in die völlige Unterwerfung:

„[…], und er würde mich nie ansehen können, ohne mich heimlich anzuklagen, wie viel ich ihm abzutrotzen mich unterstanden habe.“ (S.S.: III, 3; S. 44)

Sara könnte die väterliche Verzeihung zwar annehmen, allerdings unter der Bedingung ihres Verzichts auf Mellefont und ihrer Rückkehr in die alte familiäre Ordnung, da ihrer Logik nach nur dann „von der emotionalistischen Beziehungsdynamik her gesehen, ein Gleichgewicht herrschte.“[23]

Sara: „[…]; wenn in dem Augenblicke, da er mir alles erlauben wollte, ich ihm alles aufopfern könnte: so wäre es ganz etwas anders.“ (S.S.: III, 3; S. 44)

Eine Annahme der väterlichen Vergebung hieße für Sara ein Ungleichgewicht zu akzeptieren, das dem Verzeihenden eine Superiorität verschaffte.[24] Sie glaubt, jene Vergebung würde ihren Vater auf Dauer mit Scham wegen seiner Schwäche vor der Tochter und „finsterem Unwillen“ (S.S.: III, 3; S. 44) ihr gegenüber erfüllen. Aus diesem Grund will sie lieber auch sich selbst unglücklich sehen, als nur ihn:

Sara: „ Wenn mein Vater durch mich unglücklich sein muß, so will ich selbst auch unglücklich bleiben.“ (S.S.: III, 3; S. 44)

Sie entgegnet auf die Überredungsversuche des väterlichen Dieners Waitwell, die Verzeihung doch anzunehmen, dass es von einem Vater nicht zu verlangen sei, ihr ganzes Verbrechen zu vergeben und überdies hinzunehmen, „die Folgen desselben vor seinen Augen fortdauern zu sehen.“ (S.S.: III, 3; S. 46) Sara funktionalisiert an dieser Stelle den Tugendbegriff, indem sie ihn absolut setzt. Sie zieht nur ihre eigenen Skrupel in Betracht und schätzt ihre darin liegende Bindung an die Grundsätze der Tugend höher ein, als die Fähigkeit ihres Vaters zu wirklichem Mitleiden und entsprechenden Handeln.

Die Tochter wird erst durch Waitwells Argumentation zu der Einsicht gebracht, dass ihre Haltung nur scheinbar altruistisch ist und „ihre unerbittlichen Selbstanklagen letztlich doch nur eine sublime Form von Egoismus sind.“[25] Waitwell bestätigt in Analogie zu Mellefont dessen Argumentation bezüglich einer Abweichung von einem standardisierten tugendhaften Handeln:

Waitwell: „[…]; und ein Kind kann wohl einmal fehlen, es bleibt deswegen doch ein gutes Kind. Wenn der Vater den Fehler verzeiht, so kann das Kind sich wohl wieder so aufführen, daß er auch gar nicht mehr daran denken darf.“ (S.S.: III, 3; S. 46)

Als Sara die Vergebung ihres Vaters letztlich akzeptiert, fühlt sie sich erleichtert, jedoch nicht von ihrer Schuld befreit. Zu stark hat sie bestehende moralische Werte und Normen internalisiert und sich dem Sittenkodex ihrer Zeit untergeordnet.

Die Untersuchung der direkten Konfrontation zwischen Sara und Marwood in Szene IV, 8 ergibt, dass Sara ihr eigenes Selbstbild korrigieren muss, und die strikte Differenzierung zwischen Marwood (alias Lady Solmes) und ihr nicht länger bestehen kann. Auf Lady Solmes Provokation, Saras „Sittenlehre scheinet nicht die strengste zu sein“(S.S.: IV, 8; S. 70), reagiert Sara noch gelassen. Da sie sich gegenüber der Rivalin moralisch im Vorteil fühlt, vertritt sie die Meinung, dass ein Fehltritt verzeihbar sei, solange er eingestanden werde. Sie differenziert damit zwischen der ‚Sittenlehre’, die unbedingt geltende Normen setzt und den „Regeln der Klugheit“, die als pragmatisch geltende Verhaltensnormen keinen Anspruch auf Unbedingtheit erheben und sich daher mit Regeln begnügen. Ihr Bekenntnis „die menschliche Schwachheit zu entschuldigen, […], und die daraus entstehenden Folgen nach den Regeln der Klugheit zu beurteilen“ (S.S.: IV, 8; S. 70) fällt ihr an dieser Stelle leicht, da sie weiß, dass ihr seitens der Marwood, die ihre ‚Schwachheit’ definitiv nicht bereut, keine Gefahr droht: „Es wäre ein Unglück, wenn er eine Lasterhafte deswegen, weil er sie einmal geliebt hat, ewig lieben müsste.“ (S.S.: IV, 8; S. 70).

Im folgenden Textverlauf relativiert Sara ihren Fehltritt und korrigiert ihren Tugendbegriff, so dass ein Zugeständnis an die Unvollkommenheit des Menschen und die Anerkennung charakterlicher Schwächen zumindest partiell möglich wird:[26]

Sara: „ Ach Lady, wenn Sie es wüssten, was für Reue, was für Gewissensbisse, was für Angst mich mein Irrtum gekostet! Mein Irrtum, sag ich; denn warum soll ich länger so grausam gegen mich sein und ihn als ein Verbrechen betrachten?“ (S.S.: IV, 8; S. 76f.)

Es sei hier jedoch ausdrücklich darauf verwiesen, dass Sara diese Relativierung (noch) nicht auf Marwood bezieht. Dies wird durch den weiteren Textverlauf evident, in dem Marwood versucht, Sara die Analogie zwischen ihren Lebenssituationen zu verdeutlichen. Ihre Argumentation wird jedoch von Sara, die sich gegenüber der Rivalin moralisch erhebt, nur unwillig angehört:

Sara: „Es ist etwas ganz anders, aus Unwissenheit auf das Laster zu treffen, und ganz etwas anders, es kennen und dem ungeachtet mit ihm vertraulich zu werden.-“ (S.S.: IV, 8; S. 76).

Letztlich muss Sara erkennen, dass sie ihre Moralität verloren hat. Ihre Zukunft lässt erwarten, dass sie aufgrund von Mellefonts libertiner Verhaltensweise ebenso mit anderen Frauen konkurrieren muss, wie sich schon Marwood gegen „eine Miß Oaklaff, eine Miß Dorkas, eine Miß Moor und mehrere“ (S.S.: IV, 8;

S. 74) behaupten musste. Ihr Fußfall und die verzweifelte Bitte an Lady Solmes, sie mit „Marwood nicht in einen Rang zu setzen“ (S.S.: IV, 8; S. 77) ist das Bekenntnis ihres eigenen Schuldbewusstseins und Selbstbetruges. Dass Sara sich nach der Beendigung des Verwirrspiels sofort an ihren Traum erinnert, ist ein weiterer Beleg dafür, wie geringfügig sie sich von der Nebenbuhlerin unterscheidet.

In Aufzug V stellt Lessing Saras sittsame Moralität erneut massiv in den Vordergrund. Der Dichter fokussiert Saras Leiden und ihre Tugendhaftigkeit am intensivsten, denn seine Protagonistin liefert von Szene zu Szene stärkere Beweise ihrer Tugendhaftigkeit. So nimmt sie die Schuld an dem Zwischenfall mit Marwood und ihrem eigenen Tod vollständig auf sich und spricht Mellefont und ihre Dienerin Betty von jeder Schuld frei (Vgl. S.S.: V, 10; S. 92). Sie macht Mellefont dessen uneheliches Kind Arabella nicht zum Vorwurf, sondern will es im Kreis der tugendhaften Familie großziehen (Vgl. S.S.: V, 4; S. 83), zeigt in ihrer Situation noch zärtliche Sorge um Mellefont und ihren Vater (Vgl. S.S.:

V, 10; S. 91) und zerreißt schließlich den Brief ihrer Widersacherin mit den Worten: „Ich sterbe und vergeb es der Hand, durch die mich Gott heimsucht.“ (S.S.: V, 10; S. 91) Der Tod Saras und der damit korrelierte Untergang der ‚Tugend’ stehen an dieser Stelle jedoch nicht paradigmatisch für einen Sieg des Bösen, bzw. des Lasters, denn genauso wenig wie Sara nur tugendhaft ist, ist Marwood nur lasterhaft. Lessing entscheidet sich durch die Darstellung von Saras Tod dafür, dem Zuschauer die ‚Tugend’ durch einen unglücklichen Ausgang noch interessanter zu machen.[27] Horst Steinmetz argumentiert in seinem Aufsatz „Aufklärung und Tragödie. Lessings Tragödien vor dem Hintergrund des Trauerspielmodells der Aufklärung“ (1972), dass nicht „Tugend, Recht oder Vernunft […] die Verlierer in einer Tragödie [sind; E.Tr.], sondern allenfalls ihre Vertreter. Und sie werden nur dadurch zu Verlierern, daß sie „Fehler“ an sich haben.“[28]

Eine abschließende Zusammenfassung ergibt, dass Sara den von ihr vertretenen ethischen Tugendrigorismus nur zögerlich revidiert und dies zunächst auch nicht in Bezug auf Marwood. Die Relativierung des Tugendbegriffs und das Eingeständnis menschlicher Unvollkommenheit werden von Sara erst kurz vor ihrem Tod auch auf Marwood bezogen. Sie vergibt ihrer Widersacherin zwar, allerdings geschieht dies in dem Bewusstsein, Marwood werde „ihrem Schicksale nicht entgehen“ (S.S.: V, 10; S. 91), da sich jene für ihre Vergehen vor Gott zu verantworten habe. An dieser Stelle manifestiert sich Saras Auffassung, der Mensch habe die Pflicht, nach den gegebenen Gesetzen zu leben, bzw. die Vorschriften des Sittengesetzes einzuhalten, um in der Welt zu bestehen.

1.3.2. „Ich stehe für nichts“(E.G.: V 7; S. 85):
Emilias Bekenntnis zur Verführbarkeit

Ein erster Vergleich zwischen „Miß Sara Sampson“ und „Emilia Galotti“[29] illustriert schon rein äußerlich eine Differenz bezüglich der Themenkomplexe ‚Tugend’ und ‚Familie’. Während in der „Miß Sara Sampson“ häufig von der ‚Tugend’ gesprochen wird, wird sie in der „Emilia Galotti“ von den Protagonisten explizit kaum erwähnt.[30]

Ähnlich wie Sara ist auch Emilia von ihrem Vater nach moralisch integren Maßstäben erzogen worden, er hat sie zu Frömmigkeit und Gehorsam angehalten, womit sie diejenigen Bedingungen erfüllt, die nach Lessings Frauenbild Maßstäbe für ein unverheiratetes Mädchen sind.[31] So besucht Emilia beispielsweise noch am Morgen ihrer Hochzeit mit der Begründung, sie „habe heute, mehr als jeden andern Tag, Gnade von oben zu erflehen“ (E.G.: II, 2, S. 21), die Kirche.[32] Die Tatsache, dass sie ihren Kirchgang ohne Begleitung tätigt, verweist auf eine erste Normüberschreitung, die jedoch aus der Sorglosigkeit und Unachtsamkeit ihrer Mutter Claudia Galotti resultiert:

[...]


[1] Beauvoir, Simone de: “The Second Sex“, in: New French Feminism, hrsg. von Elaine Marks und Isabelle de Courtivron, Schocken Books, New York 1981, S. 42. (Der Titel im Original lautet: „Le Deuxième sexe“)

[2] Die Women’s Studies war eine um 1970 entstandene feministische Bewegung, deren Hauptprämisse die Forderung nach absoluter Gleichheit zwischen Männern und Frauen war. Dabei gingen die Vertreterinnen der Women’s Studies von einer biologisch determinierten Unterscheidung, d.h. von einer Geschlechterdifferenz zwischen Männern und Frauen aus, die sie als Ursache der Diskriminierung und Unterdrückung der Frau klassifizierten, woraus wiederum ihr Versuch resultierte, die gesellschaftspolitische Statusungleichheit zwischen Männern und Frauen zu beheben. Anfang der neunziger Jahre generierten sich aus dieser Bewegung die sog. Gender Studies. Diese unterschieden sich von den Women’s Studies darin, dass ihre Verteterinnen die anachronistischen Überlegungen von einem kausalen Zusammenhang zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, bzw. von einem biologischem Geschlecht und seiner gesellschaftlichen Position negierten und die Kategorie des ‚Weiblichen’ nicht mehr als etwas spezifisch Angeborenes oder durch Anatomie, Biologie oder Sexualität Bestimmtes, sondern als gesellschaftliches Konstrukt begriffen.

Es sei an dieser Stelle auf einige Werke hingewiesen, die einen umfassenden Überblick über diese Thematik bieten: Vgl. Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Erich Schmidt Verlag, Berlin 1998.

Vgl. Erhart, Walter und Herrmann, Britta: „Feministische Zugänge- „Gender Studies“ “, in: Grundzüge der Literaturwissenschaft, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering, dtv, 1996, 6. Auflage 2003.

Vgl. Stephan, Inge; von Braun, Christina (Hrsg.): Gender Studien. Eine Einführung, J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart, Weimar, 2000.

Vgl. Hof, Renate: „Die Entwicklung der Gender Studies“, in: Genus- zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften hrsg. von Hadumod Bußmann / Renate Hof, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1995.

[3] Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich die Begriffe ‚Aufklärung’ und ‚Empfindsamkeit’ im Sinne Michael Titzmanns verwende, der ‚Aufklärung’ in seinem Aufsatz „ „Empfindung“ und „Leidenschaft“: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“ als sich transformierendes Denksystem klassifiziert hat, das mit unterschiedlichen, teils sukzessiven, teils simultanen, Literatursystemen korreliert ist. Titzmann differenziert dabei zwischen unterschiedlichen sukzessiven Literatursystemen und benennt zwei vor der Goethezeit (GZ: ca. 1770 – 1830) und zwei während der Goethezeit. Er spezifiziert die Systeme vor der Goethezeit erstens als Literatursystem zur Zeit der frühen Aufklärung (ca. um 1730 einsetzend) und zweitens als Literatursystem zur Zeit der mittleren Aufklärung (ca.1750). Letztgenanntes bezeichnet er als ‚Empfindsamkeit’. Da für meine weiteren Ausführungen lediglich das Literatursystem zur Zeit der mittleren Aufklärung relevant ist, beschränke ich mich auf jenes und bezeichne es im Folgenden als ‚Empfindsamkeit’.

Vgl. Titzmann, Michael: „Empfindung“ und „Leidenschaft“: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“, in: Passauer Interdisziplinäre Kolloquien, Bd. II: ‚Empfindsamkeiten’, hrsg. von Klaus P. Hansen, Wissenschaftsverlag Richard Rothe, Passau 1990, S. 137.

[4] Vgl. Titzmann, Michael: „Empfindung“ und „Leidenschaft“, a.a.O., S. 140.

[5] Wurst, Karin: „Familiare Liebe ist die ‚wahre Gewalt’. Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings dramatischen Werk“, in: Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 75, hrsg. von Cola Minis und Arend Quak, Rodopi, Amsterdam 1988, S. 27.

[6] Vgl. Stephan, Inge; Weigel, Sigrid (Hg.): Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Literatur- Kultur- Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Böhlan Verlag Köln (u.a.) 2004, S. 19.

[7] Paullini, Christian Franz: Das Hoch- und Wohlgelahrte Teutsche Frauenzimmer. Nochmals mit mercklichen Zusatz vorgestellt“, Franckfurth und Leipzig/ Bey Johann Christoph Stößeln, Buchhändlern in Erfurth. Im Jahr MDCCV, S. 6.

[8] Die in der frühen Aufklärung und Empfindsamkeit vorherrschenden Weiblichkeitskonzepte eruiere ich in Abschnitt III) 2..

[9] Auf den umfassenden Komplex der Empfindsamkeit und der geistlichen Ethik des Pietismus kann hier mangels Platzgründen nicht eingegangen werden. Ich befasse mich im Folgenden nur mit denjenigen Aspekten, die für meine Magisterarbeit Relevanz besitzen. Einen detailreichen Blick auf die sozial- ideengeschichtlichen Voraussetzungen dieser Bewegung findet sich beispielsweise bei Gerhard Sauder. Weitere Beiträge zu dieser Thematik lassen sich in den Abhandlungen Wegmanns, Jägers oder Titzmanns finden.

Vgl. Sauder, Gerhard: Empfindsamkeit, Bd. I: Voraussetzungen und Elemente, J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 1974 /

Bd. III: Quellen und Dokumente, J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart 1980.

Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, J.B. Metzlerische Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH, Stuttgart 1988.

Jäger, Georg: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1969 (=Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 11).

Titzmann, Michael: „Empfindung“ und „Leidenschaft“: Strukturen, Kontexte, Transformationen der Affektivität/Emotionalität in der deutschen Literatur in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Passauer Interdisziplinäre Kolloquien, Bd. II: ‚Empfindsamkeiten’, hrsg. von Klaus P. Hansen, Wissenschaftsverlag Richard Rothe, Passau 1990, S. 137-165.

[10] Wurst, Karin: „Familiale Liebe ist die ‚wahre Gewalt’ “, a.a.O., S. 147.

[11] Da die sexuelle Moral innerhalb der Ehe für die Untersuchung der hier zugrunde liegenden Werke „Miß Sara Sampson“ und „Emilia Galotti“ irrelevant ist, beschränke ich mich an dieser Stelle auf die Darstellung der vorehelichen Sexualmoral.

[12] Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, 1. Band: Der Wille zum Wissen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1977, S. 11.

[13] Die Soziologie der Familie und die Rolle der Frau innerhalb der patriarchalischen Familienstrukturen des 18. Jahrhunderts eruiere ich in den Punkten II) 2.1. und II) 2.2..

[14] 1756 hatte Lessing dieses Zitat in seinen Briefen an Nicolai und Mendelssohn in Bezug auf den Heroismus und die stoische Tugendhaltung der Helden in klassizistischen Tragödien als die Halsstarrigkeit abgetan, die er „ganz und gar verachten und verdammen würde, wenn es nicht eine Halsstarrigkeit der Tugend zu sein schiene.“

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1743-1770, hrsg. von Helmuth Kiesel, Band II / 1, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 130., aus der Reihe: Werke und Briefe in 12 Bänden, hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunther E. Grimm, Helmuth Kiesel u.a..

[15] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Miß Sara Sampson, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1993, IV. Aufzug, 8. Auftritt. Ich zitiere nach dieser Ausgabe, wobei ich mich im Folgenden darauf beschränke, die jeweiligen Stellen direkt hinter dem Zitat verkürzt anzugeben (Miß Sara Sampson: IV. Aufzug, 8. Auftritt entspricht ergo S.S.: IV, 8; Seite 70).

[16] Vgl. Pikulik, Lothar: „Bürgerliches Trauerspiel und Empfindsamkeit“, Böhlau Verlag, Köln u.a.

1966, S. 40.

[17] Götte, Rose: Die Tochter im Familiendrama des 18. Jahrhunderts, Inaugural Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich- Wilhelms- Universität zu Bonn, Bonn 1964, S. 116.

[18] Pikulik, Lothar: „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit, a.a.O., S. 34.

[19] Auffallend ist, dass Sara trotz ihrer Selbstanklagen nicht bereit ist, sich mit Marwood „in einen Rang zu setzen“ (S.S.: IV, 8; S. 77), obwohl zumindest eine Analogie ihrer (Ausgangs)- Situationen besteht, die von Sara trotz aller Bemühungen, Mellefont zu einer Heirat zu überreden, nicht getilgt werden kann.

[20] Vgl. auch Karl Eibl, der in Saras Traum eine „parabelhafte Verkürzung des dramatischen Geschehens“ sieht oder Jürgen Schröder, der davon ausgeht, dass der Traum „in durchsichtiger Verkleinerung und einer fast pedantischen Analogie die gesamte Geschehnisfolge und insbesondere diejenige des Auftritts IV, 8 [enthält; E.Tr.].“

Vgl. Eibl, Karl: Gotthold Ephraim Lessing- Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel. Analysen und Kommentare zur deutschen Literatur, hrsg. von Wolfgang Frühwald, Bd. II, Athenäum Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1971, S. 121.

Vgl. Schröder, Jürgen: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama, Wilhelm Fink Verlag, München 1972, S. 177.

Neben einer Interpretation aus Sicht gesellschaftlich-moralischer Aspekte besteht die Möglichkeit, Saras Traum unter religiösen Gesichtspunkten zu deuten. Eine derartige Untersuchung ergibt ähnliche Ergebnisse wie die obige Perspektivisierung: Der Abgrund, in den Sara zu stürzen droht, ließe sich als Hölle interpretieren, der gleitende Fuß deutet auf das Verlassen des rechten Weges, des „Tugendpfades“ hin.

Vgl. Einige Passagen aus der Bibel, in denen von einem Abgleiten des Fußes vom richtigen Weg gesprochen wird. So beispielsweise in Psalm 17, 5: „Erhalte meinen Gang auf deinen Wegen, daß meine Tritte nicht gleiten.“ oder Psalm 121, 3: „Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, […].“

Vgl. Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart 1969.

[21] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart, 1990.

Ich mache an dieser Stelle zudem auf einen Aufsatz Gerd Hillens aufmerksam, in dem jener Lessings Prämisse einer Ablehnung heroischer und menschlich vollkommener Figuren anhand dreier unterschiedlicher Figuren untersucht: Dem Prinzen Philotas aus Lessings gleichnamigen Stück, dem Adrast aus dem „Freygeist“ und dem Soldaten Tellheim aus der „Minna von Barnhelm“.

Vgl. Hillen, Gerd: „Ideologie und Humanität in Lessings Dramen“, in: Lessing Yearbook I, Max Hueber Verlag, München 1969, S.150-161.

[22] Lessing wendet sich damit gegen eine Dramenpoetik im Sinne Aristoteles, die Mitleid und Schrecken als wesentliche Wirkung betonen. Er erklärt, man habe Aristoteles falsch verstanden: Der phobos des Aristoteles, der von den bisherigen Dramentheoretikern ‚Schrecken’ genannt werde, müsse in Wahrheit als Furcht, nämlich als die mitfühlende Angst, das, was auf der Bühne geschieht, könne auch einem selbst widerfahren, interpretiert werden. Damit sei der Begriff der Furcht untrennbar mit dem des Mitleid(en)s (eleos) verbunden. Derartige Vorstellungen würden so zum Kernelement dessen, was man als die Katharsis-Lehre des Dramas bezeichnet. In der Aristotelischen Definition meint die Katharsis-Lehre eine emotionale, körperliche, geistige und auch religiöse Reinigung. Durch das Durchleben von Mitleid und Furcht erfährt der Zuschauer die Läuterung seiner Seele von diesen Leidenschaften. So formuliert Lessing in einem Brief vom 2. April 1757 an Friedrich Nicolai: „Das Mitleiden reinigt unsere Leidenschaften.“

Der Dichter meint, durch das Mitfühlen solle im Zuschauer eine Wandlung, respektive eine Besserung vor sich gehen. Dies ziehe jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit einer Analogie zwischen Dramenfiguren und Zuschauer nach sich, um ihr Handeln verständlich und nachvollziehbar erscheinen zu lassen.

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, kritisch durchgesehene Gesamtausgabe mit Einleitung und Kommentar von Otto Mann, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1958, 74.- 78. Stück, S. 291, S. 294f., S. 302. Ich zitiere nach dieser Ausgabe, wobei ich mich im Folgenden darauf beschränke, die jeweiligen Stellen direkt hinter dem Zitat verkürzt anzugeben. (74. Stück der Hamburgischen Dramaturgie wäre ergo H.D.: 74. St., S. 290ff.)

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1743-1770, a.a.O., S. 179.

Es sei hier zudem auf den Abschnitt III. 2 („Moral als Disposition: Zur Tugend ‚aufgelegt’ “) aus Karl Eibls Buch „Die Entstehung der Poesie“ verwiesen, in dem der Autor anhand einer brieflichen Diskussion, die 1756/57 zwischen Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn geführt wurde, näher auf diese Thematik eingeht.

Vgl. Eibl, Karl: Die Entstehung der Poesie, 1. Auflage, Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995, S. 69-74.

[23] Lukas, Wolfgang: Anthropologie und Theodizee. Studien zum Moraldiskurs im deutschsprachigen Drama der Aufklärung (ca. 1730 bis 1770), Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. Kg, Göttingen 2005, S. 270.

[24] Vgl. ebd., S. 270.

[25] Hillen, Gerd: „Die Halsstarrigkeit der Tugend. Bemerkungen zu Lessings Trauerspielen“, in: Lessing Yearbook II, Max Hueber Verlag, 1970, S. 121.

[26] Es sei hier auf kurz auf die Änderung der Termini verwiesen, mit denen Lessing seine Protagonistin ihren Fehltritt im Verlauf des Dramas bezeichnen lässt. Während Sara ihre Flucht mit Mellefont anfangs als „Verbrechen“ (S.S.: III, 3; S. 42 und S.S.: III, 4; S. 49 etc.), bzw. sich selbst als „Vatermörderin“ (S.S.: IV, 1; S. 57) charakterisiert, ändert sie den Begriff während ihrer Diskussion mit Marwood in „Irrtum“ um (S.S.: IV, 8, S. 76), bis sie ihre Flucht letztlich nur noch als „Fehler“ bezeichnet (S.S.: V, 9; S. 89). Dies verweist zumindest teilweise auf eine Lösung von dem starren Tugendrigorismus, den sie am Anfang des Stückes vertreten hat.

[27] Vgl. Lessings Brief an Friedrich Nicolai vom November 1756, in welchem er schreibt: „Merken Sie aber wohl, daß ich hier nicht von dem Ausgange rede, denn das stelle ich in des Dichters Gutbefinden, ob er lieber die Tugend durch einen glücklichen Ausgang krönen, oder durch einen unglücklichen uns noch interessanter [Hervorhebung durch Verfasser; E.Tr.] machen will.“

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1743-1770, a.a.O., S. 121.

[28] Steinmetz, Horst: „Aufklärung und Tragödie. Lessings Tragödien vor dem Hintergrund des Trauerspielmodells der Aufklärung“, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, hrsg. von Gerd Labroisse, Band 1, Rodopi NV, Amsterdam 1972, S. 9.

[29] Als Vorlage für „Emilia Galotti“ benutzte Lessing neben den Romanen Samuel Richardsons die Virginia-Erzählung des Livius und einen Auszug aus dem Virginia-Drama des Don Augustino de Montiano y Luyando.

Lessing war sich des Doppelaspekts, der die „Emilia Galotti“ von seinen anderen Dramen unterschied, durchaus bewusst. Dies manifestiert sich v.a. darin, dass und wie er von der römischen Vorlage in grundsätzlicher Weise abgewichen ist. Bereits 14 Jahre vor der Fertigstellung des Manuskripts (nur drei Jahre nach der Publikation der „Miss Sara Sampson), weist er auf den Hauptunterschied zwischen den Virginiaerzählungen und der „Emilia Galotti“ hin. In einem Brief vom 21.01.1758 an Friedrich Nicolai beschreibt der Dramatiker, er habe die Geschichte der römischen Virginia von all jenem Stoff entfernt, welcher ihn für den Staat interessant machen könne. Nach Lessings Auffassung sei das Schicksal einer Tochter, für die ihre Tugend wichtiger als ihr Leben ist, und die für die Bewahrung ihrer Tugend vom eigenen Vater umgebracht wird, tragisch und fähig genug, die Seele des Zuschauers zu erschüttern und zum Mitleiden anzuregen.

Überdies verweist Lessing 1772 in einem Brief an seinen Bruder Karl darauf, „daß es weiter nichts, als eine modernisierte, von allem Staatsinteresse befreiete Virginia sein soll.“ Er stellt also eine Familienbeziehung sowie das Tugendthema, d.h. die Beziehung der Charaktere zu den Normen der kollektiven Moral, ins Zentrum der Darstellung. Damit rückt der direkte ‚Tugend’ - ‚Laster’ - Konflikt in den Hintergrund, bleibt aber, da er dem Stoff inhärent ist, als wesentlicher Problemkomplex bestehen.

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Auszug aus dem Trauerspiele Virginia des Don Augustino de Montiano y Luyando, in: Gotthold Ephraim Lessings Theatralischer Bibliothek 1745, hrsg. von J.E. Paul Toeche, Sammlung Toeche 1911, S. 117-208.

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1743-1770, a.a.O., S. 267.

Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1770-1776, hrsg. von Helmuth Kiesel, Band II / 2, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987, S. 362, aus der Reihe: Werke und Briefe in 12 Bänden, hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunther E. Grimm, Helmuth Kiesel u.a..

[30] Dass der Konflikt zwischen Tugend, Laster und eigener Sinnlichkeit trotzdem implizit das Stück dominiert, wird die folgende Analyse verifizieren.

[31] Vgl. Lessings Brief an seinen Bruder Karl vom 10. Februar 1772:

„Ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höheren Tugenden, als Frömmigkeit und Gehorsam.“

Lessing, Gotthold Ephraim: Briefe von und an Lessing 1770-1776, a.a.O., S. 352.

[32] Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2001, II. Aufzug, 2. Auftritt. Ich zitiere nach dieser Ausgabe, wobei ich mich im Folgenden darauf beschränke, die jeweiligen Stellen direkt hinter dem Zitat verkürzt anzugeben (hier z.B. Emilia Galotti: II. Aufzug, 2. Auftritt entspricht E.G: II, 2; Seite 21).

Final del extracto de 104 páginas

Detalles

Título
Weiblichkeitsentwürfe und empfindsame Moral in G.E. Lessings "Miß Sara Sampson" und "Emilia Galotti"
Universidad
Christian-Albrechts-University of Kiel
Calificación
1,0
Autor
Año
2006
Páginas
104
No. de catálogo
V75840
ISBN (Ebook)
9783638722490
ISBN (Libro)
9783638738736
Tamaño de fichero
845 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Weiblichkeitsentwürfe, Moral, Lessings, Sara, Sampson, Emilia, Galotti
Citar trabajo
Elena Tresnak (Autor), 2006, Weiblichkeitsentwürfe und empfindsame Moral in G.E. Lessings "Miß Sara Sampson" und "Emilia Galotti", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/75840

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