Sprache, Bewegung und Fremde im deutschsprachigen Werk von Yoko Tawada


Tesis de Maestría, 2007

86 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Einführung

I) Forschungsüberblick
Zusammenfassung

II) Textanalytischer Teil
1. Talisman
a) „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa
gibt es nicht“
b) „Eine Scheibengeschichte“
2. Die Theaterstücke
a) „Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt“
a1) „Fremde“ und Wassermetaphorik
a2) Tod, Sarg und weibliche Leiche
a3) „Sprache der Toten“ - „Sprache der Lebenden“
a4) Die Bedeutung der Zahlen im Prolog
a5) Die Stimmen
a5.1. Die Zahl „Eins“ oder der Bruder
a5.2.Die Zahl „Zwei“ oder die Schwester
a5.3.Die Zahl „Drei“ oder der Nachbar
a5.4.Die Zahl „Vier“ oder der Übersetzer
a6) Die Verwandlungen/Das Maskenspiel
b) „Wie der Wind im Ei“
b1) Zur Handlung und den zentralen Personenkonstellationen
b2) Fruchtbarkeits- und Schwangerschaftsmetaphorik
b3) Das Schreibprojekt der Frau
b4) Die Personen
b5) Zur Verknüpfung von Inhalt und Sprache im Stück
c) Zum Aufführungspotenzial beider Theaterstücke

Schluss

Einführung

Die mittlerweile sechsundvierzigjährige Schriftstellerin Yoko Tawada kommt als Neunzehnjährige mit der transsibirischen Eisenbahn nach Europa. Sie lässt sich in Hamburg nieder, studiert und promoviert dort und schreibt seit 1988 parallel auf Deutsch und Japanisch.

„Yoko Tawada (...) steht in der deutschsprachigen Literaturlandschaft einzigartig da“,[1] schreibt Florian Gelzer in einem Artikel in der Zeitschrift „Recherches Germaniques“. Doch worauf ist diese Einzigartigkeit zurückzuführen?

„Wer die Welt durch Tawadas japanische Brille sieht, nimmt unwillkürlich neue Dimensionen hinter den Dingen wahr“, schreibt Karin Yesilada in der TAZ.[2]

Yoko Tawada unterscheidet sich von anderen, vornehmlich älteren deutschsprachigen Autoren nichtdeutscher Herkunft, da ihre Texte über eine rein biographisch orientierte literarische Verarbeitung von persönlichen Migrations- und Fremdheitserfahrungen hinaus gehen.[3]

Yoko Tawadas Blick auf die „Fremde“ ist gerade kein explizit Japanischer. Den Texten der Essaybände „Talisman“ und „Überseezungen“ liegen zwar oft Alltagserfahrungen zugrunde, aber jene „Fremdheit“, die in den Texten meist durch die Reflexion einer Ich-Erzählerin präsent ist, ist eine, die sich innerhalb der Sprache selbst befindet. Die Fremdsprache ist also Ausgangspunkt für weitreichende sprachkritische Reflexionen. Über sie entlarvt Tawada die Entstehung bestimmter kulturell bedingter Wahrnehmungskategorien, die unseren Blick auf die Realität bestimmen. Tawada will hingegen mit Wahrnehmungskonventionen brechen, indem sie nicht, wie Sieglinde Geisel es treffend formuliert „über das Fremde schreibt“, sondern selbst „fremd schreibt.“[4]

Yoko Tawadas Arbeit enthält damit also nicht nur ein kulturkritisches Moment, das eine von bestimmten kulturell geprägten Vorannahmen durchsetzte Sprache aufdeckt, sondern auch ein kreativ-schöpferisches Moment. Ihre Sprachexperimente erproben neue Wahrnehmungsweisen, sind aber auch immer von Reibungen und Paradoxien bestimmt und sperren sich gegen alle Versuche der Kategorisierung, wie jene von Karl Heinz Ott. Er beschreibt den Blick Tawadas in der NZZ als „glasklare Trunkenheit“.[5]

Die Beschäftigung mit Werken von Yoko Tawada kann also für den Literaturwissenschaftler zu einer echten Herausforderung werden. Obendrein gehen inhaltliche und formale Ebene ständig ineinander über und gerade die Theaterstücke bilden ein dicht gewebtes Netz von assoziativ herstellbaren Zusammenhängen. Außerdem enthalten ihre Texte viele Querverweise und intertextuelle Bezüge, zum Beispiel zu europäischen Theoretikern, Philosophen und Ethnologen sowie zu aktuellen Debatten der Literatur- und Kulturwissenschaft. Eigentlich können auch einzelne Texte schwerlich ganz aus dem Gesamtkontext gelöst betrachtet werden. Manchmal ist ein kleiner Exkurs notwendig, ohne zu tief in eine dieser Debatten einsteigen zu wollen.

Ich möchte im Rahmen dieser Arbeit beleuchten, auf welche Weise Tawada das Thema „Fremde und Sprache“ literarisch entwickelt und weiterverarbeitet.

Dazu werde ich anhand zweier Essays aus „Talisman“ und „Überseezungen“ einige wahrnehmungs- und sprachkritische Dimensionen herausarbeiten und anhand zweier Theaterstücke verfolgen, wie sich Tawadas Begriff von „Fremdsprache“ von der Vorstellung einer konkreten „Fremdsprache“, wie „deutsch“ und „englisch“, welcher Erfahrungen in einer realen Umgebung zugrunde lagen, hin zu Überlegungen über eine generelle „Fremdheit“ von Sprache verschiebt, die nicht mehr im Außen beherbergt ist. Obwohl dies in den Essays bereits angedacht wird, gewinnt der Begriff der „Fremdsprache“ in ihren Theaterstücken eine völlig neue Dimension.

Ein erstes Kapitel widme ich ausgesuchten Texten aus der Sekundärliteratur. Ich beschränke mich dabei nicht, wie normalerweise üblich, nur auf Sekundärliteratur zu jenen Texten Tawadas, die ich im Rahmen dieser Arbeit anspreche. Zum einen, weil die Anzahl der literaturwissenschaftlichen Forschungsaufsätze zu Tawada ohnehin noch überschaubar ist, zum anderen auch, weil mich die jeweilige Herangehensweise der Forschungsaufsätze an Tawadas Schreibweise interessiert. Darauf folgt die Betrachtung der beiden Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ aus „Talisman“ und „Eine Scheibengeschichte“ aus „Überseezungen“, sowie der beiden Theaterstücke „Die Kranichmaske, die bei Nacht strahlt“ und „Wie der Wind im Ei“.

I) Forschungsüberblick

Ihre „Doktormutter“ Sigrid Weigelisteine der ersten, welche sich wissenschaftlich mit Yoko Tawada auseinandergesetzt haben. Sie beschreibt in ihrer 1996 gehaltenen und Tawada gewidmeten Laudatio deren „Sprache der Fremde“ folgendermaßen: „(...) nicht Wörter aus der Fremde, sondern Wörter, die (...) als Fremdkörper in der scheinbar so vertrauten Sprache erscheinen und aufgrund dieser Position mit jedem einzelnen Wort jene Urszene der Benennung wiederholen, in der Bedeutung entsteht (...).“[6]

Dabei seien ihre Werke oft geprägt von Gegensätzen, zum Beispiel der „Verwandlung des Staunens in Schrecken.“[7] Weigel hebt ihre generelle Obsession für Verwandlungen aller Art hervor: „So wie sich Dinge in Schrift, Apparate in Geister, Körper in Buchstaben verwandeln, so verwandeln sich bei ihr auch Dinge in Lebewesen und Menschen in Tiere (...).“[8] Die zahlreichen Vorgänge der Verwandlung zwingen uns, so Weigel, uns neu zu orientieren und unsere Werte und Wertungen zu hinterfragen.[9]

Sybille Cramer sieht Tawadas Erzählstil in Zusammenhang mit der Bewegung des Reisens: „Die urbildliche Form des Erzählens ist der Bericht über eine Bewegung (...).“[10] Dabei bezeichnet Kramer den Ort der Erzählstimme als „Zwischenraum“, wobei der Begriff in meinen Augen etwas unglücklich gewählt ist, da das Wort die Vorstellung einer Schnittmenge zweier abgetrennter Sphären provoziert. Was Cramer mit „Zwischenraum“ wohl zu beschreiben versucht, sind jene Überlagerungen der Erzählebenen und Verwandlungen, die auch Weigel erwähnt. Die Erzählposition befände sich „zwischen den Kulturen, zwischen den Sprachen, zwischen Orten, Menschen, zwischen Geschlechtern, zwischen Sprache und Körper.“[11]

Florian Gelzer hat 1998 die erste umfangreiche Forschungsarbeit zu Tawadas deutschsprachigem Schaffen vorgelegt. Auf sie nehme ich in meinen Ausführungen auch hauptsächlich Bezug. Die Metapher des „Heftklammernentferners“ aus einem ihrer „Talisman“-Essays sieht er als programmatisch für Tawadas Umgang mit der fremden Sprache: „Denn wie der Heftklammernentferner (...)“ wolle sie „(...) ‚Gedanken und Worte’ auseinander trennen“, die „(...) in der Saussureschen Zeichentheorie als ‚aneinandergeheftet’ gedacht werden.“[12] Das Erlernen der neuen Sprache werde so nicht mehr nur als beschwerlicher, sondern auch als befreiender Prozess dargestellt, der sowohl eine neue Wahrnehmung der Dinge bewirken könnte, wie auch poetische Sprachspiele jenseits der konventionellen Wortbedeutungen erlaube.[13]

Er geht von einem starken thematischen und formalen inneren Zusammenhang innerhalb ihres deutschsprachigen Werkes bis zur Entstehung seiner Arbeit aus.

Seiner Hauptthese zufolge existiert im bis dato erschienenen deutschsprachigen Werk Tawadas ein kohärenter Entwicklungszusammenhang. Im Verlauf des Schreibens vom „Blick einer Japanerin in Deutschland“, also der Darstellung von der Alterität der Fremdsprache und der Unfähigkeit, sich darin auszudrücken („Wo Europa anfängt“, „Das Bad“, „Talisman“, „Überseezungen“) wende sich Tawadas Blick immer mehr der Sprache an sich und damit auch der Suche nach neuen Ausdrucksformen zu, welche sich vor allem an Semantik, Klang und Form orientiere. Dort führe diese Suche zu einem freien Experimentieren mit der Sprache. So verlaufe die Hauptbewegung in Tawadas Schaffen „von einer Sprache der Fremde zu einer Fremde der Sprache.“[14] Die Theaterstücke begreift er als eine Art Höhepunkt von Tawadas künstlerischem Schaffen.

Trotzdem die Theaterstücke zum Teil zeitgleich zu den Essays erschienen sind, sehe auch ich eine Zäsur zwischen beiden. Kritik würde ich dort anbringen, wo Gelzer das Theaterstück „Wie der Wind im Ei“ zur „Summa summarum“aller poetologischen Überlegungen Tawadas hochstilisiert. Im Bemühen, eine dergestalt auf ein Ziel ausgerichtete Argumentationslinie beizubehalten, liegt die Gefahr, Vereinfachungen und Schematisierungen vorzunehmen und zu ignorieren, was nicht in den Argumentationszusammenhang passt.

Seine umfangreiche Arbeit bietet aber in jedem Fall einen umfangreichen thematischen wie formalen Überblick über die Hauptaspekte des bis dato erschienenen deutschsprachigen Werkes und seiner intertextuellen Bezüge.

Innerhalb der neueren Forschung nach Gelzer erschienen viele Aufsätze, die ein Gedankenkonzept, welches einer Debatte der westlichen Literaturwissenschaft oder Kulturwissenschaft entlehnt ist, auf einen oder mehreren von Tawadas Texten anwenden. Im besten Fall entstehen dabei Arbeiten, die vor einem solchen Hintergrund neue Lesarten entwickeln. In weniger geglückten Fällen verstellt ein solches Konzept den Blick auf den eigentlichen Text. Eine dritte Herangehensweise verzichtet völlig auf theoretische „Untermauerung“, was sehr viel Mut seitens des Forschers erfordert, bereits beschrittenes, und damit gesichertes „wissenschaftliches Terrain“ hinter sich zu lassen und sich einer Textstruktur zu stellen, bei der immer die Gefahr besteht, sich in dem Strudel von Assoziationen und Bezügen, den die Texte anbieten, zu verlieren.

In die erste Kategorie fällt zum Beispiel eine sehr fruchtbare Arbeit aus der Kulturwissenschaft von Julia Genz. Sie nimmt den „Glottophagie“- Begriff von Louis Jean Calvet zum Ausgangspunkt und überprüft, inwieweit dieser Begriff zur Interpretation von Texten Yoko Tawadas und Stephanie Menzingers behilflich sein kann. Glottophagie wird von Calvet in Zusammenhang mit dem Kolonialismus diskutiert und als „Sprachenfresserei“ der Kolonisatoren im Gegensatz zur vermeintlichen „Körperfresserei“ der Kolonialisierten verstanden. Konkret bedeutet der Begriff die „Ersetzung der in einem Land üblichen gesprochenen Sprache durch die Kolonialherren (...).“[15]

„Sprachenfresserei“, so Genz, kehre auch in Texten in veränderter Form wieder. Bei Tawada zum Beispiel in Form von „Zerstörung, Verwandlung, Verarbeiten, Aneignen und Vergessen (Ausscheiden) sowie dem Aufbau neuer Substanzen aus zerlegten Bestandteilen.“[16]

Im „Talisman“-Essay: „Im Bauch des Gotthards“ funktioniere Sprachenfresserei als Katharsis im Sinne einer sprachlichen Klärung: Eine sukzessive Befreiung der Sprache von ihren kulturell bedingten Konnotationen würde dort sichtbar, kulturelle Missverständnisse würden dabei Schicht um Schicht abgetragen und zwar solange, bis letzten Endes nur noch eine weisse Papierseite übrig bliebe.

Claudia Breger widmet sich dem Begriff von „Identität“ in Texten Tawadas: Dafür nimmt sie Überlegungen zur Identitätskonstruktion aus der angloamerikanischen Postkolonialismus- Debatte zu Hilfe. Auch sie sieht, ähnlich wie Cramer, Tawadas Identitätsbegriff in einem „Dazwischen“ der Überschneidungen eines Raumes angesiedelt, der sich selbst immer wieder verändert.

Als eine grundlegende literarische Strategie, diese komplexe Natur von Identitäten literarisch darzustellen, spricht sie die „Mimikry“ an:

In Tawadas Text „Wo Europa anfängt“ zersetze die „Mimikry“ der Ich-Erzählerin die „Grenzen, die diskursiv durch Sprache hergestellt, verschoben und rekonfiguriert werden“[17], indem der Text Prozesse der Grenzziehung mimetisch nachstelle und sie dabei eigentlich verstelle: Grenzen würden zu einer Frage der Perspektive und damit die „Grenzwertigkeit jenes diskursiven Gebietes“ aufgezeigt, das im „Bhabha’schen Sinne“ zum „Third Space“ der Neuverhandlung von Bedeutung werden könne.[18]

Somit glaubt Breger, dass die Formationen von Identität, die Tawadas Texte anbieten, gerade nicht mit den von der postkolonialen Theorie bereitgestellten Kategorien erfasst werden können. Sie benützt diese lediglich als Ausgangsbasis, um aufzuzeigen, inwieweit Tawada darüber hinaus geht.

Sabine Fischer und Katrin Schestokat liefern zwei hingegen Beispiele dafür, wie theoretische Konzepte den Blick auf die Texte eher verstellen als erhellen können.

Fischer veröffentlichte 1998/99 mehrere Aufsätze zu „Das Bad“ und „Ein Gast“. Sie liefert darin Interpretationen, die sich zwischen feministischer Theorie und Psychoanalyse bewegen. Auch wenn sie immerhin feststellt, dass Tawadas „Subjekte“ immer in Bewegung sind, schreibt ihre Analyse von „Das Bad“ die Handlung auf ein bestimmtes Szenario fest: „Tawadas Darstellung weiblichen Identitätswandels unter dem Einfluss zweier Kulturen konzentriert sich auf die Tätigkeiten des Unbewussten. Sie schildert Träume, Phantasien, Wahrnehmungsdeformationen und psychosomatische Störungen und bringt damit die verborgenen Ängste und Wünsche ihrer Protagonistinnen an die Oberfläche sowie die Ungereimtheiten und Brüche in verschiedenen Identitätskonstellationen dieser Figuren: Unter dem Druck europäisch-männlicher Fremdbestimmung pendeln die Ich-Erzählerinnen ständig zwischen Anpassung und Verweigerung.“[19] Fischers Psychologisierung von Tawadas Ich-Erzählerinnen bewirkt, dass ihr wesentliches entgeht: Der Begriff fester Identitäten, wie überhaupt fester umgrenzter „Gebilde“, ist bei Tawada an sich zu hinterfragen. Figuren als solche existieren, zumindest nicht ohne Widersprüche und Überschneidungen verschiedener Erzählinstanzen, bei ihr ohnehin nicht.

In einem späteren Aufsatz[20] formuliert Fischer reflektierter und nimmt einige Pauschalisierungen vorsichtig wieder zurück: „Thematik und Schreibweise verbinden Tawadas Literatur mit einem in der westlichen Welt geführten wissenschaftlichen Diskurs, in dem sich Redeweisen (Hervorheb. von mir) über die Beziehung von Rationalität und Körperlichkeit, über Weiblichkeit und Fremdheit und über das körperliche Schreiben überlappen.“[21] Um Ungereimtheiten und Brüche in den Identitätskonstellationen zu verdeutlichen, bediene sich Tawada „einer traumartigen, metaphorischen Schreibweise (Hervorheb. von mir).“[22] Der Traum stelle dabei „ein Theater im Inneren des Körpers“ dar und Tawadas weibliche Traumfiguren stellten sich als „widersprüchliche, wandelbare Subjekte“ dar, deren „Verhaltensweisen sich nicht restlos mittels gängiger Theorien erfassen“ ließen.[23]

Karin Schestokats Argumentation funktioniert ähnlich wie jene Fischers, allerdings operiert sie mit Thesen aus der angloamerikanischen Postkolonialismusdebatte. Im Gegensatz zu Breger, die ja gerade die Vieldeutigkeit und Komplexität der Textbewegungen zu erkunden sucht, nimmt Schestokat einfach das Hybriditätskonzept von Homi Bhabha und „stülpt“ es buchstäblich Tawadas Text „Wo Europa anfängt“ über.

Dieses Verfahren ist vor allem dort problematisch, wo sie Hybridität zwar, Homi Bhabha folgend, korrekt als Grenzbereich definiert, der sich binären Gegensätzen widersetzt, dann aber andererseits den Begriff auf Tawadas Texte so überträgt, dass Polaritäten dort gerade nicht überwunden, sondern neu zementiert werden: Sie verbinde „ (...) deutsche mit japanischen (Hervorheb. von mir) Konzepten“ und schaffe so Texte „ (...) die sich weder der einen noch der anderen Kulturtradition exklusiv zuordnen lassen.“[24]

Der letzte Satz von Schestokats Aufsatz macht sogar explizit deutlich, dass sie das „Forschungsobjekt“ einfach umdreht, nicht die Texte, sondern den Begriff in den Mittelpunkt stellt und sich damit praktisch jede Möglichkeit des Erkenntnisgewinnes aus den Texten selbst nimmt: „Hybridität muss vielmehr immer wieder neu erfahren und erforscht werden und die Werke Tawadas bieten dazu einen einladenden Einstieg.“[25]

Andrea Krauß und Gerhard Bauer liefern zwei Aufsätze mit bewusst sehr offenem Blick. Beide gehen davon aus, dass Tawadas Schreibstrategie per se eine Unterwanderung von Festschreibungen jedweder Art betreibt.

Gerhard Bauer verzichtet völlig auf theoretische Konzepte und liefert stattdessen eine textnahe und detaillierte, mit dem Original von Ovid vergleichende Beschreibung der Verwandlungsbewegungen in Tawadas Metamorphosen-Bearbeitung „Opium für Ovid“: „Die leibliche Ausstattung, die Sinne, die Lebenseinrichtung, die Vorstellungen inklusive Selbstgefühl und Selbstbewusstsein, die Sprache und die gedankliche Ordnung scheinen insgesamt nur dazu gemacht zu sein, (...) daß sie den gegebenen Zustand überschreiten.“[26] Er sieht darin, ähnlich wie Breger, jedoch etwas einfacher formuliert, eine nicht kriegerische Strategie, mit der sie auf die „Zustände dieser Zeit in einer beweglichen Manier“ reagiert.[27]

Tawada mache Gesetzmäßigkeiten als reine Vorstellungen, als „aus Worten geknüpft“ sichtbar, hebe sie dadurch einfach auf und erfinde einfach auf eine spielerisch-heitere Weise „neue Möglichkeiten des Verkehrs“: Alles verlebendige sich, so auch die Worte selbst: „Die Teilchen organisieren sich ohne Verabredung.“[28] Er nennt Tawadas von Zufall und Spiel getragene Poetik: Ein „Kaleidoskop des Disparaten“ und ein „fruchtbares Chaos.“[29]

Dadurch entstehe ein neuer experimenteller Raum, der „ungesichert“ bliebe: „Zumutungen aller Art, Übergriffe, Verführungen bestimmen das Geschehen.“[30]

Auch Andrea Krauß' Aufsatz stellt den Aspekt der Verwandlungen in den Texten Tawadas ins Zentrum. Das Wasser als „bewegtes, formloses Element“ dem in Tawadas Texten auch inhaltlich eine große Bedeutung zukommt, nimmt sie als Metapher für Tawadas Sprache.

Über die Wassermetaphorik beschreibt sie nicht nur das Moment des Transitorischen, Flüchtigen und Beweglichen, sondern sie argumentiert auch, dass Tawada über jene dem Wasser ähnliche Schreibweise einen Zusammenhang von Sprache, Körperlichkeit und Globalisierung herstellt: Das Wasser tauche auf, wo „Grenzen nur allzu natürlich erscheinen: in Hinsicht auf den nationalen Körper und den Körper des Individuums.“[31]

Um die Funktion dieser Schreibstrategie zu ergründen, bedient sich Fischer des Konzeptes „epischer Naivität“ bei Adorno, zu welchem sie sogar eine intertextuelle Referenz vermutet. Das „Rauschen“ sei der „Laut der epischen Rede, in dem das Eindeutige, Feste mit dem Vieldeutigen, Verfließenden zusammentrifft, um sich gerade wieder davon zu scheiden.“[32] Das Konzept epischer Naivität nun dränge auf ein „Vergessen“ des Wunsches nach Eindeutigkeit. Statt den Gegenstand eigentlich zu erkennen, soll er vergessen und übersponnen werden.[33]

Krauß ist sehr vorsichtig im Übertragen bestimmter Diskurse auf Tawadas Texte und spricht deshalb nur von einer „ Rhetorik (Kursivschreib. von mir) des Unbewussten“, in welcher Grenzen verschwimmen und verschiedene Erzählebenen übereinandergeblendet werden.

Denn die Wassermetaphorik signalisiere eben gerade die „Abkehr von einem festen Standpunkt und die Hinwendung zum dynamischen Zwischenraum, zur Dislozierung und kulturellen Überschreitung.“[34]

Zusammenfassung der Forschung

Es existieren im Vergleich zu anderen deutschschreibenden Autoren nichtdeutscher Herkunft auffallend viele wissenschaftliche Aufsätze über Yoko Tawada, welche dadurch mittlerweile einen eigenständigen Platz innerhalb der deutschen Literatur innehat. Oft wird Tawada auch im Rahmen von Untersuchungen über mehrere Autoren deutscher Herkunft ohne Migrationshintergrund diskutiert. Eine rein inhaltliche, biographische Sichtweise auf die Prosa, wie sie laut Florian Gelzer für die Anfänge der Tawada-Rezeption und in frühen Zeitungsrezensionen typisch war,[35] ist so gut wie verschwunden.

Schwerpunkte der Forschung über Tawada sind deren Sprache und Identitätskonstruktion, wobei fast alle Forschungsaufsätze dem Moment der Bewegung und Verwandlung besondere Bedeutung zumessen.

Gerade neuere Forschungsarbeiten aus dem deutschsprachigen Raum versuchen nicht mehr, Tawadas komplexe Schreibweise zu „enträtseln“, sondern gehen davon aus, dass Tawada bewusst vieldeutig, komplex und rätselhaft schreibt und fragen eher nach der Funktion dieser Schreibweise.

Obgleich viele Forschungsaufsätze Theoriekonzepte zu Hilfe nehmen, scheint Tawadas Schreibweise und Metaphorik die Grenzen dessen, was mittels gängiger Theoriediskurse erfassbar ist, zu sprengen.

So ist es vielleicht auch nicht verwunderlich, dass jene Aufsätze, die bei ihrer Erforschung der Schreibweise Tawadas mit theoretischen Konzepten im Hintergrund arbeiten, sofern sie diese so gebrauchen, dass der Blick auf die Texte nicht verstellt wird, zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie jene Forschungsaufsätze, die darauf verzichten.

Tawadas Schreiben scheint bestimmt von Überraschungsmomenten, der Herauslösung einzelner Begrifflichkeiten aus ihrem gewohnten Kontext und deren anschließender Neukombination. Ihre sprachlichen Neuschöpfungen funktionieren nach ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, die alles Feste stetig unterwandern und dabei mit unserem Erwartungshorizont brechen. Dies birgt für einige Forscher ein subversives Potenzial des aktiven Widerstands gegen herrschende Ordnungen. Indem Realität als sprachlich konstruiert dargestellt wird, regt Tawada uns zur Hinterfragung unserer eigenen Kategorisierungen und Wertzuschreibungen an.

II) Textanalytischer Teil

1.Talisman

Der Essayband „Talisman“ erschien 1996 und ist Tawadas bekanntestes Buch in deutscher Sprache. Die Gattung der achtzehn Texte dieses Bandes, die von mir der Einfachheit halber als „Essays“ bezeichnet werden, ist nicht eindeutig auszumachen. Fiktionale Elemente mischen sich mit autobiographischen Inhalten, reflexive Passagen und poetologische Statements sind so ineinander verwoben, dass der eigentliche Text oft zum Meta-Text wird, beziehungsweise seinen eigenen Metakommentar bereits enthält.

Die beiden Essays „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“ und „Eine Scheibengeschichte“ möchte ich im Hinblick darauf lesen, wie Tawada über die Ich-Erzählerin einen Zusammenhang zwischen Fremdsprache und Realitätswahrnehmung entwickelt und so die Begegnung mit der Fremdsprache bei dieser Überlegungen über eine „andere“ Art der Wahrnehmung freisetzt und letztlich zum Wunsch führt, eine „neue Sprache“ zu erfinden.

a) „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“

Der Titel von Tawadas Essay „Eigentlich darf man es niemandem sagen aber Europa gibt es nicht“ suggeriert, dass hier etwas Kurioses und Überraschendes, ja Skandalöses behauptet wird, das man niemandem zu erfahren zumuten kann. Etwas, das aufgrund des allgemeinen Konsenses als existent betrachtet wird, könnte eigentlich genauso gut auch nicht existent sein.

Die Proklamation der Nicht-Existenz „Europas“ als feststehende Tatsache erreicht beim Leser jedoch eben gerade im Gegenteil, dass dieser darüber reflektiert, ob das, was wiederum er vermeintlich als wahr erachtet, wirklich wahr ist.

Der Essay ist in sieben Abschnitte untergliedert in denen eine Ich-Erzählerin vordergründig über „Europa“ reflektiert, eigentlich „Europa“ jedoch als etwas entlarvt, was lediglich durch die Sprache, mit der über „Europa“ gesprochen werden kann, gebildet wird.

„Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Xander, einer Figur aus meiner Erzählung Das Bad (Kursivschreib. im Originaltext). Damals betrachtete Xander die ‚weiße’ Hautfarbe als einen Bestandteil seines Körpers und nicht als Metapher.“[36]

Den Beginn des Essays bildet ein fiktiver „Dialog“ zwischen Xander, der bestimmte Annahmen über die Realität aufstellt und einer Ich-Erzählerin, die diese permanent hinterfragt. Dass die Ich-Erzählerin hier Xander als aus „meiner Erzählung“ stammend bezeichnet, suggeriert zwar eine Identifizierung mit der Autorin Tawada, jedoch gehört es zur Strategie Tawadas, dass diese bewusst Überschneidungen mit zwischen der Autorin und ihren Figuren erzeugt um diese anschließend wieder zu brechen.

„‚Glauben Sie wirklich, daß die Haut eine Farbe hat?’ (...)

Er lachte kurz und antwortete: ‚Was für eine Frage. Oder glauben Sie vielleicht, daß die Farbe von Ihrem Fleisch kommt?’

Ich erklärte ihm folgendes wie eine Physiklehrerin: ‚Das Fleisch hat keine Farbe. Die Farbe entsteht durch das Spiel des Lichtes auf der Hautoberfläche. In uns gibt es keine Farbe.’“[37] (Kursivschreib. im Originaltext)

„Xander“ hat hier eine ähnliche Funktion wie in Tawadas früherer Erzählung „Das Bad“, weswegen ich bisweilen auf diesen Text zurückgreife. Er steht stellvertretend für jemanden, dem es nicht bewusst ist, dass seine Wahrnehmung der Realität von seiner Sprache geprägt ist und er nichts anderes wahrnehmen kann, als das, was ihm sein Sprachschatz vorgibt. Ihm ist auch nicht bewusst, dass diese Art der Wahrnehmung auf der permanenten Erschaffung und Aufrechterhaltung von polaren Gegensätzen gründet. Wenn er „Ich“ sagt, erschafft er gleichzeitig auch immer etwas, was nicht „Ich“ ist, das „Andere“ kund somit auch das „Fremde“.

„Xander wurde unruhig und sagte: ‚Aber das Licht spielt auf eurer Haut anders als auf unserer (Hervorheb. der Verf.)’.“

Dass er die Welt nur als Summe der von ihm wahrgenommenen Bilder begreift, engt seinen Blickwinkel ein: Denn er interpretiert die wahrgenommenen Bilder in einer Weise, die ihm seine Sprache vorgibt. Dass einer solchen Wahrnehmung auch ein Gewaltpotenzial inne wohnt, schildert Tawada in der Erzählung „Das Bad“. Wie ein Fotograf „ätzt“ Xanders Blick die Gestalt einer Japanerin erst auf Papier. Der Vorgang des Fotographierens versinnbildlicht dort eben diesen Prozess der unbewussten Bedeutungszuschreibung.[38] In ihrer Wortwahl verknüpft Tawada Xanders Art zu schauen dort sogar mit der Metaphorik des Tötens. Den Auslöser des Fotoapparats betätigt er wie einen „Gewehrabzug“. Xanders Art der Wahrnehmung beruht auf dem Gefühl des Getrenntseins von seiner Umgebung, denn sein eigenes „Ich“ konstituiert sich in Abgrenzung zum „Anderen“. Er teilt die Welt in „Subjekte“ und „Objekte“ auf, das „Andere“ bzw. das „Fremde“ wird damit automatisch zum „Objekt“. In letzter Konsequenz führt seine Wahrnehmung zu rassistischen und neo-kolonialistischen Haltungen: Im „Bad“ hat Xander die Macht, mit seinem Blick die Ich-Erzählerin in doppelter Weise zu „kolonialisieren“, als „Fremde“ und auch als Frau.

Im „Europa“-Essay nun antwortet die ehemals stumme und passive Ich-Erzählerin aus „Das Bad“ auf seinen Blick, indem sie von der Position des „Anderen“ aus zurück schaut.

„Das Licht spielt auf jeder Haupt anders; bei jedem Menschen, in jedem Monat und an jedem Tag. Ohne Licht gibt es keine Farbe, und wenn man sich in einer Finsternis befindet, ohne ihr etwas Negatives zu unterstellen, so bietet sie uns die Chance, unsere Augen von den täglichen Bildern zu befreien.“[39]

Diese neue Wahrnehmung der Ich-Erzählerin wird als ein Akt der Befreiung vorgestellt, nämlich von „täglichen“ Bildern. Das Resultat dieser „Befreiung“ ist allerdings erst einmal Dunkelheit, ein Zustand des Nichtwissens, der auch Angst einflössend sein kann, weil die Orientierung verloren geht. Die Ich-Erzählerin begreift jedoch genau jenen Zustand der Dunkelheit und der Desorientierung als Chance der Freisetzung von einer völlig neuen Wahrnehmung.

Die Ich-Erzählerin aus „Das Bad“ hat den „fremden Blick“ Xanders in unangenehmer Weise am eigenen Körper erfahren und hat so den Zusammenhang zwischen Sprache und Machtverhältnissen begriffen. Sie ist jedoch dadurch, dass sie selbst zum „Objekt“ seiner Wahrnehmung geworden ist, erkenntnisfähig geworden, hinter die Zusammenhänge zwischen Sprache und „Realität“ zu sehen und weiß darum, dass sich zwischen Sprache und Wahrnehmung tatsächlich ein „Graben“ auftut, den sie nutzen kann, um sich aus jenem Machtverhältnis zu befreien:

„Ich möchte nicht jeden Menschen optisch wahrnehmen, geschweige denn, mir über jede Gestalt eine Meinung bilden, weil dadurch ein umgekehrter Prozess stattfinden würde: Mein Körper würde dann auch zu etwas werden (Hervorheb. von mir), das durch den Blick der anderen stets neu gebildet werden muss.“[40]

Dadurch, dass die Ich-Erzählerin des Europa-Essays im Konjunktiv spricht, unterscheidet sie sich auch von jener Ich-Erzählerin aus „Das Bad“.

Mit dem vermeintlichen „Erkenntnisgewinn“ geht allerdings eine Problematik einher: Auch die Ich-Erzählerin lebt innerhalb einer durch Sprache strukturierten „Realität“. Obwohl sie selbst einer Wahrnehmungsweise wie Xander sie hat, zu entkommen sucht, wird sie immer wieder in eine ähnliche Rolle wie jene Xanders gedrängt:

„Es wird zwar akzeptiert, dass man eine negative Reaktion zeigt, aber keine Reaktion zu zeigen, ist nicht erlaubt. Oft musste ich in der U-Bahn die Augen schließen, weil diese Aufgabe für mich zu viel wurde.“[41]

Trotzdem begibt sich die Ich-Erzählerin auf eine Suche nach einer „anderen“ Wahrnehmung, die dem entgegengestellt werden könnte: Sie schlägt einen Blick vor, der die Phänomene der Außenwelt wahrnimmt, ohne sie zu bewerten und so eine Erweiterung des Wahrnehmungsspektrums zu erreichen.

„Aus Faulheit übertragen wir Sprachbilder ins Optische, anstatt das Spiel des Lichtes in Farbe zu übersetzen. Es ist ein Schwarzer, sagt das Gehirn, und die Augen sind dann nicht mehr fähig, seine Haut wirklich wahrzunehmen. (...) Da ich nicht gewohnt war, auf die Farbe der Haare und der Augen zu achten, fiel es mir in Europa nicht besonders auf, daß sich bei Europäern im Tageslicht andere Farben reflektieren als bei mir.“[42]

Für die Ich-Erzählerin scheint jedoch eine völlig von Bedeutungszuschreibung freie Wahrnehmung unmöglich, denn ihre Wahrnehmung orientiert sich an dem Bestreben, jener Position des „Anderen“ in welche sie sich in „Europa“ gedrängt sieht, zu verlassen. So wird auch „Europa“ schließlich von der Ich-Erzählerin in die Position des „Anderen“ gedrängt:

„Ich muss mir, um Europa sehen zu können, eine japanische Brille aufsetzen.“[43], lässt Tawada ihre Ich-Erzählerin im fünften Absatz des Textes sagen.

Einige Rezensenten wie zum Beispiel Schestokat verleitet dies zu der Annahme, dass Tawada „deutsche mit japanischen Konzepten“ verbinde.[44]

Xander steht zwar im Essay stellvertretend für jenen Blick, den die Ich-Erzählerin in Europa erlebt hat und die Ich-Erzählerin ist eine Japanerin, jedoch geht es letztlich nicht um Nationalitäten sondern um generelle Polaritäten von „Eigen“ und „Fremd“.

In einem Verständnis, in welchem es „Europa“ nicht gibt, kann nämlich gar keine „japanische Sicht der Dinge“ geben: „Meine japanische Sicht ist insofern keinesfalls authentisch, trotz des Faktums, daß ich in Japan geboren und aufgewachsen bin.“[45]

Die „japanische Brille“ kann vielmehr als ein imaginäres Konstrukt verstanden werden, das eine (vermeintlich) neutrale Beobachterposition zu ermöglichen scheint.

Durch die „japanische Brille“ kann die Ich-Erzählerin Dinge von „Europa“ wahrnehmen, die sie sonst nicht wahrnehmen könnte, zum Beispiel „(...) daß ein europäischer Körper immer nach einem Blick sucht.“[46]

Doch lockt Tawada den Leser mit ihrem Konstrukt der „japanischen Brille“ auf eine trügerische Fährte. Denn das Aufsetzen einer „Brille“ suggeriert eine selbstbestimmte und anscheinend reversible Geste, denn wie ein Kleidungsstück oder auch eine Maske kann eine Brille nach Belieben aus- oder angezogen werden. Der Akt beinhaltet also ein spielerisches und rituelles Moment. Darin unterscheidet sich eine solche Wahrnehmung aber nur scheinbar von Xanders Blick, der diesen selbstbestimmten, spielerischen Umgang mit seiner Wahrnehmung nicht beherrscht.

„Es ist ein bisschen ein ethnologischer Blick“, sagt Tawada selbst in einem Interview.[47]

Dieser „ethnologische Blick“ ermöglicht der Ich-Erzählerin von einem distanzierten Standpunkt, Beobachtungen zu machen:

„Unter dem Wort ‚Europa’ kann ich mir zwei Theaterfiguren vorstellen: Die eine ist weiblich, die andere männlich. Die männliche Figur der Europa wünscht sich vor allem, dass sie vom Publikum betrachtet wird. Man darf sie zwar kritisieren, man darf aber auf keinen Fall sagen, dass es sie nicht gibt (...).“ Kritik sei sogar „eine Grundform ihres Denkens.“[48]

„Europa“ ist unter dem Blick der Ich-Erzählerin nur mehr ein Konstrukt, dessen Existenz nur dadurch zu beweisen ist, dass es etwas gibt, von dem „sie“ sich abgrenzen kann. Wir erfahren nicht, wo die Ich-Erzählerin sich genau aufhält und ihre Beobachtungen macht, aus denen sie dann ihr imaginäres „Europa“ zusammenbaut, als wäre es ein einziges Land mit einer homogenen Einwohnerschaft.

Europa, so vermutet die Ich-Erzählerin, könne aufgespalten worden sein, in einem männlichen und einen weiblichen Teil. Während der männliche Teil sich über Diskurs, Kritik und das Gesehenwerden definiert, hat der weibliche Anteil „in einer mythischen Zeit“ seinen Körper verloren: „Ich sah ab und zu in einer Kneipe einige als Ritter verkleidete Europäer an ihrem Stammtisch sitzen, um sich über die verlorene Europa zu unterhalten. Sie stellten jedesmal erneut fest, daß sie abhanden gekommen sei und diskutierten darüber, wie man sie wieder finden könnte.“[49]

[...]


[1] Gelzer 1999, S.67

[2] Yesilada, Taz, 25.6.1996

[3] Gelzer 1998, S.11, ebd., S.67. Er wendet allerdings im selben Kapitel auch ein, dass Kategorien wie „Literatur der Migration“ oder „interkulturelle Literatur“ aufgrund von neueren Entwicklungen mittlerweile ohnehin fragwürdig geworden sind: Diese Begriffe suggerieren die Existenz einer homogenen Gruppe, die sich aus einer Abgrenzung zur „Restgermanistik“ formiere, was allerdings nicht der Fall ist. Deshalb operiere ich mit diesen Kategorien im Hinblick auf Tawada auch gar nicht erst. Siehe dazu: ebd., S.9-18.

[4] Geisel, NZZ, 23.02.2001

[5] Ott, NZZ, 22.6.2000

[6] Weigel 1996, S.375

[7] ebd., S.375

[8] ebd., S.377

[9] ebd., S.373 ff.

[10] Cramer 1996, S.161

[11] ebd., S.161

[12] Gelzer 1998, S.50

[13] ebd., S.49 ff.

[14] ebd., S.19

[15] Genz 2005, S.155 ff.

[16] ebd., S.159 ff.

[17] Breger 1999, S.194 ff.

[18] ebd., S.194 ff.

[19] Fischer. In: Howard 1997, S.64

[20] Fischer. In: Fischer/Mc.Gowan 1997, S.101

[21] ebd., S.101

[22] ebd., S.104

[23] ebd., S.102 ff.

[24] Schestokat 2000, S.33

[25] ebd., S.38

[26] Bauer 2002, S.794

[27] ebd., S.789

[28] ebd., S.801

[29] ebd., S.803

[30] ebd., S.800

[31] Krauß 2002, S.55

[32] Adorno 1997, S.34

[33] Krauß 2002, S.57 ff.

[34] ebd., S.61

[35] Gelzer 1998, S.14-18

[36] Talisman, S.45

[37] ebd., S.45

[38] Das Bad, 2.Kapitel, ohne Seitenzahl

[39] Talisman, S.46

[40] ebd., S.47

[41] ebd., S.47

[42] ebd., S.46

[43] ebd., S.50

[44] Schestokat 2000, S.33

[45] Talisman, S.50

[46] ebd., S.47

[47] von Saalfeld 1998, S.189

[48] Talisman, S.48

[49] ebd., S.48

Final del extracto de 86 páginas

Detalles

Título
Sprache, Bewegung und Fremde im deutschsprachigen Werk von Yoko Tawada
Universidad
Free University of Berlin  (Insitut für Deutsche Philologie)
Calificación
1,7
Autor
Año
2007
Páginas
86
No. de catálogo
V76850
ISBN (Ebook)
9783638734264
Tamaño de fichero
581 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Sprache, Bewegung, Fremde, Werk, Yoko, Tawada
Citar trabajo
Petra Leitmeir (Autor), 2007, Sprache, Bewegung und Fremde im deutschsprachigen Werk von Yoko Tawada, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/76850

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