Die hier vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Lajos Egris Werk „The Art of Dramatic Writing“ und seine Anwendung als Drehbuchtheorie. Obwohl es in dem 1946 erschienen Buch in erster Linie um Theaterstücke geht bieten Egris Thesen nach meiner Auffassung eine nicht zu unterschätzende Abhandlung über Stoffentwicklung im Allgemeinen, die auch für das Kino die gleiche Relevanz hat.
Lajos Egri will mit seinem Buch nicht in erster Linie eine Anleitung geben, wie man am besten gute Drehbücher schreibt, sondern möchte durch seine Arbeit auch den Zuschauern und „Laien“ helfen, dramatische Strukturen besser verstehen zu lernen. Um die Besonderheiten seiner Konzepte besser verständlich zu machen, vergleiche ich seine Thesen im dritten Kapitel dieser Arbeit mit anderen Drehbuchtheorien und werde anschließend im letzen Teil untersuchen, inwiefern sich Egris Thesen auf die Analyse von Filmen anwenden lässt, und zwar am Beispiel des Billy Wilder-Klassikers „Sunset Boulevard“.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Charakter als tragendes Element in der Drehbuchtheorie von Lajos Egri
3. Lajos Egri versus Syd Field – ein kritischer Vergleich
4. „The Art of Dramatic Writing“ in der Praxis – eine Analyse zu Sunset Boulevard
5. Resümee
A. Literaturliste
B. Daten zu Sunset Boulevard
1. Einleitung
„The Art of Dramatic Writing“ von Lajos Egri ist im Grunde gar keine Drehbuchtheorie. Besser gesagt, sie beschäftigt sich nicht in erster Linie mit filmischer Arbeit, sondern stellt eine Theorie dramatischer Struktur im Allgemeinen dar. In diesem Buch, das bereits 1946 erschien, geht es in erster Linie um Theaterstücke. Nichtsdestotrotz bieten Egris Thesen nach meiner Auffassung eine nicht zu unterschätzende Analyse darüber, wie Figuren, Handlungen und Konflikte entwickelt werden (sollten), unabhängig davon, in welchem Medium wir uns bewegen.
Lajos Egri will mit seinem Buch nicht in erster Linie eine Anleitung geben, wie man am besten gute Bücher schreibt, sondern möchte durch seine Arbeit auch den Zuschauern und „Laien“ helfen, dramatische Strukturen besser verstehen zu lernen. Damit unterscheidet er sich bereits grundlegend von vielen anderen Autoren, besonders auch von Syd Field, auf dessen Theorie ich im dritten Kapitel vergleichend eingehen werde.
Anschließend möchte ich im vierten Teil untersuchen, inwiefern sich Egris Thesen auf die Analyse von Filmen anwenden läßt, und zwar am Beispiel des Billy Wilder-Klassikers „Sunset Boulevard“.
2. Der Charakter als tragendes Element in der Drehbuchtheorie von Lajos Egri
Bereits der Untertitel von „The Art of Dramatic Writing – Its Basis in the Creative Interpretation of Human Motives“ weist auf die Personen als Grundlage von Egris Arbeit hin. Nach seiner Beschreibung basiert seine gesamte Theorie auf dem sich ständig verändernden Charakter, der immer wieder, meist sehr heftig, auf konstante innere und äußere Stimuli reagiert. (Egri, 1946) Neben dem Charakter als solches spielen für ein gutes Skript natürlich weitere Elemente eine Rolle, die keineswegs losgelöst von einander zu betrachten sind, so wie der Charakter sich erst mit diesen und durch sie entwickeln kann. Diese weiteren Elemente sind laut Egri die Prämisse und der Konflikt. Zusammen mit den Charakteren bilden sie also die Grundlage seiner Theorie. Sobald eines dieser Elemente vernachlässigt wird oder gar fehlt, wird es nach Egris Ansicht unmöglich, ein gutes Stück zu schreiben, und eine Handlung zu entwickeln, die für den Zuschauer nicht nur interessant, sondern auch plausibel ist.
Ausgangspunkt ist die Prämisse. Ohne sie ist es unmöglich, seine Charaktere zu kennen, beziehungsweise kennenzulernen . „The premise is the motivating power behind everything we do“, schreibt Egri (1946, S.9). Sie deutet also die Kraft an, welche die Charaktere vorantreibt und ihr Handeln bestimmt. Es geht dabei aber weniger um ein ganz konkretes individuelles Motiv, als vielmehr um allgemeine Motivationen, wie z.B. Eifersucht, Mißtrauen und Liebe. Das heißt nicht, daß die Prämisse eine universale Wahrheit enthalten muß, aber sie muß für unser Stück wahr sein.
Jede Prämisse besteht aus drei Teilen. Der erste deutet den Charakter an, beziehungsweise das Motiv seines Handelns, z.B. „Great love“ oder „Blind trust“. Der zweite Teil weist auf den Konflikt, den Verlauf der Handlung hin, so wie „leads to“ und „defies“. Im dritten Teil der Prämisse wird letztendlich die Lösung des Konfliktes und somit der Ausgang der Handlung beschrieben: „Destruction“ und „Death“. Daraus ergeben sich die Prämissen für zwei bekannte Shakespeare-Stücke, die Egri (1946, S.3) als Beispiel verwendet, nämlich : „Blind trust leads to destruction“ als Prämisse für King Lear und „Great love defies even death“ für Romeo and Juliet. Im vierten Kapitel meiner Arbeit werde ich versuchen, eine eigene Prämisse für „Sunset Boulevard“ zu finden.
Egri räumt durchaus ein, daß die Prämisse nicht unbedingt das Erste ist, was uns einfällt, wenn wir anfangen, ein Stück zu schreiben. Aber sie ist es, was uns dabei hilft, die Charaktere in die richtige Richtung zu lenken und den Konflikt voranzutreiben. Wenn wir uns einmal auf eine Prämisse festgelegt haben, muß alles in unserem Stück diese Prämisse stützen und nur auf diese eine vorgegebene Richtung zur Lösung des Konfliktes ausgerichtet sein. Egri (1946, S.106) formuliert dies folgendermaßen: „The premise is a tyrant who permits you to go only one way – the way of absolute proof.” Kein gutes Drehbuch oder Theaterstück funktioniert ohne eine gute Prämisse.
Die Charaktere stellen, wie bereits erwähnt, das tragende Element in Egris gesamter Theorie dar. Jeder Charakter besitzt eine gewisse Grundstruktur (Bone Structure), die alle drei menschlichen Dimensionen enthalten muß: Physiologie, Soziologie und Psychologie. (Schema 1). Jede dieser Dimensionen bedingt die andere, verändert sich ein einzelner Aspekt, dann verändert sich der gesamte Charakter, läßt man eine Dimension aus, erhält man keine guten Charaktere, die stark genug sind, unser Stück zu tragen.
Aus den einzelnen Aspekten der menschlichen Dimensionen leitet sich die Motivation ab. Deshalb stehen die Charaktere in unmittelbarem Zusammenhang mit der Prämisse, die das Thema unseres Stückes und die Motivationen der handelnden Figuren bestimmt. Sie müssen also so ausgewählt und entwickelt sein, daß sie auch zur Prämisse „passen“. Egri (1946, S.42-43) schreibt dazu: “Anything that happens in your play must come directly from the characters you have chosen to prove your premise, and they must be characters strong enough to prove the premise without forcing.”
Es ist daher für den Autor absolut notwendig, nicht nur alle aktuellen Elemente seiner Figur zu kennen und zu wissen, wie sie ist, sondern auch warum sie so ist und wo und wie sie in ein paar Jahren sein wird und warum. Das heißt natürlich nicht, daß jedes einzelne Element letztendlich auch im Theaterstück oder im Film dargestellt werden muß, aber alle diese Aspekte bestimmen die Art, wie eine Figur redet und handelt, und nicht zuletzt auch wie sie auszusehen hat.
Schema 1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aus den Kenntnissen der sozialen Dimension ergeben sich auch Rückschlüsse auf das Umfeld einer Figur. Dieses ist, genau wie die Figur selbst, einem ständigen Wandel unterworfen, was Egri (1946, S.46) ebenso kurz wie treffend so formuliert : „Everything is changable, only change is eternal.“ Die äußeren Einflüsse auf den Charakter sowie seine eigenes inneres Konfliktpotential machen Spannungen möglich, die wiederum Bewegung hervorrufen, welche eine grundsätzliche Eigenschaft menschlichen Daseins überhaupt ist und somit natürlich auch eine tragende Rolle in unserem Stück spielen muß.
Das Prinzip der Bewegung ist bei Egri die dialektische Annäherung in der Form von These – Antithese – Synthese. Darauf beruht auch seine Ansicht, daß in allem bereits sein eigenes Gegenteil enthalten ist. Daraus leitet sich die Entwicklung der Charaktere ab, die für das Funktionieren einer Geschichte unumgänglich ist. Wenn eine Figur am Ende des Stückes dieselbe Position inne hat, wie zu Beginn, dann ist das Stück ganz einfach schlecht. Egri (1946, S.75) schreibt dazu weiter: „Growth is a character’s reaction to a conflict in which he is involved. A character can grow through making the correct move, as well as the incorrect one – but he must grow, if he is a real character.“ Die Veränderungen und Entwicklungen einer Figur müssen unmittelbar aus den Charaktereigenschaften herzuleiten sein. Es ist notwendig, daß die Hauptfiguren wirklich in der Lage sind, unser Stück zu tragen. Dafür benötigen sie eine gewisse Willensstärke. Ein Charakter, der nicht kämpfen will, weil der Druck nicht groß genug ist, ist schwach und nicht fähig, den Konflikt voranzutreiben. Der Autor muß deshalb versuchen, bei seinen Figuren den Punkt zu finden, der schwerwiegend genug ist, ihn zum kämpfen zu animieren. Denn nach Egris Auffassung gibt es keinen Charakter, der nicht zurückschlagen würde, unter den richtigen Umständen. „If he is weak and unresisting, it is because the author has not found the psychological moment when he is not only ready, but eager to fight.“ (Egri, 1946, S.83) Darüber hinaus ist es für die Entwicklung unserer Geschichte notwendig, daß wir einen Antagonisten haben, der ebenso stark ist wie unser Protagonist, aber einen gänzlich verschiedenen Charakter besitzt. Die Bedürfnisse gegensätzlicher Persönlichkeiten müssen kollidieren.
Dafür ist einerseits eine möglichst große Vielfalt der Charaktere in unserem Stück überhaupt notwendig. Egri (1946) bezeichnet dies als Orchestration. Zum anderen spielt die Einheit der Gegensätze (Unity of Opposites) eine wichtige Rolle. Eine wirkliche Einheit von Gegensätzen haben wir dann, wenn ein Kompromiß unmöglich ist, wie z.B. bei Religion/Atheismus, Wissenschaft/Aberglaube oder Kapitalismus/Kommunismus.
Neben den beiden Hauptakteuren spielt eine weitere Figur eine wichtige Rolle, der sogenannte Pivotal Character. Dies ist ein Charakter, der den Konflikt vorantreibt. Er weiß, was er will und treibt seine Sache mit Kompromißlosigkeit und einer gewissen Aggressivität, manchmal auch Rücksichtslosigkeit, voran. Er unterliegt nicht so starken Veränderungen wie die übrigen Charaktere und er wird aus reiner Notwendigkeit zur treibenden Kraft, nicht weil er sich dafür entscheidet.
All diese Eigenschaften der Charaktere offenbaren sich durch den Konflikt, in den sie miteinander geraten. Er ist das Resultat der Beschaffenheit der Figuren und ihrer Anordnung zueinander. Jeder Konflikt beginnt mit einer Entscheidung und diese Entscheidung wird aufgrund der Prämisse unseres Stückes getroffen. So macht Egri immer wieder den Zusammenhang zwischen allen drei grundlegenden Elementen innerhalb seiner Theorie deutlich. „The intensity of the conflict will be determined by the strength of will of the three-dimensional individual who is the protagonist.” (Egri, 1946, S.133) Der Ursprung jedes Konfliktes und somit auch jeder Handlung sind die Charaktere. Gemäß Egris bereits erwähnter dialektischer Vorgehensweise, muß alles aus etwas anderem folgen. Konflikte entwickeln sich nach Egri aus dem einfachen Prinzip von Ursache und Wirkung. So unkompliziert dies klingt, so viele interessante Aspekte ergeben sich auch daraus. Es wird damit nämlich deutlich, daß die Haupthandlung nicht wichtiger ist als die unterstützenden Faktoren, die diese vorantreiben.
Egri (1946) beschreibt vier grundlegende Unterscheidungen von Konflikten: „Static, Jumping, Slowly Rising & Foreshadowing“.
Statische Konflikte sind in jedem Fall zu vermeiden. Wie wir bereits erläutert haben, besteht das menschliche Leben wesentlich aus Veränderung. Wenn Charaktere nicht gut entwickelt sind und nicht stark genug, um einen Konflikt auszutragen und sich in ihm zu entwickeln, kommt es zu statischen Konflikten. Dieser Mangel an Veränderung läßt sich auch durch andere Teile nicht ausgleichen, Bewegung und Entwicklung sind Grundbedingungen jedes guten Stückes. „No dialogue, even the cleverest, can move a play if it does not further the conflict. Only conflict can generate more conflict, and the first conflict comes from a conscious will striving to achieve a goal which was determined by the premise of the play“, schreibt Egri (1946, S.137) dazu.
Ein weiterer zu vermeidender Fehler sind Sprünge im Handlungsverlauf. Jedes Ereignis muß sich aus einem anderen, beziehungsweise aus dem Charakter selbst herleiten und diese Entwicklung sollte für den Zuschauer nachvollziehbar sein. „It is possible that at a moment of frustration and despair a man will do the unexpected in real life – but never in the theater. There we wish to see the natural sequence, the step-by-step development of a character. We want to see how the cloak of decency, high moral standards, is torn away from a character shred by shred by the forces emanating from him and from his surroundings.“ (Egri, 1946, S.129)
Egri will damit ausdrücken, daß ein Film oder ein Theaterstück nicht einfach das Leben imitieren, sondern seine Essenz herausfiltern soll. Das gilt auch für die Entwicklung von Konflikten. Jeder noch so komplizierte Konflikt basiert nach Egri auf dem einfachen Prinzip von Angriff und Gegenangriff. Dies entspricht genau seiner dialektischen Theorie. Wie sich dies praktisch darstellt, werde ich im vierten Kapitel erläutern.
„Slowly Rising“ ist also für Egri die effektivste Form, Konflikte zu entwickeln. Grundlage dafür ist seiner Ansicht nach eine präzise formulierte Prämisse, die Einheit von Gegensätzen und die Dreidimensionalität der Figuren. Wenn wir gute Charaktere haben, sollten wir ihnen auch die Möglichkeit geben, sich selbst zu offenbaren, so wie wir dem Zuschauer die Gelegenheit bieten müssen, die signifikanten Veränderungen der Figuren selbst zu beobachten und zu entdecken.
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