Leseprobe
Das Recht, etwas Außergewöhnliches […] zu leisten, muß ein jeder […] mit seinem Tod als ein solcher bezahlen.
Mallarmé, Das Buch betreffend.
Nach dem Erscheinen von Wahnsinn und Gesellschaft und den darin beschriebenen Grenzerfahrungen tragischer Helden erkannte der Literaturtheoretiker und Philosoph Maurice Blanchot in Foucault „einen verwandten Geist, dem er höchstes lob zollte.“1 Ähnlich wie Thomas Pynchon in den USA, ist Blanchot seit den fünfziger Jahren einer der bekanntesten unsichtbaren Denker Frankreichs. Sein Werk stellt vor allem eine Auseinandersetzung mit der Negativitätsphilosophie Sartres und den verschiedenen Strömungen der literarischen Moderne dar. Seine eigenen Romane entstanden im Umfeld der französischen experimentellen Literaturform des Nouveau roman, die anfänglich von Samuel Becketts Roman Der Namenlose (1953) vorbereitet wurde:
Gestalten [ziehen] vorüber: substanzlose Gespenster, leere Bilder, die mechanisch um ein leeres Zentrum kreisen, das vom namenlosen Ich besetzt ist. […] Es handelt sich nicht mehr um Personen unter der beruhigenden Schirmherrschaft ihres persönlichen Namens […] Wer spricht hier? Wer ist dieses Ich, dazu verdammt, rastlos zu sprechen. […] Der Sprecher ist Samuel Beckett. […] Der Namenlose ist aber gerade eine Erfahrung, die unter der heimsuchenden Drohung des Unpersönlichen erlebt wird; ist das Hintreiben auf eine neutrale Aussage, die nur sich selber ausspricht, […], die aus keinem Inneren kommt und die man nicht zum Schweigen bringen kann, denn sie ist das Endlose [Gespräch].2
Am Anfang von Blanchots Roman Thomas der Dunkle (1941/50) schwimmt der Titelheld ins Meer der oberflächlichen Dingwelt hinaus. Die Ortschaft eines gleichgültigen Erzählers wandelt sich im fortschreiben des Romans danach in ein sprachimmanentes Geflecht, in dem die Handlung selbst unbedeutend wird. Als Eingeständnis in die Unmöglichkeit, das Wesen des Subjektes zu begreifen, und sei es ein literarisches, wird einzig der Akt des gerichteten, eschatologischen Schreibens Gegenstand des Romantextes. Ein solcher Anti-Roman ist keinem Sinn hinter den Dingen auf der Spur. Allenfalls obliegt dem Leser das Auffinden von diskursiven Bedeutungseffekten oder flüchtigen Wellenmustern, die Blanchot oder Thomas der Dunkle als Schwimmer zwischen zwei Wörtern3 hinterläßt.
Zielgerichteten oder wohlbekannten Pfaden dialektischer oder identischer Präsenz will die postmoderne Literatur nicht mehr nachzeichnen. Analog zur poststrukturalistischen Philosophie über bedeutungstragende Differenzen entläßt sie den Leser stattdessen in überlieferte mögliche Spuren der getrennten Präsenz eines Gedankens über ähnliche Aussagen desselben Unfaßbaren.
Die Präsenz [einer Aussage] ist nichts Gegenwärtiges; was da ist, nicht näher kommend, nicht sich entziehend, ohne alle Kenntnis der Spiele des Unfaßbaren, ist mit der schlagartigen Evidenz der Präsenz [eines Wird-gewesen-Seins] plötzlich da […]. Die Präsenz ist das Aufscheinen einer getrennten [differentiellen] Präsenz: das, was unerreicht zu uns kommt, unbewegt in der Schlagartigkeit seines Kommens […]. Von einer herrischen, heftigen Hand [des philosophischen Diskurses] geknetet, schien es, als müsse eine so zerbrechliche Erscheinung [der Aussage] unausweichlich ins Chaos zurückkehren, aus dem sie gekommen ist. […] Die Präsenz ist Präsenz nur in der Distanz […], Präsenz des Anderen […], eine Distanz, die die Tiefe der Präsenz selbst ist, die ganz manifest und auf ihre Oberfläche [des Meeres des Sagens] zurückgekommen, ohne Innenleben zu sein scheint, obwohl doch unantastbar [unaussprechlich}, weil sie mit der Unendlichkeit des Draußen identisch ist.4
Jede Wellenformation eines Sinneffekts auf der Meeresoberfläche repräsentiert so zumindest die Spur einer für sich nicht präsenten Bedeutung zwischen mindestens zwei Aussagen, wobei ihre gleichursprüngliche Ursache auch ein Seebeben oder eine unerklärliche seismische Anomalie in der Tiefe sein kann.5 Der Begriff getrennte Präsenz wird anschaulich in Analogie des Auseinanderstrebens der beiden Wellenformation hinter dem Schwimmer. In Blanchots Text widerspiegelt sich die enorme Bedeutung sich einschreibender topographischer Diskurse über die Geschichte des jüdischen Nomadentums für das französische postmoderne Denken. Aus diesem Grunde bezeichnet ein Literaturtheoretiker einer israelischen Universität Blanchot und Jabès als „essentially explorers of the literary space and of the word that inhabits it.“6
In seinem einflußreichsten Aufsatz Die Literatur und das Recht auf den Tod gilt Blanchots Interesse einmal mehr dem Akt des Schreibens selbst. Das sinnvolle Anreichern des Gelesenen durch den Leser wird verstärkt durch seine Ablehnung, auf einen geneigten Leser hin zu schreiben. Diese Erfahrung sieht er anfänglich verwirklicht in Kafkas Werk, dessen Texte Blanchot nicht als Leser erklären will, sondern ihnen zuhört, damit „Wörter aufhören, Waffen [identische Begriffe] zu sein [… oder gar] Heilsmöglichkeiten.“7
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1 Miller 1995, 172.
2 Blanchot 1982, 288f.
3 In Das war ein Schwimmer zwischen zwei Wörtern fragt Claude Bonnefoy zu Beginn seines Gespräches mit Foucault über André Breton: „Was stellen André Breton und der Surrealismus für einen Philosophen von 1966 dar, der sich Fragen über die Sprache, über das Wissen stellt?“ (Bonnefoy 1988, 215.)
4 Blanchot 1988, 181 bis 183. Hervorhebungen und Bemerkungen von mir.
5 Vgl. Derrida 1997.
6 Maclachlan 1999, 358. Zitiert nach Gary D. Mole, Levinas, Blanchot, Jabès. Figures of Estrangement, University Press of Florida, 1997, p. 178.
7 Blanchot 1993, 6, vgl. 267. Dasselbe meint Philip Roth: „Ein Gespräch ist nicht bloß ein Kreuzfeuer […]. Worte sind nicht bloß Kugeln und Granaten – nein, sie sind kleine Geschenke, die einen Sinn enthalten. (Portnoys Beschwerden, Berlin 1988, S. 224). Ähnliches sagt dagegen H. D. Thoreau: „Die Kugel des Gedankens muß ihre seitliche und ihre Prallbewegung erst überwinden und ihre eigentliche Flugbahn [Sinn] getreten sein, ehe sie das Ohr des Hörers erreicht. (Walden, Zürich 1979, S. 144f).