Die Wirksamkeit mentalen Trainings bei gruppentaktischen Maßnahmen im Handball


Epreuve d'examen, 2007

106 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung

1 Taktik
1.1 Begriffseingrenzung
1.2 Taktik im Sportspiel
1.3 Komponenten der sportlichen Taktik
1.4 Theoriemodelle zu taktischen Entscheidungshandlungen
1.4.1 Taktikmodell von Mahlo
1.4.2 Das Zweistufen-Modell von Roth
1.4.3 Das Modell der antizipativen Verhaltenssteuerung von
Hoffmann
1.5 Taktik im Handball
1.5.1 Individualtaktik
1.5.1.1 Individualtaktik im Angriff
1.5.1.2 Individualtaktik in der Abwehr
1.5.2 Gruppentaktik
1.5.3 Mannschaftstaktik
1.5.4 Trainingsinhalte der Gruppen- und Mannschaftstaktik
1.5.5 Sportmotorische Modelle zum Taktiklernen
1.6 Fazit

2 Mentales Training
2.1 Begriffseingrenzung
2.2 Ziele des Mentalen Trainings
2.3 Funktionen des Mentalen Trainings
2.4 Die Wirksamkeit von Mentalem Training
2.4.1 Kuriose und unspezifische Hypothesen
2.4.2 Spezifische Hypothesen
2.4.2.1 Kognitive Hypothese
2.4.2.2 Ideomotorische Hypothese
2.4.2.3 Programmierungs-Hypothese
2.4.2.4 Restriktions-Hypothese
2.5 Mentale Trainingsformen
2.5.1 Voraussetzungen für Mentales Training
2.5.2 Vier Stufen des Mentalen Trainings
2.6 Mentales Training im Mannschaftssport

3 Ableitung der Fragestellung

4 Methoden

4.1 Planung
4.2 Durchführung
4.2.1 Auswahl der Stichprobe und Festlegung der Messzeitpunkte/ -orte
4.2.2 Videoaufnahmen
4.2.3 Festlegung der mentalen und praktischen Trainingsinhalte .
4.2.4 Das Mentale Mannschaftstraining
4.3 Auswertung
4.3.1 Gruppentaktische Leistungsmessung
4.3.2 Auswahl der Experten
4.3.3 Durchführung der Leistungsbewertung durch die Experten .

5 Ergebnisse
5.1 Darstellung und Interpretation der Fragestellung 1
5.1.1 Vorstellungsfähigkeit der Taktikvorgaben
5.1.2 Durchführungshäufigkeit
5.1.3 Motivationsschwierigkeiten
5.1.4 Beurteilung des Einsatzes von Mentalem Training im Handball
5.1.5 Zukünftige Rückgriffe auf das Mentale Training
5.1.6 Optimierung der Taktikleistung durch Mentales Training
5.1.7 Mentales Training als sinnvolle Trainingsmethode für Taktik ..
5.1.8 Individuelle taktische Leistungsverbesserung
5.1.9 Individuelle technische Leistungsverbesserung
5.1.10 Effektivität
5.1.11 Ergänzung zum praktischen Training
5.2 Auswertung der Fragestellung 2
5.2.1überprüfung der Expertenübereinstimmung
5.2.2überprüfung der gruppentaktischen Leistungsentwicklung..
5.2.2.1 Laufwege
5.2.2.2 Bewegungsgeschwindigkeit
5.2.2.3 Timing
5.2.2.4 Torgefährlichkeit
5.2.2.5 Entscheidungsverhalten
5.2.2.6 Technikausführung

6 Interpretation und Diskussion der Ergebnisse

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

Vorwort

Für diese Arbeit konnte ich auf die Hilfe verschiedener Personen zurückgreifen. Mein Dank gilt:

- Jörg Schorer, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand.
- den Experten: Astrid Wörner, Carsten Klavehn und Dr. Pavol Streicher, für ihre tatkräftige Mitarbeit, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
- Danny und Axel sowie den beiden Frauenmannschaften der HSG Mannheim und des SV Zweibrücken, die sich für diese Untersuchung bereitwillig zur Verfügung stellten.
- meinem Bruder Sascha und meinem Freund Philipp, die “die Auswirkungen meiner wissenschaftlichen Betätigung” geduldig ertrugen.
- allen Freunden und Bekannten, die mich computertechnisch, korrekturlesend, beratend oder moralisch unterstützten. Dies trifft besonders auf Anna, Martina und Jule zu.

0 Einleitung

„ Männer, im Zweifelsfall tut immer das Richtige! “

Der legendäre Trainerstratege Sepp Herberger (1897-1977) war ein Meister der an- schaulichen Erklärung komplizierter Sachverhalte. Im Sportspiel „zum richtigen Zeit- punkt das Richtige zu tun“ erfordert aus bewegungs- und trainingswissenschaftlicher Sicht Kompetenzen in den Bereichen der Individual-, Gruppen- und Mannschaftstak- tik. Dabei muss jeder Spieler[1] für ein erfolgreiches Verhalten zunächst erkennen, welche und wie viele taktische Möglichkeiten sich ihm in der aktuellen Spielsituation anbieten. Im Anschluss muss er sich entscheiden, welche der sich auftuenden Lö- sungsmöglichkeiten die wahrscheinlich erfolgreichste sein wird. Gerade im Trai- ningsprozess muss auf die Fähigkeit „situationsgerechtes Verhalten bzw. Entschei- den“ verstärkt Wert gelegt werden. Die Fragen, die sich hier stellen, sind folgende:

- Wie lernt ein Spieler, im richtigen Moment schnell das Richtige zu tun um eine Situation erfolgreich im Sinne der Spielidee abzuschließen?
- Wie lernt er, situationsgerechte Handlungsalternativen auszuwählen?
- Wie lernt er dies am besten und am schnellsten?

In dieser Arbeit fällt der Blick hinsichtlich der oben gestellten Fragen nun auf eine ganze Gruppe. Der Einzelne muss also in Abstimmung und im Zusammenwirken mit seinen Mitspielern technisch und taktisch richtig handeln, damit insgesamt eine er- folgreiche gruppentaktische Handlung stattfinden kann. Die Literatur schlägt für gruppentaktisches Training bislang fast ausschließlich praktisches Training vor. Dies ist durchaus nachvollziehbar, da in der praktischen Umsetzung natürlich am leich- testen taktisches Verhalten gelernt wird: „Handball spielen lernt man durch Handball spielen.“

Vor allem in den Individualsportarten entwickelt sich der Trend allerdings immer mehr dahin, dass zusätzlich kognitives Training in Form von Mentalem Training durchge- führt wird. Es hat sich gezeigt, dass durch zusätzliches Mentales Training die Leis- tungen, v.a. im technischen Bereich, im Vergleich zum ausschließlich praktischen Training, schneller, gezielter und insgesamt optimaler entwickelt bzw. ausgeprägt werden können. Die Wirksamkeit des Mentalen Trainings im Sport ist inzwischen un- bestritten, allerdings sind empirische Nachweise fast ausschließlich in Individual- sportarten bzw. im Hinblick auf disziplinspezifische individuelle Techniken vorhan- den.

Ziel dieser Arbeit ist es deshalb, die Wirksamkeit Mentalen Trainings bei gruppentaktischen Maßnahmen im Handball zu prüfen.

Der theoretische Teil beginnt in Kapitel 1 zunächst mit einer allgemeinen Einführung in den Taktikbegriff, der über die allgemeine sportliche Taktik, hin zur speziellen Dar- stellung der Taktik im Handball führt. In Kapitel 2 wird dann der Bereich des Menta- len Trainings ausführlich dargestellt und auch die empirisch überprüfte Wirksamkeit detailliert erläutert.

Aufbauend auf diesen Darstellungen werden in Kapitel 3 die relevanten Fragen für diese Untersuchung abgeleitet. Kapitel 4 befasst sich anschließend mit der methodi- schen Vorgehensweise dieser Untersuchung bzw. der Datenerhebung und Auswer- tung. In Kapitel 5 werden dann die Ergebnisse der Datensammlung dargestellt. Im abschließenden Kapitel 6 werden diese Ergebnisse im Hinblick auf die zu überprü- fenden Fragen interpretiert und die Wirksamkeit Mentalen Trainings bei gruppentak- tischen Maßnahmen diskutiert sowie ein Ausblick für zukünftige Beschäftigungen mit diesem Thema gegeben.

1 Taktik

1.1 Begriffseingrenzung

Das Wort Taktik stammt aus dem Griechischen und wurde ursprünglich im Zusam- menhang mit Kriegsführung (Taktiké = Kunst der Anordnung und Aufstellung) ver- wendet. Es umfasst allgemein planvolle Einzelschritte im Rahmen einer Strategie (vgl. Kern, 1989). Unter Strategie wird die Durchführung eines Gesamtkonzepts ver- standen, wobei der Handelnde in der Auseinandersetzung mit anderen ein be- stimmtes Ziel zu erreichen versucht. Die Strategie ist der Taktik übergeordnet und langfristiger, denn Taktik beschränkt sich auf kurzfristige Handlungssituationen. Strategien kann man entwerfen und so taktisches Verhalten planen. Realisieren lässt sich dieser Plan allerdings nur unter Berücksichtigung auch unerwarteter und damit nicht eingeplanter Situationen. Strategien werden vermittelt und damit zu kognitiven Lernzielen, während im Bereich Taktik sowohl kognitive als auch motorische Lern- ziele festgesetzt werden (vgl. Letzelter, 1989).

Im Sport versteht man Taktik „als ein System von Handlungsplänen und Entschei- dungsalternativen, das unter begrenzter Zielvorstellung einen kurzfristigen Hand- lungszusammenhang (Wettkampf) so zu regeln gestattet, dass ein optimaler sportli- cher Erfolg gegenüber dem/ den Gegner(n) möglich ist“ (Röthig, 1992, S. 493). In der sportwissenschaftlichen Literatur werden die Begriffe Taktik und Strategie nicht immer trennscharf verwendet, sondern häufig sogar synonym gebraucht. Nach Kern (1989, S. 14) akzeptierte der wissenschaftliche Beirat für die Studienbriefe zur Fort- und Weiterbildung die Definition, „dass man unter Taktik [im Sportspiel] sowohl die während des Wettkampfes getroffenen Entscheidungen, die unmittelbar das Wett- kampfgeschehen beeinflussen, als auch die längerfristigen strategischen Überlegun- gen versteht“. In dieser Arbeit geht es ausschließlich um die kurzfristigen, taktischen Handlungen während des Wettkampfes. Es wird deshalb auch ausschließlich der Begriff Taktik verwendet.

1.2 Taktik im Sportspiel

In den verschiedenen Sportarten nimmt die Taktik einen unterschiedlichen Stellenwert ein. Generell wird ihr eine zentrale Bedeutung in den Sportspielen zugeschrieben; wobei sie in Sportarten mit Gegnerkontakt eindeutig einen leistungsbestimmenden Parameter darstellt (vgl. Mühlfriedel, 1994), da sie dort hinsichtlich der Variabilität und Komplexität der situativen Bedingungen, deutlich höher einzustufen ist als in den Individualsportarten (z.B. Radrennen, Gehen, Skilanglauf usw.) oder Zweikampfdisziplinen (z.B. Boxen, Fechten, Judo usw.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Die Hauptrichtungen der taktischen Handlungen in den verschiedenen Sportartengruppen (Weineck, 1994, S. 608)

Im Wettspiel beruhen alle Handlungen auf WAS- und WIE- Entscheidungen (vgl. Roth, 1989). Sie haben zum Ziel, eine Spielsituation zweckmäßig zu lösen. Die Steuerung der Spielhandlung erfordert dabei vom Spieler, Spielsituationen situati- onsgerecht wahrzunehmen, zu antizipieren und zu entscheiden. Darüber hinaus müssen die Spielsituationen motorisch optimal schnell, präzise und in ständiger Ko- operation mit den Mitspielern bei direkter gegnerischer Einwirkung gelöst werden. Als Grundlage situationsangemessener WAS- und WIE- Entscheidungen gilt die Spielfä- higkeit, die mit dem Primat der Taktik (vgl. Lames, 1998) alle Komponenten der Leistungsfähigkeit im Sportspiel integriert und hierarchisiert (vgl. Brack, 2002). „Tak- tik ist die Fähigkeit zur sinnvollen Anwendung konditioneller und technischer Ele- mente in Verbindung mit individualtaktischen, gruppentaktischen und mannschafts- taktischen Maßnahmen im Spiel, um einen optimalen Spielerfolg zu erzielen“ (Hoh- mann, 1985, S. 73).

1.3 Komponenten der sportlichen Taktik

Eine optimale taktische Einstellung des Sportlers ist die Voraussetzung für das er- folgreiche Lösen einer Spielsituation, aber der Erfolg hängt auch von den konditio- nellen Fähigkeiten, den technischen Fertigkeiten sowie den kognitiven und psychi- schen Fähigkeiten ab (vgl. Mühlfriedel, 1994). Weineck (1994, S. 605) spricht in die- sem Zusammenhang von technischer Grundlage, konditionellen Voraussetzungen sowie von angemessenen psychisch-volitiven und intellektuellen Fähigkeiten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Die Komponenten des taktischen Handlungsgefüges (Weineck, 1994, S. 605)

Da diese Komponenten in ihrem Konstellationsgefüge selten idealtypisch vorhanden sind und auch der sportliche Gegner, der ebenfalls taktisch agiert und reagiert, eine Rolle spielt, ist es schwer, die ideale Taktik zum nötigen Zeitpunkt im Wettkampf zu finden und anzuwenden. Eine Taktik soll Erfolg bringen und funktionieren, garantieren kann man das aber nicht.

1.4 Theoriemodelle zu taktischen Entscheidungshandlungen

Nach Barth (1980) umfasst der Leistungsfaktor Taktik alle Komponenten, Erschei- nungen und Prozesse, die der taktischen Orientierung des Sportlers vor dem Wett- kampf und währenddessen, bis zur jeweiligen Entscheidung bzw. dem Handlungs- entschluss, dienen, welche auf folgenden komplexen Voraussetzungen beruhen:

- spezielle sensorische Fähigkeiten als Dispositionen, z.B. für das Wahrneh- men, Orientieren und Differenzieren,
- spezielle intellektuelle Fähigkeiten als Dispositionen, z.B. für das taktische Denken, Antizipieren und Entscheiden sowie
- spezielle Kenntnisse als Wissen, z.B. über die Wettkampfregeln, die takti- schen Regeln und über die Situationsbedingungen.

Die taktischen Entscheidungen sind demnach das Ergebnis der gedanklichen Tätigkeit des Sportlers (vgl. Rodionow, 1982). Im Folgenden soll nun anhand von drei verschiedenen Taktikmodellen aufgezeigt werden, wie eine taktische Handlungsentscheidung zustande kommt.

1.4.1 Taktikmodell von Mahlo

Eine taktische Handlung läuft nach dem Taktikmodell von Mahlo (1965 publiziert) in drei aufeinander folgenden und miteinander verbundenen Hauptphasen ab (vgl. Kern, 1989):

1. Die Wahrnehmung und Analyse der Wettkampfsituation
2. Die gedankliche Lösung
3. Die motorische Lösung der taktischen Aufgabe

Die erste Phase ist dabei abhängig von folgenden Komponenten:

- vom Grad der Bewusstheit der Wahrnehmung (Wahrnehmung der Fremd- und Eigenbewegungen und des Raumes)
- von der Qualität des Aufmerksamkeitsverhaltens (Ausschalten von neben- sächlichen Objekten, Festlegen richtiger Aufmerksamkeitsschwerpunkte, wie

z.B. der Ball, die Beine des Gegners)

- vom Informationsgehalt der wahrgenommenen Erscheinungen
- von der Vorwegnahme (Antizipation) der weiteren Entwicklung der Situation
- von der richtigen „optisch-motorischen“ Berechnung als Grundlage des eige- nen Raumverhaltens („richtige“ Raumwahrnehmung)
- von der Funktionstüchtigkeit der Sinnesorgane auch bei höchster physischer und emotionaler Belastung, die bekanntlich Aufmerksamkeit, Wahrnehmungen und Denkakte beeinträchtigt.

Die zweite Phase, die gedankliche Lösung der Aufgabe, hängt ab vom Niveau des taktischen Denkens. Der Sportler entwickelt hier Vorstellungen über den Lösungsweg und wählt aus einer Anzahl ihm bekannter und von ihm beherrschter Verfahren, das für die Situation adäquateste aus.

Das Ergebnis der ersten beiden taktischen Handlungsphasen ist die Entscheidung. Der Zwang zur Entscheidung einerseits und die meist nur gering zur Verfügung stehende Zeit andererseits verbieten Zögern und Unschlüssigkeit.

Die motorische Lösung der taktischen Aufgabe (dritte Phase) macht erst das Ergeb- nis der vorangehenden Phasen der taktischen Handlung sichtbar. Das Ergebnis der motorischen Lösung wird wiederum zum Gedächtnis rückgekoppelt (siehe Abb. 3). Sobald dem Sportler das Ergebnis seiner motorischen Handlung bewusst geworden ist, entstehen bei ihm Erfahrungen praktischer Art. Hat der Sportler die Aufgabe po- sitiv gelöst, wird er künftig in einer gleichen Situation denselben Lösungsweg wählen und motorisch verwirklichen. Bei negativer Lösung sollte die Handlung analysiert werden um die Ursache des Misserfolgs zu ermitteln. Werden die Handlungen, die mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen worden sind öfters geübt, bilden sich auf der Basis der Eigen- oder Fremdinformation taktische Fertigkeiten heraus (vgl. Harre, 1982).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Phasenstruktur der taktischen Handlung (nach Mahlo, aus Harre, 1982, S. 222)

1.4.2 Das Zweistufen-Modell von Roth

Roth (1989) trennt in seinem Zwei-Stufen-Modell Entscheidungen 1. und 2. Art. Sein Modell beschreibt die Entscheidungsvorgänge im Sportspiel unter der Einbeziehung von psychologischen Kenntnissen über die Koordination menschlicher Willkürbewe- gungen. Die zentrale Idee für dieses Modell liefert die so genannte „Hypothese gene- ralisierter motorischer Programme“ nach Schmidt (1982). Das Modell kann unter den handlungsorientierten Phasenmodellen in die Kategorie „Selektion aus begrenzten Listen von Alternativen“ eingeordnet werden. Entsprechend wird davon ausgegan- gen, dass der Sportler sein Lösungsverfahren aus vorab begrenzten Listen von Handlungsalternativen auswählt. Die Entscheidung zu einer Spielaktion erfolgt nicht ganzheitlich, sondern in geordneten Entscheidungsfolgen oder Mehrfachentschei- dungen.

Zur Veranschaulichung des Modells kann die „Disc-Jockey-Analogie“ herangezogen werden. Der DJ wählt zuerst die Schallplatte, also die invarianten Bestandteile aus. Ebenso wählt der Spieler in einer konkreten Situation zunächst eine disziplinspezifi- sche Technik aus, die ebenfalls aus invarianten Bestandteilen besteht. Die WAS- Entscheidung ist getroffen. Sie stellt die Entscheidung 1. Art dar. Vor dem Auflegen der Platte muss der DJ noch die variablen Parameter wie Lautstärke, Umdrehungs- geschwindigkeit oder Klangfarbe festlegen. Auch der Sportspieler muss entscheiden, wie er die Ausführungsparameter (z.B. Bewegungsdynamik, Geschwindigkeit, Krafteinsatz) wählt, damit das Programm optimalen Erfolg bringt. Die Variation der Ausführungsparameter verändert die Grundstruktur der Technik nicht. Diesen Vorgang, also die WIE-Entscheidung, bezeichnet Roth als Entscheidung 2. Art. Ein wesentlicher Aspekt der Trennung zwischen „Was“ und „Wie“ ist, dass Spezifikationen zweiter Art zeitlich erst nach der ersten Art sinnvoll erfolgen können. Der Sportler muss zuerst wissen, was er tun will, bevor er sich entscheidet, wie er es tun will. Mit dieser Reihung der Auswahlprozesse ist der Umfang der notwendigen Korrekturmaßnahmen verbunden. Wird eine Entscheidung 1. Art revidiert, muss eine Revision der Entscheidung 2. Art folgen. Bei Revisionen der Entscheidung 2. Art kann hingegen die vorangegangene „Was“-Selektion beibehalten werden.

Das Modell stützt sich, wie bereits erwähnt, auf eine Modellvorstellung von motori- schen Programmen, der „Theorie generalisierter motorischer Programme“ (GMP- Theorie) nach Schmidt (1982). Die motorischen Programme sind abstrakte, hierar- chisch aufgebaute Gedächtnisinstanzen. Sie enthalten nur einige wenige Grundele- mente (Invarianten), die durch Detailspezifikationen („filling in“) von verschiedenen Parametern ergänzt werden. Grundlage der GMP-Theorie bildet die so genannte Im- puls-Timing-Hypothese. Zusammengefasst besagt diese, dass die an der Bewegung beteiligte Skelettmuskulatur im Wesentlichen durch zentral repräsentierte Zeit- und Kraftinformationen gesteuert wird. Die im motorischen Programm enthaltenen Infor- mationen über den Bewegungsablauf werden durch drei invariante Zeit- und Kraftre- lationen festgeschrieben:

1. Sequenzing: Sequenz der Muskelaktivierungen und die Proportionen ihrer zeitli- chen Abstände
2. Relatives Timing: Relative Zeitstruktur der bewegungssteuernden Einzelimpulse (Muskeleinschaltzeiten)
3. Relativer Krafteinsatz: Relation der erzeugten Muskelkräfte (Amplitudenhöhe im EMG)

Die Anpassung generalisierter motorischer Programme an die aktuellen Bedingun- gen und die Spezifikation angemessener Programmparameter erklärt Schmidt unter Hinzunahme des Gestaltkonstanz-Postulates. Die bewegungssteuernden Impuls- Timing-Muster können hiernach durch leicht modifizierende metrische Programmpa- rameter in zeitlicher oder dynamischer Hinsicht gedehnt oder gestaucht werden, oh- ne dass die charakteristischen Strukturelemente verloren gehen. Die Gesamtbewe- gungszeit, der Krafteinsatz und die Wahl der Muskeln stellen die variablen Bestand- teile dar.

Roth geht außerdem der Frage nach, nach welchen Regeln oder Prinzipien ein Athlet seine Entscheidungen 1. und 2. Art trifft, wie also spieltaktische Entscheidungsprozesse (Initiierungsregeln) ablaufen (vgl. Roth, 1989).

Nach den heute vorherrschenden Modellvorstellungen prüft der Sportler die zur Se- lektion stehenden Möglichkeiten und wählt diejenige aus, die den höchsten erwartba- ren Nutzen besitzt. Der Nutzen wird dabei über das Produkt von zwei kognitiven De- terminanten definiert: Die Realisierungswahrscheinlichkeiten und die subjektiven Werte der einzelnen Handlungsalternativen (Erwartung-mal-Wert-Theorie). Roth nimmt Grundbegriffe des allgemeinen kognitiven Motivationsmodells von Heckhau- sen (1980) in das Gesamtschema auf um den Phasenverlauf spieltaktischer Hand- lungen zu erklären. Das Erwartung-mal-Wert-Modell besagt, dass Sportspieler die Handlungsalternative wählen, welche die höchste Aufsuchungstendenz TH besitzt. Die Aufsuchungstendenz wird aus der Differenz der Handlungsvalenz VH und der Situationsvalenz VS bestimmt.

Die Situationsvalenz beschreibt den Verheißungs- oder Bedrohungscharakter der gegenwärtigen Situation, wenn man den weiteren Ereignissen, ohne handelnd einzugreifen, ihren Lauf ließe. Deshalb wird die Handlungstendenz umso schwächer, je mehr sich die Situation von alleine löst.

Die Handlungsvalenz gibt an, inwieweit man durch das Ergebnis des eigenen Han- delns den Ablauf der Ereignisse optimieren kann. Die Handlungsvalenz (Erwartung- mal-Wert-Regel) wird aus dem Produkt der Ergebnisvalenz VE (Wert-Regel) und der Ergebnis-Erwartung KHE (Erwartungsregel) gebildet. Die Ergebnisvalenz setzt sich dabei z.B. aus Selbstbewertung, Fremdbewertung, Oberzielen und Nebenzielen zu- sammen. Die Handlungsergebnis-Erwartung bezieht sich auf die Erfolgschancen ei- ner Handlung.

Zur Beantwortung der Frage, wie die Selektion von Variationsformen realisiert wird, hat Schmidt bereits 1975 die GMP-Hypothese erweitert. Das Kernstück dieses Mo- dells basiert auf dem Postulat, dass für die generalisierten motorischen Programme jeweils zwei assoziierte Gedächtnisinstanzen aufgebaut werden: ein Recall- und ein Recognition-Schema. Dem ersten fällt die angesprochene Aufgabe zu, die Bewe- gungsparameter den gewünschten Ergebnissen anzupassen. Es entwickelt sich da- durch, dass im Anschluss an jeden Programmablauf sensorische Daten gespeichert werden, die Informationen zu folgenden Fragestellungen enthalten (vgl. Schmidt, 1975):

- Wie waren die situativen Ausgangsbedingungen?
- Mit welchen Parametern wurde das Programm ausgeführt?
- Wie war das Ergebnis der Durchführung?

Formal betrachtet liefert jede einzelne Realisierung eines Bewegungsgrundmusters einen Datenpunkt im Recall-Schema. Je nach Bewegungserfahrung formiert sich dort eine mehr oder weniger dichte Punktwolke. Während der Handlung stehen vier Korrekturmechanismen (K1-K4) zur Verfügung: K1 geht auf die schnellen γ- Muskelspindel-Schleifen zurück und führt, falls dies erforderlich ist, zu geringen Be- wegungsmodifikationen im Sinne reflexartiger Anpassungen. K2 betrifft die Realisie- rung der Entscheidungen 2. Art, also die Kontrolle der im Recall-Schema festgeleg- ten Ausführungsparameter. Sie findet über einen Ist-Sollwert-Vergleich im zweiten motorischen Schema, dem Recognition-Schema, statt. Während die Korrektur- schleifen K1 und K2 die richtige Umsetzung der Programm- und Parameterwahlen überwachen (Sollwertanpassungen), handelt es sich bei K3 und K4 um „echte“ Soll- wertverstellungen, d.h. „Umentscheidungen“ bei Fehlern 1. Art (K4) und 2. Art (K3).

Aufgrund dieses Modells werden die taktischen Leistungsfaktoren differenziert. Roth plädiert dafür, die bekannte Dreiteilung zwischen Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auf die Stufen der Ziel-, Selbst- und Situationsanalyse (S-Analyse), der Entscheidungen 1. Art und der Entscheidungen 2. Art zu beziehen.

Taktische Kenntnisse sind vorrangig mit der Qualität der Ziel-, der Selbst- und der übergreifenden Situationsanalysen verbunden. Der Sportspieler muss wissen, was er will und was er kann und in der Lage sein, die wesentlichen S-Klassen seiner Diszip- lin zu benennen und zu identifizieren. Hierzu sind Kenntnisse über Spielregeln, Systeme usw. notwendig.

Taktische Fähigkeiten determinieren das Niveau der auf den begrenzten Listen von Programmalternativen aufbauenden Entscheidungen 1. Art. Fähigkeiten besitzen technikübergreifenden Charakter.

Taktische Fertigkeiten sind im Unterschied zu den Kenntnissen und Fähigkeiten als bewegungs- oder technikspezifische Leistungsvoraussetzungen anzusehen. Aus der Sicht des Zweistufen-Modells können sie als Korrelate für die Qualität der Entscheidungsprozesse 2. Art, also als Maßstäbe für das Niveau und die Präzision der Parametereingaben in gewählte Handlungsprogramme, definiert werden. Der Ausprägungsgrad der taktischen Fertigkeiten ist vor allem abhängig von:

- der Sicherheit und der Schnelligkeit der Situations-Wahrnehmungen;
- der Qualität der Verbindungen zwischen Situations-Wahrnehmungen und den Selektionen der variablen Technikbestandteile.

Das folgende Modell von Hoffmann beinhaltet wie das Modell von Roth handlungs- theoretische und informationsverarbeitungstheoretische Ansätze. Allerdings beschäf- tigt es sich fast ausschließlich mit den Vorgängen zur Entscheidungsveränderung. Während Roth intensiv beschreibt, wie eine taktische Entscheidung in einer be- stimmten Situation vom Ablauf her getroffen wird, basiert Hoffmanns Modell primär auf dem Voraussagen des Ergebnisses einer taktischen Entscheidungshandlung.

1.4.3 Das Modell der antizipativen Verhaltenssteuerung von Hoffmann

Während Roths Zweistufen-Modell als eine Entscheidungstheorie anzusehen ist, hat sich Hoffmann auf der Ebene der Informationsverarbeitung mit der Frage beschäftigt, welches der Mechanismus ist, der für die Abstraktionsleistung zuständig ist, d.h. was ein Spieler können muss, damit er in der Lage ist, in konkreten Wettkampfsituationen die jeweils richtige Lösung zu finden (vgl. Hoffmann, 1993). Er sucht nach Antworten auf die Fragen:

- Wird nach Ähnlichkeiten in der Motorik oder nach Ähnlichkeiten in der Senso- rik abstrahiert?
- Dominiert das Recall- oder das Recognition-Schema oder ist es umgekehrt?

Auf der Suche nach den Kriterien, die es dem Schmidtschen Verhaltensschema er- lauben, aus einer Menge von gesammelten Einzelerfahrungen, diejenigen auszu- wählen, die zu einer Bewegungsklasse zusammengefasst werden sollen, stößt Hoffmann auf eine Interpolation der Bestimmung der motorischen Parameter mit den antizipierten sensorischen Konsequenzen (vgl. Hoffmann, 1993). Das heißt, dass das Handeln spezifiziert werden kann, indem die Veränderungen der angegebenen Ausgangssituation antizipiert werden, die diese Handlung erfahrungsgemäß hervor- ruft. Diese Spezifikation ist der zugrunde liegende Mechanismus bei der Wahl der motorischen Bewegungsparameter, nicht aber der Bestandteil der Vorbereitung einer Handlung: „Die motorischen Parameter werden vielmehr durch die Antizipation der zu erreichenden Konsequenzen und durch deren Verhältnis zu den gegebenen (oder erwarteten) Ausgangsbestimmungen bestimmt. Die Umsetzung von Differenzen zwi- schen Ausgangsbedingungen und Ziel erfolgt zwangsläufig und entsprechend den in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen. Das heißt aber auch, dass sie nur, und nur dann, in Verhalten umgesetzt werden, wenn Erfahrungen über die aktive Trans- formierbarkeit des gegebenen (oder erwarteten) Zustandes in den Zielzustand vor- liegen [...]. Die Mächtigkeit der Antizipativen Verhaltenssteuerung hängt also von den jeweils vorliegenden Erfahrungen ab“ (Hoffmann, 1993, S. 212). Zusammenfassend bedeutet dies, je mehr Ausführungen innerhalb einer Bewegungsklasse erfolgen, desto genauer wird sich das Verhaltensschema ausbilden. Somit können neue Be- wegungsvarianten oder sich ändernde Bedingungen verarbeitet bzw. in Handlungen umgesetzt werden. Nach Hoffmann ist Lernen in diesem Kontext somit ein kontinu- ierlicher Prozess der Anpassung der antizipierten an die tatsächlich eintretenden Konsequenzen eigenen Handelns und muss nicht zwangsläufig intentional trainiert werden, da er „quasi selbst lehrend“ (Roth, 1994, S. 7), also inzidentell abläuft. Hoff- manns Modell liefert folglich eine gemeinsame Erklärungsbasis für intentionale und inzidentelle Lernprozesse.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4: Modell der antizipativen Verhaltenskontrolle (Hoffmann, 1993, S. 44)

Wenn man in einer bestimmten Situation (SAUSG) handelt, dann werden die Handlun- gen (R) stets von Antizipationen begleitet (KANT). Sie beinhalten die Erwartungen ü- ber das vermutliche Ergebnis des Handelns. Es wird weiter davon ausgegangen, dass die Antizipationen (KANT) mit den tatsächlich eintretenden Konsequenzen (KREAL) verglichen werden. Vereinfacht ausgedrückt, lernt man bei erfolgreichen Handlungen (KREAL = KANT), dass die konkret vorliegende Spielsituation durch R ge- löst werden kann (Verstärkung). Bei Misserfolg (KREAL ≠ KANT) erfährt man dagegen, dass SAUSG nicht zu der Klasse von Spielsituationen gehört, die mit der gewählten Handlung zu bewältigen ist und deshalb anders bewertet werden muss (Differenzie- rung). Der Sportler erwirbt allmählich ein immer vollständigeres Wissen darüber, wel- che Situationen wie zu lösen sind.

1.5 Taktik im Handball

Die sportartspezifische Taktik des Handballs lässt sich innerhalb von Angriffs- und Abwehrtaktik jeweils in Individualtaktik, Gruppentaktik und Mannschaftstaktik eintei- len (vgl. Trosse, 1986). Differenzieren kann man aber auch in situationsspezifische Taktik (Angriff oder Abwehr) und in personenspezifische Taktik (individuell, in Klein- gruppen, als Mannschaft). Auf Ausführungen zur speziellen Torwarttaktik im Hand- ball wird in dieser Arbeit verzichtet, da diese für das vorliegende Thema irrelevant ist.

„Im Hallenhandball entwickeln sich gruppen- und mannschaftstaktische Handlungen aus der individuellen taktischen Leistungsfähigkeit mit ausgeprägt positionsspezifi- schen Aufgaben“ (Brack, 2002, S. 157). Die Zielperspektive der derzeitigen deut- schen Spielauffassung im Handball lautet „kreatives Kleingruppenspiel auf der Basis taktischer Auslösehandlungen.“ Die Entwicklung hin zum Kreativspiel beinhaltet nicht nur einen temporeicheren Handball, sondern verlangt vom Einzelspieler ein Höchst- maß an Situationsantizipation und Positionsvariabilität (vgl. Brack, 2002).

In den folgenden Abbildungen werden die individuellen Angriffs- und Abwehrtechniken sowie die gruppen- und mannschaftstaktischen Maßnahmen in Angriff und Abwehr des gegenwärtigen „deutschen“ Handballspiels dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 5: Theoretisch-fachwissenschaftliche Strukturierung der Angriffstaktik im Handball (Böttcher, 1998a, S. 24)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6: Theoretisch-fachwissenschaftliche Strukturierung der Abwehrtaktik im Handball (Böttcher, 1998a, S. 24)

1.5.1 Individualtaktik

Mit dem Begriff Individualtaktik werden von Ehret, Späte, Schubert und Roth (1995) jene Aktionen von Spielern bezeichnet, in denen diese in der Grundsituation 1 gegen

1 versuchen, ohne direkte Einbeziehung ihrer Mitspieler ein erwünschtes Ziel, z.B. Torwürfe, Täuschungen, Dribblings, Abwehr von Torwürfen oder von Durchbruchaktionen eines Angreifers „durch den situativen Einsatz aller individuellen Mittel und Techniken“ (Röthig, 1992, S. 494) zu erreichen. Individuelle Taktik ist demnach das Vermögen, Spielsituationen kurzfristig und situationsangemessen zu lösen (vgl. Klose, 1994). Roth (1989, S. 9) beschreibt Individualtaktik als zielgerichtete Aktionen des einzelnen Athleten gegen zumindest einen Gegenspieler.

Zusammenfassend versteht man unter individueller Taktik die im Bewegungshan- deln sichtbare Entscheidung zwischen Handlungsalternativen unter Zeitdruck auf- grund der Verarbeitung situativer Merkmale (vgl. Westphal, 1987). Dieses kluge, planmäßige Verhalten in der Wettkampfsituation setzt demnach sowohl die Förde- rung der konvergenten taktischen Denkfähigkeiten (Spielintelligenz) als auch der di- vergenten taktischen Denkfähigkeiten (spielerische Kreativität) voraus. Es lassen sich daraus nach Roth (2005, S. 343) zwei zentrale Ziele des Trainings der Indivi- dualtaktik ableiten:

1. Der Sportler muss lernen, vielfältige (Flexibilität), ungewöhnliche (Originalität) und angemessene (Flüssigkeit) Lösungsideen zu entwickeln (⇒ divergente Denkfähigkeit) > Kreativität
2. Der Sportler muss lernen, die jeweils „beste“, d.h. optimale und richtige Lö- sungsidee auszuwählen (⇒ konvergente Denkfähigkeit) > Spielintelligenz

1.5.1.1 Individualtaktik im Angriff

Die Torgefährlichkeit und der Grad der Bedrohung des Einzelspielers gegen den Abwehrverband des Gegners ist ein Teil der Individualtaktik. Sie hängt von den unter

1.3 beschriebenen Komponenten ab. Wie im Basketball („Dreifache Bedrohung“) o- der Fußball erfüllt ein Angreifer durch seine Torgefährlichkeit zumindest seine takti- sche Aufgabe. Torgefährlich sein im Handball heißt, dass ein Spieler sich bei Ballbe- sitz in Richtung gegnerisches Tor bewegt (also vorwärts) und die Körperfront dem gegnerischen Tor nie abwendet. So weiß der Gegenüber nie, ob ein Durchbruch, Wurf oder Abspiel erfolgen wird; er muss aufmerksam bleiben, weil der angreifende Spieler in der Vorwärtsbewegung mit Blickrichtung zum Tor anläuft. Auch ein Spieler ohne Ball kann torgefährlich sein, indem er beispielsweise dem Ball entgegenläuft, bzw. in den Ball „hineinläuft“ oder durch seine Bewegungen und seine Blickrichtung der Abwehr das Gefühl vermittelt, jederzeit in das Geschehen eingreifen zu können und in Ballbesitz zu gelangen. Torgefährlichkeit, im Sinne einer ständigen Bedrohung für die gegnerische Abwehr, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Gelin- gen gruppentaktischer Maßnahmen.

Hat ein Angreifer überlegene konditionelle Fähigkeiten, technische Fertigkeiten oder psychische Fähigkeiten, kann er sie situationsgemäß zu seinem Vorteil und zum Vorteil seiner Mannschaft einsetzen. Eine gut ausgebildete Individualtaktik erweitert demnach die Möglichkeiten der Gruppen- und Mannschaftstaktik.

1.5.1.2 Individualtaktik in der Abwehr

Die Individualtaktik beginnt hier mit der richtigen Grundposition des Abwehrspielers im Spiel 1 gegen 1 (vgl. Roth, 1989). Das bedeutet eine seitlich-schräg-versetzte und nicht frontale Körperstellung des Abwehrspielers zum Ballhalter, wobei der Wurfarm des Angreifers abgedeckt sein soll. Grundsätzlich muss sich der Abwehrspieler im- mer auf der Höhe seines Gegenspielers befinden, sobald dieser in Ballbesitz kommt oder zu kommen scheint, damit er 1 gegen 1 abwehrbereit ist. Unterstützend können auch hier die Konstitution, die konditionellen Fähigkeiten, die technischen Fertigkei- ten und die Bewegungsökonomie des Abwehrspielers wirken. Die individualtakti- schen Ziele des Abwehrspielers sind:

- keinen Zweikampf verlieren und kein Tor zulassen,
- den momentanen Angreifer beherrschen und ihn zu technischen Fehlern verleiten, indem man als Abwehrspieler agiert und nicht reagiert,
- Ballgewinn durch Herausspielen des Balles,
- den Angriff durch regelgerechtes Foul unterbrechen.

Das Augenmerk dieser Arbeit liegt zwar auf gruppentaktischen Maßnahmen des An- griffs, allerdings ist es wichtig zu wissen, welche Ziele der gegnerische Abwehrspieler verfolgt, damit diese bereits beim Training der gruppentaktischen Maßnahmen berücksichtigt werden und man durch individualtaktisch gutes Verhalten, (z.B. durch genügend Abstand halten, dynamische Bewegungen, etc.) das Gelingen der Abwehrziele verhindern kann.

1.5.2 Gruppentaktik

Bei gruppentaktischen Maßnahmen beziehen die Entscheidungsprozesse eines Spielers immer die Aktionen mindestens eines weiteren Mitspielers mit ein. Doppel- pässe, Anspiele zum Kreisläufer, Sperren, Übergeben/ Übernehmen oder Heraus- treten/ Einordnen sind nur dann sinnvoll einsetzbare Lösungen für spezifische Situa- tionen, wenn sie auf einer exakten Abstimmung mehr oder weniger umfassender Spielergruppen (häufig 2er- und 3er-Gruppen) basieren (vgl. Ehret, Späte, Schubert & Roth, 1995). Es agieren also mehrere Spieler gemeinsam in einem zielgerichteten Handlungsmuster, wobei zu fast jeder Gelegenheit ein Ausstieg (Option) des einzel- nen Spielers aus diesem Muster angestrebt wird (vgl. Röthig, 1992). Hagedorn, Niedlich und Schmidt (1996, S. 215) bezeichnen als Gruppentaktik „die planbaren Möglichkeiten (Handlungsprogramme) der Spielenden, Spielsituationen im Sinne ih- res Zielspiels gemeinsam mit Teilen der Mannschaft zu bewältigen und solche Spiel- situationen zu schaffen, die der Erfüllung ihrer gemeinsamen Spiel- und Erfolgser- wartungen wahrscheinlich(er) machen. Zu diesen Möglichkeiten zählen aktive und passive Hilfen sowie Formen des Zusammenspiels und der Kommunikation.“

1.5.3 Mannschaftstaktik

Als Mannschaftstaktik bezeichnen Hagedorn, Niedlich und Schmidt (1996, S. 216) alle mannschaftlichen Handlungspläne und Entscheidungsalternativen, so genannte Systeme in Angriff und Abwehr sowie alle systematischen Maßnahmen der Verstän- digung, zur Durchsetzung der eigenen Spielziele und zur Erhöhung der eigenen Er- folgschance. Die Mannschaftstaktik basiert auf den individualtaktischen und grup- pentaktischen Möglichkeiten einer Mannschaft. „Für mannschaftstaktische Maßnah- men gilt, dass die Festlegungen der Einzelhandlungen vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Konzepts des ganzen Teams erfolgen. Die Ballannahme eines Rückraumspielers in der Vorwärtsbewegung im 3:3-Angriffssystem, der Übergang des Außenspielers an den Kreis oder das spezifische Verhalten eines Abwehrspielers bei Unter- oder Überzahl sind Beispiele für Realisierungen von Entscheidungen, deren Zweckmäßigkeit und Erfolg unmittelbar von der gesamtmannschaftlichen Zusammenarbeit abhängt“ (Ehret, Späte, Schubert & Roth, 1995, S. 52).

1.5.4 Trainingsinhalte der Gruppen- und Mannschaftstaktik

Die gebräuchlichsten Trainingsinhalte werden in der Praxis als Spielsysteme, Spielkonzeptionen und Spielzüge bezeichnet.

Bei Spielsystemen bleibt der Grad der Absprachen noch relativ gering. Dennoch a- giert der Sportler nicht völlig frei und unabhängig. Seine divergent-konvergenten Ent- scheidungen beziehen allgemeine Rahmenvorgaben zu prinzipiellen taktischen Aus- richtungen (z.B. defensive oder offensive Einstellung) und Handlungsmustern (z.B. typische Laufwege) mit ein. Das bekannteste Spielsystem ist im Handball der 3:3- Angriff.

Spielkonzeptionen, auch Auslösehandlungen genannt, beginnen mit einem definier- ten Aktionsgrundmuster (Auftakt). Ein Beispiel ist der Übergang von einem 3:3- Angriff in ein 4:2-Angriffssystem (Einläufer). Die Handlungsalternativen jedes ballbe- sitzenden Spielers werden im weiteren Verlauf auf zwei bis drei eingegrenzt, so dass eine Entlastung von eigenen divergenten Denkvorgängen entsteht. Damit werden auch die konvergenten Entscheidungen vereinfacht. Die Auswahl aus den wenigen Alternativen gründet auf Beobachtungen in eng umgrenzten Aktionsräumen. Die Spieler lernen Antizipationsregeln in Wenn-dann-Form, die Erfahrungen darüber ent- halten, in welchen Situationsbedingungen („wenn“) welche Handlungsalternative („dann“) die höchsten Erfolgswahrscheinlichkeiten und Nutzenwerte erbringen (vgl. Taktikmodelle unter 1.4).

Spielzüge zielen - in ihrer klassischen Anwendung - auf eine völlige Entlastung der Sportler von individuellen divergenten und konvergenten Denkprozessen ab. Alle Ball- und Laufwege sind bis ins letzte Detail vorgegeben. Spielzüge haben also einen bestimmten Auftakt, einen genau vorgegebenen Verlauf und ein ganz bestimmtes Ende. Dies macht es dem Gegner allerdings leicht sie zu durchschauen und erhöht seine Chance beim nächsten Mal den Ball auf einem der genau vorgegebenen Passwege heraus zu fangen. Spielzüge werden deshalb heutzutage nur noch selten angewendet. Die Zielperspektive für das Angriffsspiel lautet gemäß der DHBRahmenkonzeption: „Spielen mit taktischen Auslösehandlungen und kreativen, variablen Folgehandlungen.“

1.5.5 Sportmotorische Modelle zum Taktiklernen

Die Chance „zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun“, lässt sich dadurch erhö- hen, dass man die Komplexität der Situationen herabsetzt. Im gruppen- /mannschaftstaktischen Training wird daher die Zielstellung verfolgt, Spielkonstellati- onen so weit wie möglich selbst herzustellen und diese in vorher besprochener Wei- se zu lösen. Angestrebt werden kollektive taktische Kompetenzen, die ein schnelles, sicheres - fast „blindes“ - Zusammenwirken der Spieler eines Teams garantieren (vgl. Roth, 2005).

Beim Erlernen von Spielkonzeptionen und Spielzügen werden ähnliche Übungsfor- men und Vereinfachungen eingesetzt, wie bei der Vermittlung individueller Sport- spieltechniken. Zur Anwendung kommen u.a. das Zerlegungsprinzip (Üben von iso- lierten Teilen der Konzeption/ des Spielzuges), das Slow-Motion-Üben (Üben in „Zeitlupe“), sowie zeitliche und räumliche Orientierungshilfen. Außerdem wird zu- nächst ohne, dann mit passiven und erst zuletzt aktiven Gegenspielern trainiert.

Bei Auslösehandlungen (Spielkonzepte) sind über die Aktionsmuster hinaus, die ent- scheidungsrelevanten Wenn-dann-Regeln zu trainieren. Auch hier dominiert die Me- thode der Aufgliederung. Es werden zunächst die Alternativen A, B, C isoliert als Antworten auf bestimmte Verhaltensweisen des Gegenspielers geschult. Danach ist in Übungen zwischen A und B, A und C, B und C und schließlich zwischen A, B, C zu entscheiden.

Diese Art des Taktiklernens geht auf das Vermittlungsmodell von Eysser (1988) zu- rück (siehe Abbildung 7). Weitere Vermittlungsmodelle werden hier nicht aufgezeigt, da die Untersuchungsteilnehmer, die im Zusammenhang mit dieser Arbeit trainierten Auslösehandlungen, prinzipiell nach dem Modell von Eysser praktisch erlernt haben.

[...]

Fin de l'extrait de 106 pages

Résumé des informations

Titre
Die Wirksamkeit mentalen Trainings bei gruppentaktischen Maßnahmen im Handball
Université
University of Heidelberg  (Sport und Sportwissenschaft)
Note
1,0
Auteur
Année
2007
Pages
106
N° de catalogue
V81171
ISBN (ebook)
9783638839020
ISBN (Livre)
9783638839099
Taille d'un fichier
1240 KB
Langue
allemand
Mots clés
Wirksamkeit, Trainings, Maßnahmen, Handball
Citation du texte
Melanie Konrad (Auteur), 2007, Die Wirksamkeit mentalen Trainings bei gruppentaktischen Maßnahmen im Handball, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81171

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