Jakob Wassermann und seine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität in der Moderne


Mémoire de Maîtrise, 2007

86 Pages, Note: 2,3


Extrait


A. Einleitung

I. Einführung in die Thematik

Religiösen Judenhass wollen wir als einen integralen Bestandteil der Geschichte verstehen, der je nach Kultur und Zeitalter in unterschiedlichem Maße ausgeprägt war, jedoch niemals verschwand.

Mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus in Deutschland im späten 19. Jahrhundert stellten sich immer mehr Juden die Frage nach ihrer Identität als Deutsche und als Juden. Das Bemühen deutscher Juden, ihre Treue zum Vaterland durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg zu belegen und die Hoffnungen, die sie in diese Beweisführung legten, erwiesen sich als tragisches Missverständnis.

Jakob Wassermann war einer der berühmtesten jüdischen Autoren der Moderne und gehörte zu den meistgelesenen Romanschriftstellern der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Er hat mit Romanen wie Das Gänsemännchen, Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens und Der Fall Maurizius Bestsellererfolge gefeiert. Erst diese Erfolge ermutigen ihn 1921 seine autobiographische Schrift Mein Weg als Deutscher und Jude zu veröffentlichen, in der er den deutschen Antisemitismus thematisiert und scharf kritisiert. Hauptthema dieses Werkes ist die deutsch-jüdische Identität. Es ist eines der tiefsinnigsten Essays zum Thema Deutsche und Juden.

Wassermann legt in seiner ersten Autobiographie u. a. dar, wie er durch Ablehnung und Feindseligkeit seiner Umgebung auf das Faktum seiner jüdischen Existenz hingewiesen wird. Aus diesem Konflikt Wassermanns, mit seiner Identität zwischen zwei Welten zu stehen, entwickelt sich das Programm seines Werkes und sein „Lebenskampf“ schlechthin.

Das Thema der Auseinandersetzung Wassermanns mit jüdischer Identität ist nicht nur für die Disziplinen der Ethnologie und der Geisteswissenschaft, sondern gerade auch für die Interkulturelle Germanistik relevant, weil sich dieses Fach in vielerlei Hinsicht mit der Frage der Fremdheit beschäftigt und die Juden nicht selten als so genannte Repräsentanten der Fremdheit stilisiert werden. Durch die langjährige Präsenz des jüdischen Volkes in vielen Ländern dieser Welt kann es heutzutage in hohem Maße als Träger kultureller Vielfalt gelten.

Die Interkulturelle Germanistik versteht sich als Disziplin, die über die Ansätze der Inlands- und Auslandsgermanistik hinausgeht.

Das Fach steht zwischen den Kulturen und arbeitet an ihrer Verständigung mit. Sein Schwerpunkt liegt auf der Erforschung und Vermittlung deutschsprachiger Kulturen unter der Bedingung und in der Perspektive ihrer Fremdheit. Eine seiner Aufgaben ist es, kulturelle Mittler auszubilden.

Der Begriff Xenologie (Fremdheitslehre) steht für ein Teilgebiet des Faches, in dem Beiträge zur Stereotypentheorie, zur Rolle Fremder im Kulturwandel, zu Theorien des Verstehens fremder Kulturen, des Fremdenrechts und der interkulturellen Kommunikation behandelt werden.[1]

Die Beschäftigung mit dem, was manchmal als fremd aufgefasst wird bzw. werden kann - in diesem Fall die Juden - dient vor allem der Selbstaufklärung und der Vorbereitung auf einen reflektierten Umgang mit dem Fremden in der späteren Tätigkeit.

Immer mehr Menschen müssen lernen, mit Angehörigen anderer Traditionen, Rechtssysteme und kollektiver Sinnentwürfe zu interagieren und benötigen xenologisches Basiswissen. Heutzutage wird das wechselseitige kulturelle Verständnis auch deshalb relevanter, weil die Anforderung besteht, in einer multikulturellen Gesellschaft zusammenzuleben. Um das Verhalten anderer Kulturen und Menschen zu verstehen, brauchen wir aber auch ein Wissen über die früheren Epochen der eigenen Kultur. Ausgangspunkt ist die Entdeckung des Fremden im Eigenen. Sein Fremdes zu verstehen, erleichtert die Einfühlung in das Fremde des Anderen.[2]

Alois Wierlacher definiert „Fremdheit“ folgerdermaßen:

„Fremdheit gilt nicht als Qualität oder Eigenschaft einer jeweiligen anderen Kultur, sondern als ein Interpretament der wechselseitig wahrgenommenen Andersheit. Als relationale und dialektische Kategorie beschreibt die Rede vom Fremden ein komplexes Verhältnis zwischen der jeweils eigenen und anderen Kulturen. Indem das Eigene und das Fremde auf diese Weise nicht gegeneinander, sondern zueinander und miteinander in Beziehung gesetzt werden.“[3]

Eine dichte Annäherung an das vorerst "Fremde" kann eine Möglichkeit sein, dieses Spannungsfeld progressiv zu entschärfen. Diese Möglichkeit möchte ich als Methode in meiner Arbeit nutzen. Ich möchte mich mit einem Volk beschäftigen, welches sich im Laufe sowohl der deutschen als auch der Weltgeschichte mit "Fremdheit" auseinandersetzen musste. Anhand des Werkes von Jakob Wassermann „Mein Weg als Deutscher und Jude“ möchte ich versuchen, die Frage zu beantworten, ob und wie sich mein erwähntes Spannungsverhältnis entschärfen lassen und welcher Nutzen daraus hervorgehen kann.

II. Zum Aufbau der Arbeit

Die Geschichte der Juden in Deutschland beginnt weit entfernt von Mitteleuropa und zu einer Zeit, als es Deutschland noch nicht gab. Die Ereignisse in Judäa um die Zeitenwende sollten in vieler Hinsicht schwerwiegenden Einfluss auf die Geschichte der Juden in Deutschland bis in unser Jahrhundert haben. Deshalb gliedert sich die vorliegende Magisterarbeit in zwei Teile.

Im ersten Teil wird ein Überblick über die Geschichte des Judentums geboten. Der Zweck dieses Teiles liegt darin, das Phänomen der Judenfeindschaft in der Moderne, Epoche in der Jakob Wassermann lebte, zu untersuchen und damit einer der Wurzeln des modernen Antisemitismus freizulegen.

Daher widmet sich meine Arbeit einer grob skizzierten Darstellung des Verlaufes antijüdischer bzw. antisemitischer Einstellungen im Zeitrahmen von dem in der Antike auftauchenden christlichen Antijudaismus, über Antisemitismus im Mittelalter, der Frühen Neuzeit, den gesellschaftlichen Umwälzungen der Aufklärung, mit denen sich auch das jüdische Leben wandelte, bis zur Emanzipationsepoche, den sozialen Aufstieg der Juden und ihre rechtliche Gleichstellung. Es sollte an diesen geschichtlichen Beispielen aufgezeigt werden, wie sich religiöse und menschliche Vorurteile über die Juden bilden, die Jahrhunderte hindurch anhielten und auf diese Weise den Boden für den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts mit vorbereitet haben.

Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Judenfeindlichkeit in den unterschiedlichsten Teilen Europas. Thema dieser Arbeit soll jedoch der Antisemitismus in Deutschland bleiben, denn keine europäisch-jüdische Gemeinschaft versuchte sich mit solcher Intensität, mit solcher intellektuellen und emotionalen Anstrengung zu assimilieren wie die deutsche, was eine weitere Betrachtung der Prozesse in den anderen Staaten ausschließt.

Zahlreiche jüdische Schriftsteller im deutschsprachigen Raum, die von Geburt einem anderen Sprach- und Kulturbereich angehörten, hatten sich mit der Frage ihrer Identität auseinanderzusetzen. Behandelt wird der Zeitraum vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, das mit der Entstehung der zionistischen Bewegung den Juden eine neue Alternative zur Überwindung des Identitätsproblems eröffnete, bis zu den 30er Jahren, in denen der Nationalsozialismus mit seiner „Endlösung“ dem Problem ein tragisches Ende setzte. Viele der damaligen Autoren bekannten sich zur Assimilation, zum Sozialismus oder Zionismus.

Enden wird der erste Teil dieser Arbeit mit dem Zionismus als national-jüdische Gegenbewegung zum Antisemitismus. Ich werde nicht auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 und auf den dann folgenden Holocaust eingehen.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit dem Schriftsteller Jakob Wassermann und seinem autobiographischen Werk „Mein Weg als Deutscher und Jude“. Deshalb werde ich mich in diesem Kapitel auch mit der jüdischen Identität beschäftigen. Hier wird untersucht, auf welcher Weise Jakob Wassermann die Problematik seiner Herkunft zu lösen versucht hat.
Bevor ich mich mit der Geschichte des Judentums befasse und Jakob Wassermanns Einstellung zu seinem Judentum näher untersuche, werde ich versuchen, zu einer Klärung des Begriffes „Jude“ zu gelangen. Was ist es, was die im Folgenden behandelten Persönlichkeiten miteinander verbindet? Handelt es sich bei den Juden um eine Religionsgemeinschaft, ein Volk, eine Nation, eine Rasse?

B. Judentum und Judenfeindschaft

I. Definition des Begriffes „Juden“

Was ist ein Jude? Diese Frage war im Judentum immer zentral. Mit der Herausbildung moderner europäischer Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert bekam diese Frage eine neue Bedeutung: War «jüdisch sein» noch vereinbar mit der Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Staat?

Es ist nicht eindeutig zu beantworten, wer letztendlich ein Jude ist. Auch im Judentum selbst ist dies eine bis heute sehr umstrittene Frage. Man kann zwar unter bestimmten Bedingungen auch als Nicht-Jude zur jüdischen Religion übertreten, genauso, wie man das Bekenntnis anderer Religionen annehmen kann. Aber als Jude wird man zunächst einmal geboren. Jude ist, wessen Mutter Jüdin ist oder nach dem jüdischen Religionsgesetz zum Judentum übergetreten ist.

Wenn man alle Juden in der Kategorie der Religionsgemeinschaft oder Konfession zusammenfassen will, so schließt man dadurch notwendigerweise sowohl diejenigen aus, die aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten sind und alle Bindungen zum Judentum gelöst haben, als auch die Gruppe der säkularisierten Juden, für die die Frage der Religion zwar keine Bedeutung mehr hat, die sich aber dennoch als Juden fühlen und sich ostentativ zu ihrer Herkunft bekennen. Eine weitere Möglichkeit, die jüdische Sonderexistenz und Eigenart zu deuten, ergibt sich durch die Klassifizierung des Judentums als Rasse.

Die Juden bilden aber auch ein Volk. Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es wieder einen jüdischen Staat, den Staat Israel. Jahrhundertelang hatten die Juden aber kein nationalstaatliches Territorium und gehören daher bis heute den unterschiedlichsten Nationen an.

Die Bezeichnung Judentum geht auf die abgeleitete lateinische bzw. griechische Übersetzung des hebräischen Wortes Jehudi (Jude) zurück und galt ursprünglich nur für die Einwohner des Königreichs Judäa im Süden Palästinas. Nach der Babylonischen Gefangenschaft (538 vor Chr.), die das erste jüdische Staatswesen beendete, wurden alle Bewohner der Region von den umliegenden Völkern als »Judäer« bezeichnet und damit der Name »Juden« auf alle Israeliten ausgedehnt. In eingeschränktem Sinne galt die Bezeichnung »Jude« für jene, die den Reformen des Esra und Nehemia folgten. Heute versteht man unter Judentum die Gesamtheit aus Kultur, Geschichte, Religion und Tradition des jüdischen Volkes. Als Symbol des Judentums gilt seit dem Mittelalter der Davidstern in der Form eines Hexagramms. Er wurde 1948 auch in die Staatsflagge Israels aufgenommen.

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten] Das Symbol des Judentums - der Davidstern

Die Juden betrachten Gott als ihren alleinigen, obersten König und Gesetzgeber und sich als sein auserwähltes Volk. Die meisten Juden leben heute in der Diaspora (Zerstreuung, Fremde). Heute gibt es weltweit etwa 13,3 Millionen Juden (0,2 Prozent der Weltbevölkerung). Davon in Deutschland, nach Angaben des Zentralrats der Juden, 104.000 jüdische Gemeindemitglieder vor allem durch Zuzug von mehr als 100.000 Juden aus Osteuropa, insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion.[4]

Wie aus dem vorhergehenden zu ersehen ist, hängt die Definition des Judentums jeweils davon ab, wie der einzelne Jude zu der Tatsache seines Jude-Seins steht. Was ihnen aber allen gemeinsam ist, ist die Tatsache, dass sie von der nichtjüdischen Umwelt als Juden angesehen werden; es ist gleichgültig, ob sie sich zum Judentum, in welcher Form auch immer, bekennen, oder ob sie sich von ihm getrennt oder distanziert haben, denn letztlich hängt dies nicht von der Entscheidung des Individuums ab.

II. Zur Geschichte des Judentums und der Judenfeindschaft

1. Religiöser Antijudaismus

Der Antijudaismus ist eine vom Christentum geprägte Judenfeindlichkeit die auf einem religiösen Welt- und Menschenverständnis beruhte. Die Religion galt hier als entscheidendes Merkmal, an welchem die anderen menschlichen Eigenheiten festgemacht wurden. Der Antijudaismus entsprang der tiefen Ambivalenz des Christentums gegenüber dem Judentum, von dem es sich abgezweigt hatte und gegen das es sich deswegen schon im Altertum absetzen musste.[5]

Im frühen Christentum kam die Vorstellung auf, dass die Juden aus religiöser Verblendung Jesus als Messias abgelehnt, ihn verraten und gekreuzigt hätten. Sie wurden als Mörder Jesu Christi beschimpft. Dieses Verbrechen erschien vielen Christen so abgrundtief schrecklich, dass sie den Juden jede denkbare Bosheit zutrauten. Die „Gottesmörder“ seien dazu verdammt, heimatlos in der Welt umherzuirren und bis an das Ende der Tage von der Wahrheit des Christentums Zeugnis abzulegen. Diese theologisch-heilsgeschichtlich begründete Auffassung vom Judentum und von der jüdischen Existenz in der Diaspora ging als fester Bestandteil der kirchlichen Glaubenslehre in das christlich-abendländische Denken ein.[6]

In der vorindustriellen, agrarischen Bedarfsdeckungsgesellschaft erfüllten die Juden wichtige ökonomische Funktionen: Wohlhabende Juden waren im Kreditwesen, die anderen erhielten das Privileg des Vieh- und Pferdehandels, während minderbemittelte einen „Schutz- und Geleitbrief“ kaufen konnten, der ihnen den Klein- und Trödelhandel als wichtigste Erwerbsquelle zuwies. Die Fürsten haben den Zinssatz festgesetzt, der dem hohen Steuersatz angepasst war, den die Juden zum Erwerb der Privilegierten zahlen mussten. Die jüdischen Gemeinden besaßen in dieser Zeit Selbstverwaltung mit eigener rabbinischer Gerichtsbarkeit um alle religiösen und alltäglichen Fragen zu regeln.[7]

a. Antisemitismus im Mittelalter (Ausgrenzung und Verfolgung)

Schon im Mittelalter (7. bis 15. Jahrhundert) waren Juden Verfolgungen ausgesetzt. Die Teilnahme am öffentlichen Leben wurde ihnen fast vollständig untersagt. Im christlichen Mittelalter standen die Juden als „Kammerknechte“ zwar unter dem Schutz des Kaisers, lebten jedoch in eigenen Vierteln, sogenannten ,,Ghettos". Seit dem Westfälischen Frieden wurden sie als Hofjuden der absoluten Herrscher geduldet, doch theologisch waren sie Ungläubige, die als „verstockt“ und daher nicht bekehrbar galten.

Für die Juden, als Gottes auserwähltes Volk, das nach seinen Geboten lebte, mussten sich im Umgang mit Nicht-Juden theologische, moralische und auch politische Probleme ergeben.[8]

Die Juden hatten es nicht vor bis in die Neuzeit hinein - trotz aller Diskriminierungen - ihren Glauben und ihre religiös begründeten Bräuche aufzugeben. Umgekehrt ist zu beachten, dass das Christentum durch das ganze Mittelalter hindurch und bis weit in die Neuzeit (Mitte des 20. Jahrhunderts) stark mit vorchristlichen Vorstellungen durchsetzt blieb. Es gab also für die Juden gute Gründe, an der aus dieser Sicht höher entwickelten und klareren eigenen religiösen Kultur festzuhalten.

Im Mittelalter wurde ihnen weder Landbesitz und Ackerbau noch die Ausübung eines Handwerks erlaubt. Andererseits hielt die Kirche lange Zeit Geldgeschäfte für unmoralisch und erließ für Christen ein Verbot der Geldausleihe gegen Zinsen (ein solches gilt übrigens im Islam bis heute). Somit konnten sich Juden nur in Dienstleistungsberufen in den Städten betätigen, z.B. als Händler, Bankiers und Ärzte. In der landwirtschaftlich ausgerichteten Gesellschaft des Mittelalters war dies nicht nur eine starke Einschränkung, sondern zunächst auch mit geringer Wertschätzung verbunden. Allerdings erlebten gerade diese Bereiche ab dem Spätmittelalter einen starken Aufschwung, Neid war damit vorprogrammiert. War ein jüdischer Arzt zu erfolgreich, so versuchten seine nichtjüdischen Konkurrenten, ihn durch Gerüchte und haltlose Vorwürfe auszuschalten.

Der Antijudaismus im Mittelalter nahm viele Formen der Diskriminierung an.

Durch den Beschluss des Vierten Laterankonzils der römischen Kirche von 1215 wurden die Juden als Außenseitervolk abgestempelt, indem ihnen auferlegt wurde, sich durch eine besondere Art Kleidung von der übrigen Bevölkerung zu unterscheiden. Das Aussehen dieses Erkennungszeichens ist unterschiedlich in verschiedenen Ländern.

In Deutschland und Frankreich mussten die Juden ein gelbes "O" tragen, in anderen Ländern war das Tragen eines dreieckigen Hutes (oder Spitzhutes) vorgeschrieben. Auf diese Weise konnten Christen sicher sein, dass sie nicht versehentlich mit Juden in Kontakt kamen. Sogar in der mittelalterlichen Kunst wurden Juden in Gemälden und Holzschnitzereien mit einem Kreis auf ihrer Kleidung oder mit Spitzhüten dargestellt.

Zu dieser stigmatisierenden Kennzeichnung kamen verschiedene Verleumdungen, die gegen Juden erfunden und in Umlauf gebracht wurden. Ihnen wurde Brunnenvergiftung, Hostienschändung, Ritualmord und die Schuld für die Pest 1348 zugeschoben. Dies gab Anlass für die Ausrottung zahlreicher jüdischer Gemeinden.[9]

Die Juden konnten und sollten in der mittelalterlichen Gesellschaft niemals gleichberechtigt sein, sie waren als Anhänger einer „verworfenen“ Religion bestenfalls geduldet.

b. Martin Luther: Sozialer Antisemitismus in der Frühen Neuzeit

Martin Luther gilt als der deutsche Reformator und einer der wichtigsten Wegbereiter einer allgemein gültigen deutschen Sprache. Neben all den positiven Dingen, die der Reformator bewirkt und geschrieben hat, wird Luther auch immer wieder vorgeworfen, er sei mit seinen Judenschriften ein wichtiger Wegbereiter für den Antisemitismus der Deutschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Luther war sehr fromm und suchte leidenschaftlich die Liebe Gottes. Das gründliche Studium der Bibel führte ihn zu der Erkenntnis, dass allein der Glaube zur ewigen Seligkeit führen kann und es findet seine Erfüllung in der Liebe Gottes.[10]

Die Grundlage für Luthers Antijudaismus ist die Überzeugung, dass die Juden seit der Ankunft Christi keine Zukunft mehr hätten. Seine Vorwürfe gegenüber Juden

erschöpften sich weniger in den traditionellen Anklagen des Gottesmordes. In seinen Augen repräsentieren Juden das falsche Prinzip. Sie sind für ihn eine von Gott verworfene Gemeinschaft. Die reformatorische Bewegung und Zeit bedeutete eine Gnadenfrist für alle Christen aber auch für Juden, um zum richtigen Glauben zurückzufinden und sich zu bewähren.[11]

Martin Luther begegnete den Juden zuerst sehr tolerant und zeigte ein großes Interesse an der hebräischen Sprache. Er hoffte, die Juden zum christlichen Glauben bekehren zu können, doch als ihm das misslang, war er der Meinung, dass sie bewusst Gottes Liebe ablehnten und änderte seine Einstellung radikal.[12]

Luther interpretierte „die Verstocktheit“ der Juden als soziologisches Problem, als Reaktion auf ihre völlige gesellschaftliche Diskriminierung und forderte deshalb die Verbesserung ihrer Lebensumstände. Erst nach der missglückten „Bekehrung“ werden die Juden für ihn das Symbol des Urbösen, da sie in blinder Verstockung das wahre Evangelium nicht anerkennen wollen. Luther wollte die Juden instrumentalisieren, sie nur dann akzeptieren, wenn sie Christen werden und ihr Jude-Sein aufgeben. Teilweise unterstellt er den Juden, dass ihr Lehrer der Teufel sei. Andererseits setzt er Juden mit dem Teufel gleich und bezeichnet das jüdische Volk als blutdürstig und seinen Messias als Massenmörder.[13]

Einen unrühmlichen Höhepunkt erfuhr der christliche Antisemitismus im Jahre 1543 durch die antijüdischen Hasstiraden Martin Luthers. In einer seiner letzten Schriften ,,Von Juden und ihren Lügen" macht er sieben Vorschläge, wie die Herrschenden mit Juden verfahren sollten. Unter anderem schlug er vor, die Synagogen zu verbrennen, die Wohnungen der Juden zu zerstören, den Rabbinern das Lehren zu verbieten und den Juden auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer zu machen. Protestantische Antisemiten berufen sich seitdem immer wieder auf Luther und seine Schrift. Was er den Herrschenden vorschlägt, ist die gewaltsame Fortführung seiner lebenslangen Bemühung, die Juden zur Konversion zu zwingen. War er anfänglich überzeugt, dass eine gerechte Behandlung der Juden diese zur Einsicht der theologischen Wahrheit des Christentums bringen würde, so schlug sein theologischer Antijudaismus mit zunehmendem Alter in blanken Judenhass um.[14]

Antijudaismus durchzieht das ganze Denken Luthers. Judaismus ist eine reine Gesetzesreligion: das heißt Reduzierung des Glaubens auf die Einhaltung von Gesetzen. Luthers Antijudaismus ist deshalb so gefährlich, weil seine antijüdische Konzeption ein theologisches Prinzip darstellt, das alles, was er für unwahr hält, mit „jüdisch“ charakterisiert. Luthers Schrift bündelte die mittelalterliche Judenfeindschaft, sammelte und verstärkte sämtliche damals umlaufenden Klischees und überlieferte sie der Neuzeit. Somit ist Luthers antijüdische Hetze der Ausgangspunkt des modernen Antisemitismus. Weil Luther alle Anschauungen, die er bekämpft, als „jüdisch“ bezeichnet, wird er zu einem der gefährlichsten Feinde der Juden. Die Juden stehen paradigmatisch für eine gefallene Welt, die sich vor dem kommenden Weltgericht rechtfertigen muss. Nur diejenigen, die sich der Reformation der Kirche anschließen, können hoffen, errettet zu werden.[15]

2. Die Aufklärung als Chance für das Judentum: Judenemanzipation und die „Judenfrage“

Die Aufklärung ist in erster Linie das Werk bedeutender Philosophen, Dichter und Denker. Nach den Kants Definition soll der aufgeklärte Mensch aus seiner geistigen Unmündigkeit befreien und sein Leben und Denken selbst bestimmen. Damit wird sie die Wegbereiterin für die noch im 18. Jahrhundert gewaltig einsetzende Welle der bürgerlichen Revolutionen, in denen sich die unterdrückten Völker ihre Freiheit erkämpften.

Die Philosophie der Aufklärung bahnte den Weg zu mehr Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit. Sie brachte viele Herrscher dazu, mehr und mehr nach Recht und Gesetz zu regieren und milderte die Formen des rücksichtslosen Absolutismus. Das Schulwesen wurde gefördert, die Leibeigenschaft und die Folter wurden abgeschafft, die Vorrechte der privilegierten Stände weitgehend abgebaut. Der Gleichheitsgrundsatz ließ eine tolerantere Haltung gegenüber Menschen anderer Rasse und Religion aufkommen. Über Jahrhunderte hatte die jüdische Bevölkerung vergeblich auf Gleichberechtigung und gesellschaftliche Anerkennung gehofft. Doch mit den Ideen der Aufklärung schienen sich endlich neue Wege zu öffnen.[16]

Naturwissenschaftlicher Fortschritt und Humanismus veränderten schrittweise die Einstellung zu den Juden. Indem aufgeklärte Philosophen die allgemeine Vernunft gegen den christlichen Konfessionalismus und Dogmatismus stellten, kritisierten einige seit dem 18. Jahrhundert nun auch die Haltung zum Judentum als menschenunwürdiges Unrecht. Der englische Freidenker John Toland (1670-1722), sprach sich als erster für eine "Emanzipation" der Juden aus. Vor allem Moses Mendelssohn (1729-1786) kämpfte für die rechtliche Gleichstellung und kulturelle Integration des deutschen Judentums, auch durch seine innere Liberalisierung. Sein Freund Gotthold Ephraim Lessing (1729-1782) rief 1749 in seinem Lustspiel Die Juden zur Aufgabe der anachronistischen Vorurteile gegen sie auf. In seinem Drama Nathan der Weise (1779) forderte er die Toleranz der Religionen. Die Hauptfigur trug Mendelssohns Züge und setzte diesem ein Denkmal. Lessing glaubte an die Aufhebung jedes religiösen Aberglaubens durch humanen Fortschritt und die pädagogische Erziehung des Menschengeschlechts (1781).[17]

Ideologische Grundlage des Veränderungswillens war das philosophisch-aufklärerische Prinzip des Naturrechts (Gleichheit aller Menschen) sowie die physiokratische Lehre (Betonung natürlich-produktiver Arbeiten wie die Landwirtschaft).

Mit Erscheinen der Schrift Christian Wilhelm Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung (!) der Juden“ (1781) wurde der aufklärerische Emanzipationsgedanke zum Hauptthema politischer Diskussion. Dohm erörtert darin die Idee, Juden in die Nation integrieren zu können, und sie damit für die Gesellschaft nützlich zu machen. Geleitet von dem Aufklärungsgedanken des Naturrechts, beschreibt er mögliche Maßnahmen zur „Verbesserung" der Juden. Er entwickelte für Deutschland erstmals ein auf Praxis ausgerichtetes Emanzipationskonzept: Der preußische Verwaltungsbeamte empfahl rechtliche Gleichstellung sowie Freiheit der Berufswahl als einen vom Staat zu organisierenden „Erziehungsprozess“.[18]

Wenn man über die Situation der Juden diskutierte, war der Schlüsselbegriff der europäischen Aufklärung religiöse Toleranz, nicht politische Emanzipation. Während der weltanschaulichen Debatte wurden zahlreiche Bücher, Essays und Pamphlete publiziert. Aus der Toleranzdebatte ergab sich die Notwendigkeit einer politischen, rechtlichen und sozialen Verbesserung der Juden.

Allerdings mussten die Verfechter der Toleranzidee schon damals mit einem Widerstand rechnen. Gegen eine Tolerierung der Juden wehrten sich Katholiken, Protestanten und Reformierte.[19]

[...]


[1] WIERLACHER, Alois: Materialien zur interkulturellen Germanistik, Band I, S. 2f.

[2] BARLOEWEN, Constantin von: Fremdheit und interkulturelle Identität, in: WIERLACHER, Alois: Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, S. 298f.

[3] WIERLACHER, Alois; BOGNER, Andrea: Handbuch interkulturelle Germanistik, S. 541.

[4] http://www.weltalmanach.de/stichwort/stichwort_judentum.html; 6.07.2007

[5] ALTER, Peter; BÄRSCH, Claus-Ekkehard; BERGHOFF, Peter: Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, S. 67f.

[6] BERDING, Heimut: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Band 257, 1. Aufl.,

S. 12.

[7] BRAUN, von Christina; HEID, Ludger: Der ewige Judenhass, 2. verb. Aufl., S. 70.

[8] BERGHAHN, Klaus L.: Aufklärung und Judentum. Das Zeitalter der Toleranz. In: LADEMACHER, Horst; LOOS, Renate; GROENVELD, Simon (Hrsg.): Ablehnung-Duldung-Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, S. 370f.

[9] http://antisemiten-im-reichstag.netfirms.com/christlaj.html

[10] STEINBÜGL, Eduard: Geschichte, Band III, Neuzeit, 1. Aufl. , S. 10.

[11] LEY, Michael: Kleine Geschichte des Antisemitismus, S. 63f.

[12] http://antisemiten-im-reichstag.netfirms.com/christlaj.html

[13] LEY, Michael: Kleine Geschichte des Antisemitismus, S. 65f.

[14] Ebd., S. 68.

[15] Ebd., S. 69f.

[16] STEINBÜGL, Eduard: Geschichte, Band III, Neuzeit, 1. Aufl., S. 64.

[17] http://antisemiten-im-reichstag.netfirms.com/christlaj.html

[18] FUGMANN, Markus: Moderner Antisemitismus, S. 34.

[19] BERGHAHN, Klaus L.: Aufklärung und Judentum. Das Zeitalter der Toleranz. In: LADEMACHER, Horst; LOOS, Renate; GROENVELD, Simon (Hrsg.): Ablehnung-Duldung-Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer und aktueller Vergleich, S. 366.

Fin de l'extrait de 86 pages

Résumé des informations

Titre
Jakob Wassermann und seine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität in der Moderne
Université
University of Bayreuth
Note
2,3
Auteur
Année
2007
Pages
86
N° de catalogue
V81782
ISBN (ebook)
9783638847414
ISBN (Livre)
9783638845625
Taille d'un fichier
893 KB
Langue
allemand
Annotations
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Mots clés
Jakob, Wassermann, Auseinandersetzung, Identität, Moderne
Citation du texte
Magdalena Palarz (Auteur), 2007, Jakob Wassermann und seine Auseinandersetzung mit jüdischer Identität in der Moderne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81782

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