Leseprobe
Reflexion über das literarische Chanson
Sehr viel ist von Yvette Guilbert bis zu dem vorzüglichen Buch von Budzinski über das literarische Chanson gesagt worden, über seine Geschichte, seine Stoffe, seine Interpreten, sein Podium. Dennoch konnte es bisher niemand in seiner Vielgestaltigkeit fassen und seine besondere Wirkung beschreiben oder gar erklären. Beginnen wir mit ein paar negativen Feststellungen:
Der Begriff Chanson kann in Deutschland keine literarische Gattung bezeichnen, wie etwa die Begriffe Sonett, Ode, Gazel etc., die eine feste Sprachstruktur meinen, oder auch nur die Begriffe Volkslied und Ballade, die bei aller Mannigfaltigkeit immerhin gewisse Stilgemeinsamkeiten aufweisen. Texte verschiedenster literarischer Herkunft (z. B. Balladen, Bänkellieder des Volkes und der Salons, lyrische Volkslieder, SchmunzeIlyrik, Couplets) können durch den Vortrag des «Interpreten» zum Chanson «kreiert» werden.
Häufig wird dem literarischen Chanson die seit Nestroy deutlich ausgeprägte Sprachstruktur des Couplets zugeschrieben, wobei man an die Vorliebe des Chansons für den Refrain denkt2. Wäre das berechtigt, so brauchten wir nur noch eine der beiden Bezeichnungen. Der Begriff Chanson lässt sich aber nicht auf irgendwelche Stoffe, Stimmungen, Aussagen oder Sprachstrukturen festlegen. Wie leicht nachzuprüfen ist, kann es von ernsten wie heiteren, groben wie diffizilen, seriösen wie frivolen Dingen auf viele Weisen sprechen, mit und ohne Refrain.
Die Texte des Chansons sind oft literarisch recht dürftig. Die künstlerische Wirkung des «literarischen» Chansons beruht in erster Linie auf der Vortragsgestaltung des Interpreten mit Hilfe von Musik und Mimik im weitesten Sinne. Das weist wiederum darauf hin, dass wir mit dem Begriff Chanson in Deutschland nicht eine literarische Gattung meinen - sondern eher einen besonderen Vortragsstil, eine Form des Kontaktes zwischen Solist und Publikum durch Sprache, Musik und Mimik.
Bei genauerem Hinschauen (Hinhören) lässt sich noch einiges mehr feststellen:
Es macht einen Unterschied, ob eine Chansonnière auf die Bühne kommt und sich mit ihrem Lied dem Publikum vorstellt: »Je suis Adele, la reine blonde, on me connait, Messieurs» (Wolzogen) - oder ob hier von «Brigitte B.« (Wedekind) berichtet wird: «Ein junges Mädchen kam nach Baden» - oder ob jemand laut reflektiert: »Ja, so geht es in der Welt, alles fühlt man sich entgleiten -« (Klabund) - oder ob schließlich auf jede Handlung und Reflexion verzichtet wird und dafür Stimmung geschildert: «Da ist ein Land, ein ganz kleines Land, Japan heißt es mit Namen.» (Tucholsky). So lassen sich, wenn wir vorn Inhalt des Chansons ausgehen, vier Haupttypen des dargestellten Objektes unterscheiden, die allerdings selten in einem Chanson rein vorkommen, sondern sich meistens so mischen, dass einer vorherrscht:
Bei Oberwiegen des ersten Typs können wir vorn Selbstdarstellungschanson oder Vorstellungschanson sprechen. Es ist, wie das «Rollengedicht« in der ersten Person geschrieben und scheint sich darum für das Kabarett besonders gut zu eignen.
Beim Chanson des zweiten Typs herrscht die Handlungsdarstellung vor, wie etwa in der Ballade. Es erzählt in der dritten Person.
Im dritten Typ überwiegt die Reflexion. Hier werden unpersönliche Ausdrücke wie «man« und «es» oder «die Menschen» bevorzugt. Das Couplet bietet dafür die ideale Sprachform.
Den vierten Typ charakterisiert die Stimmungs- und Zustandsschilderung.
Es macht ebenfalls einen Unterschied, ob in einem Chanson die Spannung der Handlung so angelegt ist, dass sie sich erst in der letzten Strophe auflöst (Beispiel: «Mein Mann ist verhindert» von Porter/Metzl) - oder ob, wie jedesmal im Couplet, am Ende jeder einzelnen Strophe durch den Kehrreim eine überraschende Wendung und Einordnung des zuvor gesagten stattfindet, so dass man grundsätzlich beliebig viele Strophen aneinanderreihen könnte, vorausgesetzt, dass sich deren Inhalt auf überraschende, meistens witzige, Weise dem Motto des Kehrreims anschließen lässt. (Beispiel: Nelsons Ladenmädel: «Erst kamen die Blusen, die Kleider, darauf die Jupons voller Pli...”)
Es lassen sich also zwei Bauformen des Chansons unterscheiden: die «horizontal» (auf das Lied-Ende hin) und die «vertikal» (auf das Strophen-Ende hin) orientierte, wobei die letzte eindeutig überwiegt.
Wenn wir den Kehrreim, für den das Chanson zweifellos eine Vorliebe hat, etwas genauer betrachten, so können wir auch hier zwei unterschiedliche Formen feststellen:
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