Fiktionale Prosa im Siglo de Oro

Ritter, Schäfer und Schelme


Term Paper, 2004

32 Pages, Grade: gut+ (2+)


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zeitliche Abgrenzung
2.1. Polithistorische Hintergründe
2.1.1. Renaissance:
2.1.2. Barock:
2.2. Soziokulturelle Hintergründe / Bedeutung der Literatur

3. Fiktionale Prosa des Siglo de Oro:
3.1. Vorgeschichte der fiktionalen Prosa:
3.2. Die Gattung des Romans
3.2.1. Publikum:
3.2.2. Kritik und Zensur

4. Der Ritterroman (novela de caballerías)
4.1. Charakteristische Merkmale
4.2. Ursprünge / Literarische Vorbilder: Amadís de Gaula
4.3. Entwicklung des Genres: Don Quijote

5. Der Schäferroman (novela pastoril)
5.1. Ursprünge / Literarische Vorbilder
5.2. Charakteristische Merkmale
5.3. Das Werk „Diana“
5.4. Die Entwicklung des Genres

6. Exkurs: Die Moriskenerzählung und der byzantinische Roman
6.1. Die Moriskenerzählung
6.2. Der Byzantinische Roman

7. Der pikareske Roman (la novela picaresca)
7.1. Literarische Vorbilder/Ursprünge
7.2. Charakteristische Merkmale

8. Fallstudie: Lazarillo de Tormes
8.1. Ursprünge
8.2. Inhalt
8.3. Formaler Aufbau
8.4. Stilistische Merkmale
8.4.1. Das satirische und groteske Element im Lazarillo
8.4.2. Der Ehrbegriff
8.5. Der Strukturwandel des pikaresken Romans durch Mateo Alemán
8.6. Entwicklung des pikaresken Romans
8.7. Weitere pikareske Romane

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Siglo de Oro bezeichnet die klassische Epoche der spanischen Kultur, die das 16. und 17. Jahrhundert umfasst. Diese Blütezeit Spaniens ist geprägt durch ein außergewöhnliches und umfangreiches kulturelles Schaffen auf allen Gebieten der verschiedenen Künste, allen voran der Literatur, aber auch im Bereich der Malerei und Architektur. Neue literarische Gattungen wurden geschaffen, welche die abendländische Literatur nachhaltig beeinflussten. Insbesondere der spanische Roman erlebte im goldenen Zeitalter eine Phase des glanzvollen Aufstiegs und brachte Werke hervor, die heute zu den berühmtesten der spanischen Literatur zählen. Gleichzeitig erlebte Spanien die größte territoriale Ausdehnung seines Machtgebiets und behauptete damit seine Vormachtstellung innerhalb Europas. Der geläufige Terminus „Siglo de Oro“ wird von spanischen Historikern jedoch häufig vermieden, da gerade das 17. Jahrhundert auch mit Machtverlust und dem Niedergang des spanischen Imperiums einherging.

Als Gegenstand der Hausarbeit wird die Darstellung der wichtigsten literarischen Gattungen fiktionaler Prosa, des Ritterromans, des Schäferromans und des Schelmenromans unter Berücksichtung der soziokulturellen und politisch-historischen Hintergründe, sowie der literarischen Kommunikationssituation in der damaligen Zeit dienen. Anhand einer Fallstudie zum pikaresken Roman Lazarillo de Tormes als gesellschaftskritisches Werk, dass sich trotz Zensur und Inquisition durchsetzen konnte, soll zudem bewiesen werden, dass sich literarische Tradition und innovativer Charakter durchaus vereinbaren lassen.

2. Zeitliche Abgrenzung

Die Periodisierung der Epoche ist wenig einheitlich und nicht unproblematisch. Polit-historische Eckdaten mit deren weit reichenden kulturellen Folgen, sowie literarhistorische Wendepunkte dienen meist der zeitlichen Bestimmung des Siglo de Oro. Gemeinhin wird die epochale Zeitenwende auf das Jahr 1492 datiert. In diesem entscheidenden Jahr fand die Reconquista mit der Eroberung Granadas, dem Fall der letzten maurischen Bastion, durch die Katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón, ihr Ende. Mit ihrer Eheschließung im Jahre 1469 und der damit verbundenen Vereinigung der Königreiche Kastilien und Aragón schafften sie die Grundlagen für den Aufstieg Spaniens zur führenden Macht in Europa. Kurz nach Abschluss der Reconquista wurde ein Dekret erlassen, welches die Ausreise aller Juden, die nicht zum christlichen Glauben konvertiert waren, verfügte.[1] Diese beiden Ereignisse markierten die innere Wende Spaniens. Die äußere Wende fand ihren Ausdruck mit der Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph Columbus und damit dem Beginn der spanischen Eroberungen in Übersee.

Das moderne Spanien avancierte in dieser Zeit nicht nur zur politischen Großmacht, sondern ebenfalls zur kulturell prägenden Größe. Im politisch so bedeutsamen Jahr 1492 verfasste Antonio de Nebrija die erste spanische Grammatik, die so genannte Gramática castellana, ein deutliches Symptom für ein aufkommendes Sprachbewusstsein[2] und Ausdruck für die große Bedeutung der kastilischen Sprache.

Obgleich das 17. Jahrhundert von Krisen und Machtverlust geprägt war, findet das Siglo de Oro mit dem Jahr 1700, dem Todesjahr des letzten Habsburgerkönigs auf dem spanischen Thron, Karls II., sein Ende.

Die literarische Eingrenzung der Epoche gestaltet sich weniger problematisch. Als erstes Werk gilt einheitlich La Celestina (1499) von Fernando de Rojas, das vom ausgehenden Mittelalter bis in die Moderne ragt. Als Endpunkt der literarischen Blütezeit wird das Jahr 1681, das Todesjahr von Pedro Calderón de la Barca betrachtet.[3]

2.1. Polithistorische Hintergründe

Das spanische Mittelalter ist durch ein weitgehend friedliches und tolerantes Zusammenleben dreier Kulturen, Christen, Mauren und Juden, gekennzeichnet, obwohl die Reconquista bereits seit dem 11. Jahrhundert von den Christen vorangetrieben wurde. Kulturelle Interaktion ist einer der charakteristischen Züge dieser Epoche.[4]

Bezeichnend für das 15. Jahrhundert ist das Bemühen um religiöse und politische Einheit. Jüdische und arabische Einflüsse wurden zurückgedrängt und die Konversion zum Christentum erzwungen.[5]

Die Gründung der Inquisitionsbehörde im Jahre 1478 diente als Instrument der Mauren- und Judenpolitik zur Kontrolle der Konvertierten und Zwangsgetauften, die das Christentum nur zum Schein angenommen hatten (cristianos nuevos).[6] Die Macht der Katholischen Könige (abgeleitet vom griechischen Begriff „katholikós“= dt.: das Ganze betreffend)[7] Ferdinand und Isabella gründete auf dem katholischen Glauben und der Ideologie der limpieza de sangre (dt.: Blutsreinheit). Die Einführung der Inquisition führte zu einer Spaltung der spanischen Gesellschaft in Alt- und Neuchristen.[8]

Entscheidend für den historischen und kulturellen Veränderungsprozess Spaniens waren vor allem zwei Epochen: Renaissance und Barock.

2.1.1. Renaissance:

Zur Zeiten der Renaissance waren vor allem die Schriften des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536) von großem Einfluss. Es erfolgte eine geistige und religiöse Umorientierung auf der Iberischen Halbinsel, die neue Gestaltungsprinzipien in den verschiedensten Bereichen etablierte.[9] Erst die Herrschaft der Katholischen Könige ermöglichte die enormen gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der Epoche in Spanien.

2.1.2. Barock:

Die auf die Renaissance folgende Epoche des Barock wird allgemein als „Rückschritt“ bezeichnet, als Rückwendung zu früheren Positionen.[10] Mit Beginn der Regentschaft Philipps II. etablierte sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine enorme staatliche Kontrolle, die das öffentliche und private Leben stark beeinflusste. Das religiöse, politische, sowie das intellektuelle Verhalten der Bevölkerung wurde durch die Zensurbehörden und die Inquisition kontrolliert, Autoren und Schriften in besonderem Maße[11]: Spanien wurde zum radikalen Verfechter der Gegenreformation. Insgesamt war die Epoche des Barock geprägt von Staatskrisen und dem allgemeinen ökonomischen und politischen Niedergang des Weltreichs Spanien.

Die Periodisierung der Literatur der Epoche ist ebenfalls nicht unproblematisch, da sich Werke oftmals nicht zuordnen lassen: Obgleich zur Barockliteratur zugehörig, besitzen einige Werke eindeutigen Renaissancecharakter. Daher ist die Einteilung des Siglo de Oro eher als „grobe Orientierung, denn als allgemeingültiges Zuordnungsschema zu verstehen.“[12]

Historisch-politisch wird das Siglo de Oro häufig in die beiden Jahrhundert unterteilt; in eine erste Epoche unter der Regentschaft von Karl V. und Philipp II., in der Spanien seine größte Machtausdehnung erfuhr, und in eine zweite des allmählichen Niedergangs. In der Mitte des 16. Jahrhunderts fand eine Zäsur statt, da sich staatliche Kontrolle und religiöse Tätigkeiten verstärkten. Zudem vollzog sich eine Abschottung vom restlichen Europa statt.

Von Literaturwissenschaftlern wird häufig eine Einteilung nach Genres bevorzugt.

Diese gängige Periodisierung soll ebenfalls als Grundlage für die folgenden Ausführungen dienen, basierend auf einer chronologischen Vorgehensweise.

2.2. Soziokulturelle Hintergründe / Bedeutung der Literatur

In der Epoche des Siglo de Oro wurden nicht nur bedeutende Klassiker und Werke der Weltliteratur verfasst, insgesamt entwickelte sich ein blühendes literarisches Leben am Hof und in den kulturellen Zentren.[13]

Aber die Epoche des Siglo de Oro ist gleichermaßen eine Phase von „außerordentlicher Problematik“[14] , Américo Castro prägte daher den Begriff „edad conflictiva“ (= Zeitalter der Konflikte). Begründet auf den Gesetzen von „rassischer Reinheit“ (limpieza de sangre= Blutsreinheit) und religiöser Orthodoxie in ihrer striktesten Form erzwang Spanien seine staatliche, gesellschaftliche und geistige Einheit. Durch die Gesetze zur Blutsreinheit erfolgte eine Ausgrenzung all jener Spanier, jüdischer oder maurischer Abstammung, die als Zwangs- und Neubekehrte in ständigem Verdacht standen, in frühere Glaubenspraktiken zurückzufallen. Auffällig ist, dass viele der bedeutendsten Autoren des Siglo de Oro, von Mateo Alemán (1547-1615), Autor des Guzmán de Alfarache (1599-1602), bis hin zu Miguel de Cervantes (1547-1616), Verfasser des Don Quijote (1605-1615), so genannte Neuchristen waren und als solche ständig mit der Inquisition in Konflikt gerieten. Daher kann ein großer Teil der spanischen Literatur des 16. Jahrhunderts als „Protest gegen die Repression der geistig immer weniger offenen Welt der Altchristen“[15] in Zusammenhang mit der europäischen Bewegung der Renaissance gedeutet werden.

Wer sich nicht durch die Inquisition der Selbstzensur unterziehen wollte, wählte das Exil, wie zum Beispiel der Humanist Juan Luis Vives (1492-1549). Viele Autoren suchten Zuflucht in Priesterämtern, beispielsweise Lope de Vega und Calderón de la Barca, um ihre Werke mit gottgewollter Richtigkeit zu rechtfertigen, das theologische Denken der Zeit wurde zum geistigen Rahmen ihrer Werke.[16] Eine Sonderstellung nimmt Miguel de Cervantes ein. Als direkter Schüler des Erasmus von Rotterdam (1467-1536), dem wohl bedeutendsten Vertreter des christlichen Humanismus, flüchtete er sich nicht in ein Priesteramt. Cervantes´ Hauptwerke, Don Quijote und die Novelas ejemplares rechtfertigen die Literatur als „Medium der menschlichen Selbstreflexion.“[17] Der Don Quijote bildet zudem den Höhepunkt des literarischen Schaffens im Goldenen Zeitalter und eröffnete zugleich die Geschichte des modernen Romans, insofern er das Leben eines problembehafteten Antihelden darstellt, der aus der Realität flieht und über das Erzählen reflektiert.[18]

3. Fiktionale Prosa des Siglo de Oro

3.1. Vorgeschichte der fiktionalen Prosa

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts etablierte sich das Kastilische an den Königshöfen als Verwaltungssprache. Die historischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Werke von Alfons dem Weisen zeugen von diesem Prozess. Die ersten fiktionalen Prosatexte waren Übersetzungen narrativer Werke orientalischen Ursprungs aus dem Arabischen und Hebräischen. Der bekannteste Text, das Libro de Calila e Dimna wurde1251 aus dem Arabischen ins Kastilische übersetzt. Als Beginn der spanischen Novellistik gilt El Conde Lucanor von Juan Manuel (1282-1349), einem Adligen und Neffe Alfons` des Weisen dessen endgültige Fassung 1335 fertig gestellt wurde. Das Werk ist noch dem mittelalterlichen Denken verpflichtet, was sich an der „Verschmelzung von Historie und Legende“ ablesen lässt und steht gleichzeitig im Dienst eines „zunehmend christlichen Diskurses“.[19]

Die nachhaltige Wirkung des Werkes war vor allem für verschiedene Genres des Siglos de Oro, aber auch für die Literatur außerhalb Spaniens von großer Bedeutung.

Eine Urfassung des Amadís de Gaula, des berühmtesten Ritterromans Spaniens wird für das 14. Jahrhundert in spanischer oder portugiesischer Sprache vermutet. Diese literarische Gattung sollte dann im 16. Jahrhundert zu besonderer Blüte kommen. Außerhalb der Tradition der Ritterromane steht die Corónica del muy esforçado y esclarecido cauallero Zifar verfasst von dem Geistlichen Ferrant Martínez (vor 1274-1310/13), der auf den französischen Ritterromanen des 12. Jahrhunderts basiert. Zwar wurde der Roman bis ins 16. Jahrhundert viel gelesen, hatte aber keinen Einfluss auf die spätere Produktion von Ritterromanen.[20]

In der späthöfischen Kultur des 15. Jahrhunderts fand sich die Gattung der „novela sentimental“. Das zentrale Thema „Liebe“ hatte sich jedoch bereits von den herkömmlichen höfischen Liebeskonvention gelöst: Sie beschreibt nicht mehr das „Spiel der sprachlich vermittelten Liebe“, sondern pure Leidenschaft mit einem meist unglücklichen Ende der Liebesgeschichten. Dies galt zur damaligen Zeit als absoluter Tabubruch, somit stellte sich das Genre der novela sentimental gegen die gängige gesellschaftliche Ordnung. Neben französischen Vorbildern orientierte sich die Gattung vor allem an den italienischen Werken von Dante, Piccolomini und Boccaccio.

3.2. Die Gattung des Romans

3.2.1. Publikum:

Die Gattung Roman sprach, ähnlich wie das Theater, ein heterogenes Publikum aller Schichten an. Trotz der hohen Analphabetenquote (75-80 %) im 16. und 17. Jahrhundert, waren Romane, wie auch andere Texte, einer breiten Masse zugänglich, da es üblich war, im großen Kreis vorzulesen.[21] Besonders beliebt waren die Ritter- und die Schäferromane, Genres, die für den heutigen Leser am wenigsten zur qualitativ hochwertigen Romanproduktion der Epoche beitrugen Don Quijote von Cervantes hingegen ist aus heutiger Sicht der unangefochtene Höhepunkt der spanischen Romankultur, war jedoch bei den zeitgenössischen Lesern nur mäßig gefragt. Der Grund mag in den veränderten Lektürevorlieben des Lesepublikums liegen, was sich insbesondere auch beim Schelmenroman veranschaulichen lässt: Der damalige Bestseller im Siglo de Oro, Guzmán de Alfarache von Mateo Alemán wird heute wegen seiner Langatmigkeit und seiner moralisierenden Haltung kaum mehr gelesen, fand jedoch beim zeitgenössischen Lesepublikum großen Anklang, der anonyme Lazarillo de Tormes hingegen wurde nur mit wenig Begeisterung aufgenommen.

3.2.2. Kritik und Zensur

Die Gattung des Romans genoss ein nur geringes Ansehen und war den Vorbehalten und Attacken ns staatlicher und klerikaler Autoritäten ausgesetzt. Einer der Hauptkritikpunkte war der „Tatbestand“ der Fiktion, die mit Unwahrheit und Lüge gleichgesetzt wurde. Der Roman galt als „frivol, weil er die Unterhaltung über die Belehrung, die Zerstreuung über die Moral zu stellen schien“.[22] Im Zentrum der Kritik standen vor allem die sehr beliebten Ritterromane, aber auch die Schäfer- und Schelmenromane.[23] Die Inquisitoren unterstellten den narrativen Texten einen Mangel an didaktischem Anspruch und „heterodoxe Abweichungen“[24] Der Lazarillo wurde sogar zeitweise auf den Index gesetzt und erschien später nur noch in „gereinigter“ Form. Die Autoren reagierten entweder mit moralisch-didaktischen Anreicherungen ihrer Texte oder flüchteten sich in die Anonymität. In den Jahren 1625 bis 1634 bestand in Kastilien ein generelles Druckverbot für Romane, das die Zensurabteilung der Inquisition erwirkt hatte, sowie ein offizielles Ausfuhrverbot nach Amerika, da man befürchtete, die Romane könnten die Bewohner der Kolonialreiche moralisch verderben. Aus diesem Grund erschien die Gattung Roman erst sehr spät in der hispanoamerikanischen Kolonialliteratur. Während in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, dem so genannten Renacimiento noch ein relativ liberales Klima herrschte und sich die Phantasie, insbesondere in den Ritter- und Schäferromanen, sowie in den Moriskenerzählungen, noch frei entfalten konnte, verstärkte sich ab der Mitte des Jahrhunderts die Kontrolle durch Inquisition und Zensur und das Land schottete sich zunehmend von äußeren Einflüssen ab.[25] Aber gerade in dieser Zeit erlebte die Gattung für ein Jahrhundert ihre Blütezeit, was mit dem Bedürfnis nach Realitätsflucht zu erklären ist. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts zeichnete sich eine deutliche Tendenz zur Moralisierung und Entfiktionalisierung des Romans ab.[26] Dies lässt sich am deutlichsten im Vergleich zwischen den beiden bekanntesten pikaresken Romanen beobachten.

Während der Lazarillo de Tormes (1552/1554) als frech und moralisch bedenklich galt, wies der zweiteilige Guzmán de Alfarache (1599/1604) eine Überfülle an moralischer Rücksichtnahme auf.

4. Der Ritterroman (novela de caballerías)

„Los que tratan de hazaňas de caballeros andantes, ficciones gustosas y artificiosas de mucho entretenimiento y poco provecho, como los libros de Amadís, de don Galaor, del caballero del Febo y de los demás“, so definiert Sebastián de Covarrubias in seinem Tesoro de la lengua castellana espaňola (1611) eine der erfolgreichsten Erzählgattungen des Siglo de Oro, die ihren Höhepunkt zwischen den Jahren 1508 und 1550 fand.[27]

Der Erfolg dieser, laut Definition, frei erfundenen, sehr unterhaltsamen und wenig nützlichen Bücher, nahm in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ab und fand schließlich ihr Ende 1605 mit dem Erscheinen Cervantes´ Don Quijote. Die narrativen Werke über die wundersamen Abenteuer reisender Ritter wurden mit großer Begeisterung von einem breit gefächerten Publikum gelesen. Sie entsprachen vor allem dem Geschmack der sozialen Schicht der „hidalgos“, verarmte Adlige, die sich besonders gut mit den Werken identifizieren konnten. Die hidalgos sahen in den Fiktionen eine „gereinigte und geschönte Darstellung der aristokratischen Gesellschaft“[28] Im Gegensatz zur Mittellosigkeit des Standes, wie sie in der Realität existierte, konnten sie beim Lesen der Ritterromane in ihrer ruhmreichen Vergangenheit und der Nostalgie von Freiheit und Selbstverwirklichung schwelgen.

Daher wird die Gattung zu Recht nach Neuschäfer als „nostalgische Evasionsliteratur“ bezeichnet.[29] Aufgrund des „Wahrheitsdefizits“ hatte der Ritterroman zunächst erhebliche Legitimationsprobleme, da er nur „historias fingidas“, keine „historias verdaderas“ verbreitete und bei den Orthodoxen als „anstößiger Zeitvertreib“ galt.[30] Kritik an dem Genre wurde vor allem ns der Humanisten, wie zum Beispiel von Juan Luis Vives, Antonio de Guevara und Juan de Valdés, geäußert. Nach ihrer Auffassung verstieß die Gattung gegen die Horaz´sche Regel, Unterhaltung und Belehrung zu verbinden.[31]

[...]


[1] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.8

[2] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.73

[3] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.8

[4] ebd.: S.9

[5] ebd.: S.10

[6] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.91

[7] ebd.: S.69

[8] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.10

[9] ebd.: S.12

[10] ebd.: S.12

[11] ebd.: S.13

[12] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.14

[13] ebd.: S.37

[14] Rössig, Wolfgang: „Hauptwerke der spanischen und portugiesischen Literatur“; Kindler Verlag, München 1995, S.12

[15] ebd.: S.12

[16] Rössig, Wolfgang: „Hauptwerke der spanischen und portugiesischen Literatur“; Kindler Verlag, München 1995, S.13

[17] ebd.: S.13

[18] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.123

[19] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.115

[20] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.116

[21] ebd.: S.117

[22] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.123

[23] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.118

[24] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.123

[25] ebd.: S.123

[26] ebd.: S.124

[27] Strosetzki, Christoph: „Geschichte der spanischen Literatur“; Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1991, S.89

[28] ebd.: S.89

[29] Simson, Ingrid: „Das Siglo de Oro“; Ernst Klett Verlag, Stuttgart 2001, S.118

[30] Neuschäfer, Hans-Jörg: „Spanische Literaturgeschichte“; J.B. Metzler/Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart/Weimar 1997, S.126

[31] Strosetzki, Christoph: „Geschichte der spanischen Literatur“; Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1991, S.90

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Details

Title
Fiktionale Prosa im Siglo de Oro
Subtitle
Ritter, Schäfer und Schelme
College
University of Siegen
Course
Einführung in die Literaturwissenschaften / Hispanistik
Grade
gut+ (2+)
Author
Year
2004
Pages
32
Catalog Number
V82763
ISBN (eBook)
9783638898379
ISBN (Book)
9783638904742
File size
951 KB
Language
German
Keywords
Fiktionale, Prosa, Siglo, Einführung, Literaturwissenschaften, Hispanistik
Quote paper
M.A. (Magistra Artium) Julia Brenner (Author), 2004, Fiktionale Prosa im Siglo de Oro, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82763

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