Wolfgang Koeppens "Aufzeichnungen aus einem Erdloch"

Das Erdloch als Symbol im intertextuellen Zusammenhang


Trabajo de Seminario, 2002

22 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

I Hintergrund

II Einleitung - Das Erdloch

III Philosophische Vordenker
III.i Platon
III.ii Pascal

IV Das Erdloch im intertextuellen Kontext
IV.i Joseph Conrads Herz der Finsternis
IV.ii Louis Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht

V Schlussbetrachtung: Das Erdloch als Chiffre für die conditio humana

I Hintergrund

Nous avons sondé des abîmes en nous mêmes et chez les autres[1]

Edmond Michelet

Wolfgang Koeppens Bearbeitung von Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (JLA) ist ein Text, dessen Handlung sich nicht nur zum großen Teil in einer Unter-Welt entfaltet, sondern der selbst lange in Halykonien gewesen ist. Dank der literaturwissenschaftlichen Detektivarbeit von Reinhard Zachau, Roland Ulrich und Jörg Döring ist die wahre Entstehungsgeschichte jetzt ans Licht gekommen.[2] Aufgrund dieser außergewöhnlichen und lange verborgenen Entstehungsgeschichte ist die Forschungslage zu diesem Werk, das mehr als 40 Jahre lang kaum Beachtung fand, nach wie vor dürftig. Die Erstausgabe im Kluger Verlag wurde lediglich feuilletonistisch rezipiert, bis sie dem Germanisten Ekhardt Haack Anfang der 80er Jahre in einem Antiquariat auffiel. Inkohärenzen im Erzählstil ließen ihn im Text eine Bearbeitung ähnlich der, die Arnold Zweig an Hilde Hupperts Engpaß zur Freiheit vorgenommen hat, vermuten[3]. Diese Vermutung konnte jedoch zu der Zeit nicht bestätigt werden. Haack nahm sogar zu Koeppen selbst bezüglich des Textes Kontakt auf, da letzterer bei einer Ausgabe von Zolas Germinal im selben Verlag mitgearbeitet hat, jedoch leugnete er jegliche Kenntnis des Textes. Eine von Haack angeregte Wiederveröffentlichung im Berliner Kupfergraben-Verlag wurde von der Kritik weitgehend ignoriert. Erst nach der Wiederveröffentlichung im Jüdischen Verlag unter Koeppens Namen wurde der Text literaturwissenschaftlich rezipiert, wenn auch noch recht zurückhaltend. Jedoch fehlten allen Forschern, die sich vor der "Wiederentdeckung" des originalen Littnerschen Typoskripts 1999 damit befaßt hatten, zur Auslegung des Textes unentbehrliche Informationen. Koeppens Behauptung im Vorwort zu der 1992 erschienenen Neuauflage, er hätte von seinem Verleger lediglich drei n erhalten, hat sich als fiktiv erwiesen. Aus diesem Grund müssen frühere Interpretationen und Kritiken, die von Koeppen als alleinigem Autor ausgehen, neu bewertet werden.

II Einleitung - Das Erdloch

Ziel dieser Arbeit ist es, der Frage nachzugehen, ob das Erdloch des Koeppenschen Titels nur in einem engeren, physischen Sinn zu verstehen ist, oder ob ihm eine erweiterte metaphysische Bedeutung zugeschrieben werden kann. Das Erdloch im engeren Sinne spielt zweifelsohne als Handlungsort im Text eine wichtige Rolle. Von den 188 Aufzeichnungen spielt sich ungefähr ein Drittel im Unterirdischen ab. Des Weiteren enthält fast jede Unter-Welten im weiteren Sinne, Verstecke, Verließe und andere geschlossene Räume. Schon diese Erweiterung des Begriffs wirft die Frage nach anderen möglichen Bedeutungen und ihrer Rolle im Text auf.

Die Tatsache, daß Koeppen den von Littner gewählten Titel[4] geändert hat, deutet schon auf die auktoriale Intention hin, mit dem Titel den Lesern etwas mitzuteilen, was im Originaltitel nicht enthalten ist. Daß das Erdloch schon im Titel erwähnt wird, suggeriert, daß ihm Koeppen eine größere Bedeutung zumißt, als es im Ausgangstext erhält. Trotz der Uneinigkeit über andere Aspekte des Texts sind sich die Kritiker wenigstens in einem Punkt einig: In seiner Bearbeitung des Littner-Berichts literarisierte Koeppen den ihm vorliegenden Text. Schon der erste Rezensent, Bruno Wagner (der ehemalige Chef des Verlagsleiters Kluger), stellte eine hohe Literarizität fest[5]. Haack fielen Schwankungen zwischen einer neutralen Berichtssprache und poetischeren Passagen auf. Diese Inkonsistenz war eine Quelle der Kritik für spätere Rezensenten, die sie für unzureichende Lektoratsarbeit hielten. Die vorliegende Arbeit soll zeigen, daß aufgrund von Koeppens Literarisierung des Textes das Erdloch sehr viel mehr darstellt als einen Ort der Zuflucht vor den Nationalsozialisten.

Genauer betrachtet ist das Erdloch im physischen Sinne, d.h. der Luftschutzkeller, das zugemauerte Versteck, die ausgegrabene Höhle unter dem Ghetto oder der Keller bei B., ein Ort der Passivität. Die räumliche Eingrenzung, die Enge und die erstickende Atmosphäre lassen kein Handeln als solches zu. Im „Roman“[6] fungiert das Erdloch als eine Art Zuflucht vor dem Handeln, oder Handeln-Müssen. In seinem Vorwort zur Neuausgabe 1992 schreibt Koeppen den kontroversen und viel diskutierten Satz: „Da wurde es meine Geschichte“. Dies deutet darauf hin, daß Koeppen sich zumindest teilweise mit seinem Protagonisten identifiziert. Die passiv-abwartende Haltung der Juden im Erdloch entspricht der Koeppens während der NS-Zeit[7]. Einen von vielen Hinweisen darauf findet man in seiner Dankrede zur Verleihung des Büchnerpreises 1962, in der er konstatiert, daß er wahrscheinlich gar nichts anderes als Schriftsteller hätte werden können, weil er kein Handelnder sein wollte, sondern „nur“ ein Beobachter des Lebens. Im Vorwort gesteht er, daß er nicht zu den Leuten gehörte, die nichts gewußt haben. In der Tat ist jetzt bekannt geworden, daß Koeppen sogar kurzzeitig Mitglied des Feldafinger Volkssturms gewesen ist. Er ist also nicht - wie er behauptet hat - untergetaucht und gezwungen worden, in einem Keller von rohen Kartoffeln zu leben[8]. Doch von dieser moralisch zweifelhaften Schwejkiade abgesehen führt Koeppen ein der Autorschaft zweckdienliches passives Außenrdasein. Auch Littner sieht sich zur Passivität gezwungen: Jeder Aufenthalt im Erdloch wird zu einer Zeit des Harrens und Hoffens: "Stundenlang saßen wir im Luftschutzkeller. Man hockt zwischen den Kellerwänden, in denen man sich geborgen glauben möchte, [...] und endlich, man wartet darauf, auf ein Krachen, Bersten, Splittern, das man einer abgeworfenen Bombe zuschreibt" (JLA, S. 41f).

Dieses Nicht-Handeln vermischt sich mit einem Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen. Littner erlebt dieses Gefühl zum ersten Mal bei seiner Ausreise nach Prag, als er von der SS angehalten wird: "Ich empfand wieder bitter und menschenunwürdig die Wehrlosigkeit, mit der man jeder brutalen oder auch nur bürokratischen Laune des subalternen Trägers einer Amtsgewalt ausgeliefert ist" (JLA, S. 34). Littner wird gezwungen, in Zbaraz zu bleiben, während sein Sohn im Warschauer Ghetto verhungert. Die Ansicht eines jungen Ehepaars mit Kind, die zum Vernichtungslager abtransportiert werden, erweckt ähnliche Gefühle: "Es schnitt mir in die Seele, das Elend sehen zu müssen und nicht helfen zu können. Jede Sekunde konnte auch mich das gleiche Los treffen." (JLA, S. 83) Dies erinnert an eine Aussage Koeppens in einem Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki, in dem er feststellt, daß er sich “mit meinem Gefühl, mit meiner Moral auf die der Juden stellte. Aber ich will nicht so weit gehen, daß ich mit ins Vernichtungslager muß." In einem kurzen Text mit der Überschrift Fische für Fans und Sadisten beschreibt Koeppen eine Szene auf einem Markt, die zu seiner Haltung während der NS-Zeit paßt:

"Und heute, hier auf dem Markt, hätte ich einem kleinen Seekrebs das Leben retten können, er war aus der Tonne gefallen, kroch herum, und ich griff nicht schnell genug zu, da hatte der Händler ihn wieder. Ich hätte ihn ins Wasser geworfen. Aber was hätte es genützt? Alle anderen Seekrebse blieben in der Tonne, einem grausamen Tod anheim gegeben" (Wolfgang Koeppen, Ich bin gern in Venedig warum, S. 26)

Koeppens Littner verwendet eine ähnliche Metapher um sein Ausgeliefertsein zu beschreiben: „Wir sind Fische im Bassin eines Kochs“ (JLA S. 117). Die Ähnlichkeit der Bilder läßt vermuten, daß Koeppens Marktplatz-Geschichte sich auf seine Situation im Dritten Reich bezieht. Die Thematik der Passivität wird an einer anderen Stelle von Koeppen wieder aufgegriffen. Littner fragt sich:

"Was habe ich versäumt in meinem Leben, was hätte ich tun können, tun müssen, um dem Schrecklichen zu begegnen und es zu hindern [...] ich lebte still und ehrlich. Ich kümmerte mich um nichts. Das war nicht genug" (JLA, S. 53)

Diese Worte hätten genauso gut von Koeppen selbst gesprochen werden können. Seine Bearbeitung des Littner-Berichts ist sein Versuch, sich mit seiner eigenen Vergangenheit zu versöhnen. In dieser wenigstens teilweisen Identifikation des Autors mit seinem Protagonisten weitet Koeppen die Relevanz des Berichts von der spezifischen Lage eines einzelnen Juden während des Holocausts aus. Die Gefühle, die der Krieg in Littner erweckt, treffen nicht nur auf die Juden zu, sondern auf alle, die nicht als Täter direkt beteiligt waren.

Littner wird einmal zu einer Art passiven Widerstands bewegt, als Mitglieder des Tarnopoler Sicherheitsdienstes nachts die Wohnung im Ghetto überfallen. Er schreit, daß sie aufhören sollen, den Professor zu schlagen, und wird dafür selber umso heftiger geschlagen. Hier gelingt es dem Protagonisten, mittels der Sprache seinen Mitbewohnern das Leben zu retten. Wenn Littner an die guten Menschen denkt, die er in München hinterläßt, denkt er an diejenigen, die den Parolen zur Unmenschlichkeit widerstanden haben: "Freilich ist es ein passiver Widerstand, den sie leisten". (JLA, S. 34). Im Text wird diese Art des passiven Widerstands befürwortet. Am (von Koeppen umgeschriebenen) Schluß fragt sich Littner "Was wäre wenn Deutschland [...] den Befehlen seines Molochführers nicht gefolgt wäre?" (JLA, S. 149). Mehreren Aussagen Koeppens zufolge war er stolz auf seinen eigenen passiven Widerstand, daß er nie unter Hitler gedient hat. Koeppen stellt seine eigene Lage nicht mit der Littners gleich, doch der Text enthält einige Vergleichspunkte, die eine Übertragung der geäußerten Gefühle und Gedanken auf den ghostwriter des Texts erkennen lassen.

[...]


[1] “Wir haben die Abgründe in uns selbst und in den Anderen erforscht” – Dieses Zitat steht auf einem Denkmal für NS-Opfer, die im Konzentrationslager Dachau gestorben sind, auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.

[2] Alle Einzelheiten dieser Entstehungsgeschichte und ihrer Aufdeckung zu erörtern würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zur Entdeckung des Originals siehe Zachau (2000), Roland (2000) und zum neusten Stand der Forschung siehe Döring (2001).

[3] Vgl. Döring, S. 16.

[4] Mein Weg durch die Nacht. Ein Dokument des Rassenhasses. Erlebnisbericht.

[5] Vgl. Döring, S. 16.

[6] Die erste Neuausgabe in Koeppens Namen im Jahre 1992 enthielt als Untertitel das Wort “Roman”, die Taschenbuchausgabe allerdings nicht mehr. In der Literatur zum Text werden die Aufzeichnungen als Mischung aus Dokumentarfiktion und Augenzeugenbericht beschrieben.

[7] Vgl. Döring S. 237ff zur “Wahrheit” über Koeppens Leben während der NS-Diktatur.

[8] Vgl. Döring S. 241.

Final del extracto de 22 páginas

Detalles

Título
Wolfgang Koeppens "Aufzeichnungen aus einem Erdloch"
Subtítulo
Das Erdloch als Symbol im intertextuellen Zusammenhang
Universidad
Dresden Technical University
Curso
Halykonien – Erzählte Unterwelten
Calificación
1,0
Autor
Año
2002
Páginas
22
No. de catálogo
V82796
ISBN (Ebook)
9783638898461
Tamaño de fichero
425 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Wolfgang, Koeppens, Aufzeichnungen, Erdloch, Halykonien, Erzählte, Unterwelten
Citar trabajo
Brendan Bleheen (Autor), 2002, Wolfgang Koeppens "Aufzeichnungen aus einem Erdloch" , Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/82796

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Título: Wolfgang Koeppens "Aufzeichnungen aus einem Erdloch"



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