Es gehört zu einem zentralen Charakteristikum von Wissenschaft, dass diese nicht aus sich heraus und nicht für sich allein existiert. Wissenschaft und Gesellschaft bedingen und beeinflussen sich, ebenso wie sie miteinander kommunizieren. Veränderungen in Strukturen und Prozessen der Gesellschaft finden ihren Widerhall in deren Teilsystem Wissenschaft und je kräftiger die Impulse, umso stärker kann die Resonanz sein. Dass das Auseinanderfallen des östlichen Machtblocks am Beginn des letzten Jahrzehnts im zwanzigsten Jahrhundert die Sozial- und hier vor allem die Politikwissenschaften nicht unberührt lassen konnte, war daher bereits damals abzusehen. Und dass insbesondere die Analyse deutscher Außenpolitik betroffen sein würde, erschien vielen unzweifelhaft – versprach doch die Wiedererlangung der vollen Souveränität des vereinigten Deutschland eine Ausweitung und Intensivierung außenpolitischer Aktivität und damit auch eines lohnenden Forschungsfeldes. Fast siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung präsentiert sich die deutsche Außenpolitikforschung in vorher nicht gekannter Quantität.
Doch nicht solche quantitativen Aspekte allein waren ursächlich dafür, dass sich das Ende des Ost-West-Konfliktes derart markant als Scheidepunkt deutscher Außenpolitikforschung manifestieren konnte. Dies wiederum war nur für die wenigsten vorhersehbar. Denn wenn auch die Wirkungsmacht realhistorischer Einflüsse nicht zu unterschätzen ist, wurde sie im konkreten Fall von wissenschaftshistorischen und disziplinspezifischen überlagert und verstärkt. Bereits vor dem Zusammenbruch des östlichen Machtblocks begann in ontologischer, epistemologischer und methodologischer Hinsicht ein Nachdenken über ‚Außenpolitik’, das die bis dato primär innerhalb des historisch-deskriptiven und rationalistischen Paradigmas angesiedelten Zugänge wesentlich bereicherte. In diesem Sinne folgte dieser Teil der politikwissenschaftlichen Forschung nur konsequent der „interpretativen Wende“ in anderen Sozialwissenschaften, wo inzwischen vor allem post-rationalistische Ansätze die wissenschaftliche Debattenlandschaft nachhaltig verändert hatten.
Die zentrale analytische Leistung der neueren Ansätze in der Außenpolitikforschung ist, dass sie weder Strukturen noch Akteure als ontologische Grundeinheiten bedingungslos voraussetzen, sondern von der Annahme ausgehen, dass sich diese gegenseitig determinieren. In diesem Duktus bedeutet Kodetermination dann, dass Strukturen einerseits konstitutiv für Akteure und deren Interessen sind, andererseits Akteure durch ihr Handeln diese Strukturen permanent reproduzieren und stabilisieren, aber auch verändern können. Die Kernaussage lautet demnach: Strukturen sind sozial konstruiert und veränderbar. Sie konstituieren sich durch soziale Praxen und die Sinninterpretationen der Akteure. Diese Sichtweise tritt endgültig ihren Siegeszug nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes an. Und hier schließt sich der Kreis zwischen wissenschaftshistorischen und disziplinspezifischen sowie realhistorischen Entwicklungen. Denn gerade die Auflösung des Ostblocks war durch die rationalistische Forschung so nicht erklärbar. Postrationalistische Perspektiven hatten es mit ihrer Betonung der Veränderlichkeit und der historischen Kontingenz sozialer Strukturen da schon einfacher.
Für die deutsche Außenpolitikforschung führten diese Entwicklungen im Laufe der 1990er-Jahre zu einem Paradigmenwechsel hin zu einer stärker theoriegeleiteten Analyse. Im Unterschied zu eher systemisch ausgerichteten, historisch-deskriptiven Zugängen deutscher Außenpolitikforschung vor 1990 standen nun primär subsystemische – also innergesellschaftliche – Erklärungsvariablen im Mittelpunkt, jedoch ohne dass systemische Einflüsse negiert worden wären. Zentral ist diesen meist konstruktivistisch und pragmatistisch ausgerichteten Ansätzen eben jene gegenseitige Bedingtheit von Strukturen und Akteuren. Analysiert werden etwa Bürokratien und deren inhärente Entscheidungsprozesse, die öffentliche Meinung zur Außenpolitik, außenpolitische Kulturen und Diskurse oder kollektive Identitätsvorstellungen. Demgegenüber stehen etwa mit der Analyse von Entscheidungsmustern außenpolitischer Entscheidungsträger oder deren individuellen Denk- und Weltbildern primär akteursbezogene Untersuchungen.
Roter Faden der Forschung ist die Suche nach Kontinuitäten und Brüchen deutscher Außenpolitik. Und wenngleich immer wieder davon gesprochen wird, dass das ‚grand design’ der außenpolitischen Linie Deutschlands nach 1990 auffällige Kontinuitäten zur Außenpolitik der Bonner Republik aufweist, können doch vor den zahlreichen ‚Neuerungen’ im außenpolitischen Verhalten der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung die Augen kaum verschlossen werden. Zahlreich sind daher die Aussagen, die in Politik und Wissenschaft von einem ‚neuen deutschen Selbstbewusstsein’, von ‚außenpolitischer Normalität’ und ‚gestiegener Verantwortung’ oder gar von einer ‚neuen deutschen Außenpolitik’ ganz allgemein sprechen. Offensichtlich wird dies angesichts der Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr. Bestand deren Aufgabe bis 1990 allein darin, innerhalb der NATO ihren Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zu leisten, stellt sie mittlerweile nach den USA weltweit das zweitgrößte Truppenkontingent in Konfliktgebieten. Allein seit 1998 sind mehr als 100.000 deutsche Soldaten und Soldatinnen in Out-of-Area-Einsätze auf drei Kontinenten geschickt worden.
Abgesehen von den Bündnisgrünen wurden die Auslandseinsätze der Bundeswehr in kaum einer anderen Partei derart kontrovers diskutiert wie in der SPD. Noch am Anfang der 1990er-Jahre waren zahlreiche Sozialdemokraten selbst gegen Blauhelmeinsätze unter UNO-Mandat, lehnten also jedweden Einsatz deutscher Soldaten außerhalb der NATO-Bündnisverpflichtung ab. In einem dann folgenden graduellen Prozess veränderte sich die Haltung der SPD derart, dass es letztendlich eine Regierung unter einem sozialdemokratischen Kanzler war, die erstmalig für Kampfeinsätze (Kosovo und Afghanistan) deutscher Soldaten im Ausland optierte. Der Kosovo-Konflikt (1999) ist dabei nicht nur mit dem endgültigen Abschied von der militärischen Zurückhaltung der alten Bundesrepublik gleichzusetzen, er fand zudem auch ohne ein bis dahin für unerlässlich gehaltenes UNO-Mandat statt. Mit ihm hat die Bundeswehr heute die gesamte Einsatzbreite vom reinen Blauhelmeinsatz über den robusten Einsatz zur Friedenssicherung bis hin zum Kriegsauftrag abgedeckt. Innerhalb von nur etwas mehr als einem Jahrzehnt hatte sich die SPD von einer Partei, die militärischen Auslandsengagements in hohem Maße skeptisch oder sogar fundamental ablehnend gegenüber stand, zu einer entwickelt, die Bundeswehrangehörige erstmalig in gleich zwei Kampfeinsätze entsandte. Vor diesem Hintergrund wird sich die folgende Analyse mit der Frage befassen, welche Ursachen dafür maßgeblich waren, dass die SPD diese Entwicklung genommen hat.
Inhaltsverzeichnis
- A. Einleitung
- B. Theoretische und methodische Vorbemerkungen
- B.I Die deutsche Außenpolitikforschung nach der Wiedervereinigung
- B.II Außenpolitikanalyse als Regierungsanalyse?
- B.III Methodische Aspekte und notwendige Abgrenzungen
- C. Parteiendemokratie und Außenpolitik
- C.I Parteien und gesellschaftliche Vermittlung von Außenpolitik
- C.II Parteieneinfluss auf das außenpolitische Regierungshandeln
- D. Die SPD und die Auslandseinsätze der Bundeswehr
- D.I Auffassungen vor 1990
- D.II Vom Golfkrieg bis Somalia
- D.III Der IFOR-Einsatz auf dem Balkan
- D.IV Vom Kosovo bis Afghanistan
- E Ursachen des außenpolitischen Orientierungswandels der SPD in Bezug auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr
- E.I Ursachen außerhalb der SPD
- E.I.1 Neues Selbstbewusstsein in der ,Berliner Republik'?
- E.I.2 Wer beeinflusst wen? Öffentliche Meinung und Außenpolitik
- E.I.3 Ende der Vergangenheit? - oder: Srebrenica, Kosovo und der Holocaust
- E.II Ursachen innerhalb der SPD
- E.II.1 Rollenvorstellungen bei sozialdemokratischen Entscheidungsträgern
- E.II.2 Das biographische Moment: Gerhard Schröder und die Auslandseinsätze
- F. Schlussbetrachtung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Hausarbeit analysiert die Ursachen des außenpolitischen Orientierungswandels der SPD in Bezug auf Auslandseinsätze der Bundeswehr. Der Fokus liegt auf der Frage, wie die SPD von einer Partei, die militärischen Auslandsengagements skeptisch gegenüber stand, zu einer Partei geworden ist, die Bundeswehrangehörige in Kampfeinsätze entsandte.
- Entwicklung der Einstellungsmuster der SPD zu Auslandseinsätzen
- Analyse der Einflussfaktoren auf die SPD-Positionierung
- Rolle der öffentlichen Meinung und des politischen Kontextes
- Einfluss der politischen Führung der SPD auf die Entscheidungsfindung
- Bedeutung des Selbstverständnisses der SPD in der deutschen Außenpolitik
Zusammenfassung der Kapitel
- A. Einleitung: Die Arbeit stellt die Relevanz des Themas im Kontext der deutschen Außenpolitikforschung nach der Wiedervereinigung dar. Sie führt die Veränderungen in der Positionierung der SPD zu Auslandseinsätzen ein und stellt die Forschungsfrage nach den Ursachen dieses Wandels.
- B. Theoretische und methodische Vorbemerkungen: Dieses Kapitel beleuchtet die Entwicklung der deutschen Außenpolitikforschung nach dem Fall der Mauer, fokussiert auf die Rolle der Parteien in der Außenpolitik und skizziert die methodischen Aspekte der Arbeit.
- C. Parteiendemokratie und Außenpolitik: Dieses Kapitel untersucht die Rolle von Parteien in der Vermittlung von Außenpolitik und deren Einfluss auf die außenpolitische Entscheidungsfindung.
- D. Die SPD und die Auslandseinsätze der Bundeswehr: Dieser Abschnitt zeichnet den Wandel der SPD-Positionierung in Bezug auf Bundeswehreinsätze von den Anfängen bis zur Jahrtausendwende nach.
- E Ursachen des außenpolitischen Orientierungswandels der SPD in Bezug auf die Auslandseinsätze der Bundeswehr: Dieses Kapitel analysiert die Ursachen für den Wandel der SPD-Haltung, indem es sowohl externe Faktoren wie den politischen Kontext, die öffentliche Meinung und historische Ereignisse als auch interne Faktoren wie das Selbstverständnis der SPD und die Rolle der politischen Führung beleuchtet.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beleuchtet die deutsche Außenpolitik, die SPD, Bundeswehreinsätze, Out-of-Area-Einsätze, Parteiendemokratie, politische Kultur, öffentliche Meinung, Selbstverständnis der SPD, historische Ereignisse, politischer Kontext, Entscheidungsprozesse, und den Wandel der Einstellungsmuster.
- Citation du texte
- Kai Posmik (Auteur), 2007, Zwischen Totalablehnung und Bereitschaft zur internationalen Krisenbewältigung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/85858