Herzschlag im Walzertakt? - Musik und Rhythmus in Thalheimers Inszenierung "Emilia Galotti" am Deutschen Theater Berlin


Term Paper (Advanced seminar), 2007

34 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Ein schöner Violinabend: ein paar Takte vorneweg

2. Die Bedeutung der Musik im Theater

3. Der Rhythmus in der Inszenierung
3.1 Rhythmus: eine Begriffsbeleuchtung
3.2 Rhythmus in der Inszenierung

4. Sinnsuche in der Musik: Der Walzer bei Thalheimer
4.1 Ein historischer Abriss
4. 2 (Un)sittlichkeit im ¾-Takt

5. Im Korsett des Walzertakts
5.1 Sprache
5.2 Mimik und Gestik
5.3 Bewegung

6. Der Rhythmus der Inszenierung

7. Ein schöner Theaterabend : ein paar Takte zum Schluss

8. Literaturverzeichnis
Monographien
Aufsätze
Periodika

9. Videoverzeichnis

1. Ein schöner Violinabend: ein paar Takte vorneweg

Ein willkürlicher und liebeskranker Prinzen; sein intriganter Kammerdiener Marinelli; die verlassene Geliebte, Gräfin Orsina; das Objekt des Prinzen Begierde, die bürgerliche Emilia Galotti nebst gestrengem Herrn Papa und Mama Galotti: Das sind die Figuren von Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Emilia Galotti“. Regisseur Michael Thalheimer jedoch gesellt in seiner Inszenierung dem Reigen der Charaktere einen weiteren Protagonisten bei:

„Noch ein Hauptdarsteller: die unablässigen Töne einer Violine. Ein Gehirnwassertropfen, immer die gleiche Stelle. Im Walzertakt.“[1] „Vom ersten, verschwörerischen Auftritt der Emilia bis zum abrupten, enttäuschenden Schluss walzt und wälzt sich eine endlose Geigenmelodie über Menschen und Wände.“[2] „Sie bohrt sich stimmungshaft wie eine Spirale ins Trommelfell.“[3] „Eine Laufstegtragödie ohne Ausflucht, ein Melodram, vorangepeitscht vom Geschluchz der Violinen aus dem Off, von hämmernden Rhythmen: Herzschlagmusik nach Motiven aus dem Film In the Mood for Love.“[4] „Das Drama […] entfaltet seinen Rhythmus zwischen rasant gesprochenem Text und langen Bildern der Stille, fast durchgehend unterlegt von einer Violine, einem einzigen anschwellenden und abschwellenden Walzer von Shigeru Umebayashi.“[5] „Bert Wrede hat ‚Yumei´s Theme’ aus dem Film ‚In the Mood for Love’ neu abgemischt, eine schier endlos sich erhebende, dabei immer wieder brechende Geigenmelodie über einem nervös auftänzelndem Rhythmus, Szene um Szene sich steigernd, obwohl es immer das Gleiche bleibt.“[6] „Es ist aber weit mehr als eine akustische Anleihe aus dem Kinohit: Nach und nach bemerkt man, dass Michael Thalheimer seinem Lessing Atmosphäre, Rhythmus und Attitüde des Melodrams von Wong Kar-Wai unterlegt und überstülpt.“[7] „Der Walzer mit seiner schmachtenden, manchmal auch schmerzend schrillen Violine dreht die Geschichte an und immer weiter, knapp achtzig Minuten lang. Doch man begreift erst allmählich, dass man längst den letzten Walzer hört, eine betörend gnadenlose Melodie in den Tod.“[8] „Über dieser Aufführung müßte nicht stehen: ‚Ein Theaterabend’, sondern ‚Ein Violinabend’.“[9]

Diese kleine Collage aus Pressestimmen entwirft eine Ahnung der ohrenscheinlichen Dominanz, die in Michael Thalheimers Inszenierung von Lessings „Emilia Galotti“ am Deutschen Theater Berlin der Musik anhaftet. Zumindest über die Omnipräsenz der Musik sind sich die Rezensenten einig, wenngleich die Wirkungsweise differiert. Ingeborg Pietzsch vom Münchner Merkur spricht von „einer rauschhaft trivialen Walzermelodie“[10], Peter Michalzik von der Frankfurter Rundschau bezeichnet die Musik als „eintönig-melodramatisch“[11].

Auffällig ist, dass mit der Beurteilung der Musik auch das Urteil über die Inszenierung steht und fällt. Ingeborg Pietzsch schließt ihren Verriss mit dem Satz: „Man empfand diese Aufführung als eine Schande.“[12] Nur die Rezensenten, die Sinn in der Endlosschleife Walzer fanden, hießen die Aufführung gut oder hielten zumindest das Konzept für stringent. Das ist mehr als ein erster Hinweis auf die wichtige Stellung der Musik im Raum der Inszenierung. Viele Rezensenten stehen der ungewohnten Präsenz der Musik aber ein wenig hilflos gegenüber, scheint die Bedeutung der Musik in dieser Inszenierung doch nicht im Selbstzweck einer lautmalerischen Stimmungskulisse erschöpft zu sein. Manch einer wagt den Versuch einer Interpretation. Gerhard Stadelmaier hört

ohne Unterbrechung ein Lied von Liebe und Tod, stets unterlegt mit einem harsch glirrenden[!] Hum-Ta-Ta, dem Eisesschritt eines traurigen Walzers, getanzt im blankgewienerten Ballsaal eines Hotels zum Abgrund.[13]

Ulrich Seidler sucht nach tieferem Sinn, hält sich aber im Vagen und formuliert geheimnisvoll nebulös:

Vielleicht steckt hier das arithmetische Verhängnis Lessings, das Strickmuster erbarmungsloser Nadeln, die die Figuren weitertreiben. Vielleicht sollte dies angedeutet werden mit dem etwas rätselhaften und unbefriedigenden Schlussbild, in dem ungefähr zehn Paare in den Raum tanzen. Immer im Kreis, immer im Schritt.[14]

Einen vergleichbaren Interpretationsansatz wählt auch Ralph Hammerthaler, der wohl Ähnliches meint und Seidlers Bezeichnung „das arithmetische Verhängnis Lessings“ durch „Zwangsläufigkeit“ ersetzt:

Und weil er [Michael Thalheimer] die Geschichte […] in die sanfte Gewalt eines Dreivierteltakts lenkt, spürt man von Anfang an, dass es aus so viel Zwangsläufigkeit kein Entrinnen geben kann.[15]

Noch symbolträchtiger aber ist Hammerthalers zweite Deutung: „Michael Thalheimer inszeniert Lessings ‚Emilia Galotti’ im Walzertakt des Herzklopfens am Deutschen Theater.“[16] Herzklopfen im Walzerrhythmus: Immer mehr drängt nach dieser umfassenden Zeitungsschau die Frage, welche Bedeutung der Musik in der Inszenierung zukommt.

Dazu soll zunächst die Musik im Allgemeinen unter inszenierungsanalytischen Gesichtspunkten beleuchtet und schließlich in die Theorie eines Globalen Inszenierungsrhythmus eingebettet werden. Hierfür ist es nötig, den Begriff des Rhythmus generell und im Speziellen den Begriff des Rhythmus am Theater mit Hilfe einschlägiger Literatur aus philosophischen, natur-, geistes-, und musikwissenschaftlichen Bereichen zu untersuchen. Die allgemeine Theorie soll nun am Beispiel der Thalheimerschen Inszenierung „Emilia Galotti“ unterfüttert werden, wozu der Walzer, um seiner umfassenden symbolischen Bedeutung gerecht zu werden, in die soziokulturelle Geschichte des Tanzes eingeflochten werden muss.

Mit diesem Hintergrundwissen kann erst der Versuch einer Interpretation des „Walzers“ in der Inszenierung Thalheimers geschehen. Diese soll hauptsächlich auf den auditiven Eindrücken beruhen, aber auch Querverweise auf Ebenen der Visualität gestatten. Die Interpretation aber führt direkt zum Rezipienten. Er muss schließlich entscheiden, ob ein Walzertakt für ihn Herzklopfen symbolisiert, ob Musik überhaupt eine semiotische Bedeutung tragen kann, welche Wirkung die Musik im Theater Thalheimers hat und welches Resultat Musik im Theater hervorruft. Das Publikum schließlich entscheidet, ob der Musik im Schauspiel der Stellenwert beigemessen werden kann, den die Theorie ihr erteilt.

2. Die Bedeutung der Musik im Theater

Zunächst einmal gilt es, sich auf die Funktion der Musik im Schauspiel zu beschränken. Sonderformen wie Musiktheater oder gar Oper sind von den folgenden Betrachtungen ausgenommen. Eine weitere Beschränkung betrifft die Ausführenden der Musik. Ist das Musizieren in das Bühnengeschehen integriert oder drückt der Schauspieler sein subjektiv-menschliches Empfinden im Gesang aus, so ist dieser Einsatz der Musik jeweils im Kontext des Ausführenden zu analysieren. Hier soll die Musik im Mittelpunkt stehen, die zwar mit dem Bühnengeschehen durch die Gleichzeitigkeit des Ereignisses kontextuiert, deren Herkunft aber nicht für den Zuschauer ersichtlich ist und deren Existenz somit nicht als ein aus der Handlung geborenes Obligat zu verstehen ist.

Die Auffassung, im Theater seien die verschiedenen Künste der Musik, des Tanzes oder der bildenden Kunst als Konglomerat vereint, soll hier zu Gunsten einer differenzierteren Auseinandersetzung weichen. Zur theaterwissenschaftlichen Analyse gehört pflichtgemäß der Blick in Erika Fischer-Lichtes „Semiotik des Theaters“.[17] Nach ihrer Definition ist Theater ein Prozess, in dem die kulturspezifischen Zeichen einer Kultur nicht in ihrer ursprünglichen Funktion, sondern als Zeichen von diesen Zeichen abgebildet werden. „Theater bildet eine Kultur ab und stellt sie in dieser Abbildung vor das nachdenkende Bewußtsein ihrer Angehörigen.“[18] Diese Definition von Theater stellt der These des Gesamtkunstwerks die These verschiedener Systeme von Zeichenkomplexitäten entgegen, wodurch jedoch hinsichtlich der Bedeutungsdefinition von Musik in einer Inszenierung Schwierigkeiten auftreten:

Denn in den meisten Arbeiten zur Musiksemiotik wird nicht von Musik als einem kulturellen System mit je spezifischen Funktionen ausgegangen, sondern von Musik als Kunst, und zwar im engeren Sinne von Musik als autonomer Kunst.[19]

Fischer-Lichte umschifft dieses Problem, indem sie die Musik auf ihre sozialen Funktionen beschränkt. So verwandle Orgelmusik den Bühnenraum in eine Kirche, Hörnerklang lasse eine Jagdszene entstehen. Durch die Reduktion auf ihre soziale Funktionalität verliert die Musik aber ihren autonomen Wert und erhält erst im Kontext des Bühnengeschehens einen semiotischen Anteil im Zeichensystem.[20] Das mag zwar in der Theorie funktionieren, in der Wahrnehmung des Zuschauers hingegen bleibt die Eigenschaft der Musik, Kunst, also wahrhaftig hörbare Musik und nicht ein Zeichen von Musik zu sein, bestehen.[21] Fischer-Lichtes Definition ist für die Bedeutung der Musik in ihrer Semiotik im Schauspiel ein enges Korsett, das allein das Beispiel von Thalheimers „Emilia Galotti“ sprengt.[22] Die Abgrenzung von Musik zu Geräuschen läge nur darin, dass Geräusche eine konkretere Semantik besitzen als die motivisch abstrakt einsetzbare Musik. Der Charakter des Kunsthaften, das Wesen der Musik selber ginge in dieser Definition verloren.

Eine neue Perspektive mag neue Wege öffnen: Wenn Musik nicht als in ihrem Wesen indikativ und funktional definiert wird, sondern ihr auch im theatralen Einsatz der autonome Wert einer Kunst zugestanden wird, so erscheint es sinnvoller, sich von der Seite des Rezipienten zu nähern und die Wirkung, nicht die Produktionsintention als Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen zu nehmen. Dies gilt zumindest für die Musik,

die der Ausdruckssteigerung dient, d. h. nicht als Realitätszitat fungiert, sehr wohl aber intensiv an der Erzeugung einer Atmossphäre mitwirken und sogar erzählerische Funktionen übernehmen und in das Bedeutungsgefüge einer Aufführung eingreifen kann.[23]

Im noch recht jungen Metzler-Lexikon der Theatertheorie – Mitherausgeber ist im Übrigen Erika Fischer-Lichte – haben Clemens Risi und Robert Sollich bereits auf die Entwicklungen moderneren Theaters reagiert. Die Autoren verweisen auch auf die neuen Tiefenstrukturen der Dramaturgie:

Statt Handlung und Psychologie organisieren hier vornehmlich Rhythmus und motivische Arbeit – mit musikalischen wie außermusikalischen Elementen – die Dramaturgie der Aufführung.[24]

Lässt sich das Gerüst einer Dramaturgie aber durch Rhythmus beschreiben, so liegt die strukturelle Verwandtschaft zu der Musik nahe und eine Analyse fiele um einiges leichter. Deswegen soll im Folgenden das Wesen des Rhythmus beleuchtet werden.

3. Der Rhythmus in der Inszenierung

3.1 Rhythmus: eine Begriffsbeleuchtung

„Fließen“ heißt das altgriechische ῥυθμός nach allgemein üblicher Definition. Laut Brockhaus bedeutet Rhythmus „Gleichmaß, gleichmäßig gegliederte Bewegung; periodischer Wechsel, regelmäßige Wiederkehr, z. B. natürliche Vorgänge (u. a. Jahreszeiten) sowie physikalische (Tag-Nacht), biologische (Herzschlag, Atmung) und psychische (Denken, Erleben, Wollen) Prozesse.“[25] Es folgt die Auffächerung in „Biologie und Medizin“, „Musik“, „Psychologie“, „Sprach- und Literaturwissenschaft“. „Rhythmus“ ist ein Universalbegriff: eine Größe, die in den unterschiedlichsten Bereichen auftaucht, dessen genaue Bedeutung aber sehr kontrovers in wissenschaftlichen Abhandlungen diskutiert wird. Allein die semantischen Herleitungen sind inhomogen, ohne sich aber zwangsläufig komplett auszuschließen. Vielmehr setzt sich erst durch die Bedeutungsvielfalt, durch verschiedene Interpretationen und Definitionen wie in einem Puzzle der vielschichtige Charakter „Rhythmus“ mehr spürbar als begreifbar zusammen. Ein kleiner Überblick zum Wesen des Rhythmus sei an dieser Stelle gegeben.

[...]


[1] Schütt 2001.

[2] Schaper 2001.

[3] Göpfert 2001.

[4] Jörder 2001.

[5] Kühl 2001.

[6] Irmer 2001.

[7] Schaper 2001.

[8] Hammerthaler 2001.

[9] Stadelmaier 2001.

[10] Pietzsch 2001.

[11] Michalzik 2001.

[12] Pietzsch 2001.

[13] Stadelmaier 2001.

[14] Seidler 2001.

[15] Hammerthaler 2001.

[16] Hammerthaler 2001.

[17] Siehe Fischer-Lichte 1983.

[18] Fischer-Lichte 1983, 168.

[19] Fischer-Lichte 1983, 169.

[20] Im Alltag dient das Musikhören seltener einer sozialen Zweckerfüllung. Man denke nur an das Phänomen des Konzerts, in dem das Musikhören selbst der Anlass und somit afunktionaler Selbstzweck ist.

[21] Das schließt die Produktion von Zeichen jedoch keineswegs aus. Nur wird hier Ursache und Wirkung vertauscht.

[22] Auch in den Analysen zeitgenössischer Musik findet sich die Theorie einer Musiksemiotik. Doch auch hier ist das Problem vergleichbar: „The semiotics of music is merely an alternative theory, which attempts to replace the views of established tradition with systems and approaches which are more radically scientific and logical, more comprehensive, more universal.” (Monelle 1992, 21).

[23] Risi 2005, 213.

[24] Risi 2005, 213.

[25] Rhythmus in: Brockhaus, Bd. XVIII, 1992, 380 .

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Details

Title
Herzschlag im Walzertakt? - Musik und Rhythmus in Thalheimers Inszenierung "Emilia Galotti" am Deutschen Theater Berlin
College
Johannes Gutenberg University Mainz
Grade
1,0
Author
Year
2007
Pages
34
Catalog Number
V86435
ISBN (eBook)
9783638046787
File size
643 KB
Language
German
Keywords
Herzschlag, Walzertakt, Musik, Rhythmus, Thalheimers, Inszenierung, Emilia, Galotti, Deutschen, Theater, Berlin, Thalheimer, Interpretation
Quote paper
Sarah Wendel (Author), 2007, Herzschlag im Walzertakt? - Musik und Rhythmus in Thalheimers Inszenierung "Emilia Galotti" am Deutschen Theater Berlin, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/86435

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