Kultur aus psychoanalytischer Sicht

Eine kultur- und gesellschaftskritische Analyse von Sigmund Freud


Seminararbeit, 2007

33 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung und Fragestellung

2 Psychoanalytische Theorie
2.1 Die Entwicklung der Persönlichkeitsmodelle
2.1.1 Die Triebe
2.2 Psychosexuelle Entwicklung
2.2.1 Der Ödipuskomplex
2.3 Abwehrmechanismen des Ich
2.4 Neurosenlehre

3 Kultur aus psychoanalytischer Sicht
3.1 Einleitende Gedanken
3.1.1 Ursprung von Religiosität
3.1.2 Der Sinn des Lebens
3.1.3 Drei Leidensquellen
3.1.4 Methoden der Leid- und Unlustbekämpfung
3.2 Freuds kritische Gedanken über die Kultur
3.2.1 Freuds Kulturverständnis
3.2.2 Kulturelle Überforderung und Enttäuschung
3.3 Gemeinschaftsbildung als kulturelle Eigenschaft
3.3.1 Die Familienbildung
3.3.2 Von der Familie zur Gemeinschaft
3.3.3 Gemeinschaftsregelung
3.3.4 Identifikationsmöglichkeiten innerhalb einer Gemeinschaft
3.3.5 Über Triebsublimierung zur Kulturentwicklung
3.4 Widersprüche zwischen Mensch und Kultur
3.4.1 Einfluss auf familiäre Beziehungen
3.4.2 Die Interessen der Frau
3.4.3 Einfluss auf den Sexualtrieb
3.5 Der Aggressionstrieb
3.5.1 Gewissensbildung: Introjektion der Aggression
3.5.2 Schuldgefühl aus Angst vor der äusseren Autorität
3.5.3 Schuldgefühl aus Angst vor dem Über-Ich
3.5.4 Die Strenge des Gewissens

4 Diskussion
4.1 Kritische Gedanken
4.1.1 Zur Psychoanalyse
4.1.2 Zur Kulturtheorie
4.2 Pädagogische und sozialpädagogische Relevanz

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung und Fragestellung

Ein Seminar bei Prof. Reinhard Fatke zum Thema Psychoanalyse und Sozialpädagogik weckte meine Neugier für die Thematik der vorliegenden Seminararbeit. Freuds (2003) „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ und August Aichhorns (1994) prakti-schen Beschreibungen über die „verwahrloste Jugend“ führten mich in die psychoanalytische Pädagogik ein. Beeindruckt von dieser Perspektive und ihrer sozialpädagogischen Relevanz, beschäftigte ich mich mit weiteren Arbeiten Freuds.

Mein besonderes Interesse richtet sich in dieser Arbeit auf Freuds Theorie der Persön-lichkeitsentwicklung und seine kultur- und gesellschaftstheoretischen Untersuchung. Mit derselben Methode (der Psychoanalyse), die bereits seine therapeutischen Analysen der Psychoneurosen bestimmt haben, versucht er eine Kulturbetrachtung der westlichen Kultur.

In einem ersten Teil beschreibe ich die für den Hauptteil relevanten Elemente Freuds psychoanalytischer Theorie. Sein Persönlichkeitsmodell, seine Auffassung über die psycho-sexuelle Entwicklung, die Bedeutung von Abwehrmechanismen sowie das Wissen aus der Neurosenlehre bilden den Verständnishintergrund und das Fundament der kritischen Kultur-analyse Freuds (1997). Ausgehend von verschiedenen Lebensfragen und der Untersuchung der „Lebensmächte[[1] ], die das menschliche Glücksverlangen durchkreuzen“, wird dem Leser durch die psychoanalytische Brille verständlich, wieso der Mensch einerseits ohne Kultur nicht leben kann und andererseits diese seine psychische Verfassung beeinflusst (Bittner, 1991, S. 66).

Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt in der Ausarbeitung und Darlegung der wesentlichen Grundzüge Freuds Kulturverständnis. Fragen nach den psychologischen Mechanismen zwischen dem Verhältnis von Individuum und Kultur, ihrer Entwicklung, sowie den Bedingungen ihrer gegenseitigen Beeinflussung sind zentral für Freuds Kulturkritik. Wie im Verlauf der Arbeit ersichtlich wird, baut die Kultur auf Triebverzicht und unterdrückt vor allem die angeborenen Aggressionsneigungen. Die Hauptfragestellung, wieso sich nicht alle Menschen in ihrer Kultur wohl fühlen – ein „Unbehagen“ verspüren – und inwiefern diese an der Ausprägung neurotischer (psychischer) Krankheiten beteiligt ist, bilden den Schwerpunkt abschliessender Diskussion.

Wie aktuell ist Freuds Kulturkritik für die heutige Zeit? Im Schlussteil gehe ich dieser Frage nach, prüfe ansatzweise ihre Bedeutung für die Gegenwart und suche nach pädagogischen und sozialpädagogisch relevanten Bezügen.

Als Quellenbasis für die vorliegende Literaturarbeit verwende ich Freuds gesellschafts-theoretische Schrift, die 1930 unter dem Titel „Das Unbehagen in der Kultur“ herausgegeben wurde. Die verwendete Ausgabe erschien als fünfte unveränderte Auflage im Jahre 1997 im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH in Frankfurt am Main. Das deutsche Ärzteblatt bezeichnet sie als ein sehr bedeutungsvolles Werk, „das auch heute noch weit über die Bereiche von Psychoanalyse und Soziologie hinausweist“ (Goddemeier, 2006, S. 121).

2 Psychoanalytische Theorie

Sigmund Freud (1856-1939) kann als Begründer der modernen Psychologie gesehen werden. Seine Beobachtungen und Arbeiten basieren auf der Psychoanalyse, welche von ihm und Josef Breuer Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Dieses Verfahren wurde speziell zur Heilung seelisch bedingter Erkrankungen (Katharsis) geschaffen und später von Freud zu einer tiefenpsychologischen Lehre ausgebaut (vgl. Dorsch, 1998, S. 672). Ausgehend von der Neurosenlehre und Erkenntnissen ärztlich-psychiatrischer Fragestellungen (klinische Beobachtungen und Fallstudien einzelner Patienten) entwickelte Freud eine Persön-lichkeitstheorie (vgl. Zimbardo, Gerrig, 1999, S. 530ff.). Freuds Perspektive, seine Theorie vertritt ein androzentrisches[2] Weltbild, ist eine Psychodynamische und seine Haltung eine naturwissenschaftliche und eher rationalitätskeptische (vgl. Fend, 2000, S. 82).

2.1 Die Entwicklung der Persönlichkeitsmodelle

Das Schichtenmodell, das topische Modell und das später eingeführte Strukturmodell mit den Instanzen bilden die Kernstücke der Freudschen Persönlichkeitstheorie und spiegeln die theoretische Entwicklung seiner Forschungspraxis. In der therapeutischen Arbeit mit „Hysterikerinnen“ untersuchte Freud (1991) den Prozess des Vergessens und nannte ihn Verdrängung. Erkrankte, die in ihrer Kindheit ein schwer emotionales Trauma erlitten hatten, mussten dieses verdrängen, unbewusst machen, „weil es für das bewusste Denken unakzeptabel war“ (Fonagy, Target, 2006, S. 58). Mit der Technik der Hypnose gelang es Freud, verdrängte psychische Inhalte bewusst zu machen. In der Ausarbeitung eines psychologischen Modells des Träumens unterschied Freud anfänglich zwischen verschie-denen Schichten des „psychischen Apparats“ (a.a.O., S. 60ff.): Die tiefste Schicht, das ‚Unbewusste’ wird vom „Lustprinzip“[3] beherrscht und enthält Strebungen und Impulse, die hauptsächlich sexueller und destruktiver Natur sind. Sie sind der Person nicht zugänglich und tauchen in entstellter Form in Träumen auf. Die mittlere Schicht innerhalb dieses topischen Modells ist das System ‚Vorbewusst’ und hat die Aufgabe der Zensur verbotener Wünsche. Ein spontaner Zugang zu ihm ist nicht möglich. Die oberste Schicht bildet das System ‚Bewusst’, welches dem ‚Realitätsprinzip’ untersteht: „Es gehorcht der Logik und Vernunft und erfüllt insbesondere die Aufgabe, die äussere Realität zu bewältigen, Gefahren zu meiden und zivilisiertes Verhalten zu gewährleisten“ (a.a.O., S. 62). Mit Hilfe dieses Modells gelang es Freud, den Traumabegriff neu zu definieren: Eine Traumatisierung trete dann ein, „wenn der bewusste Teil der Psyche von dem unwiderstehlichen Drang überwältigt wird, unbewusste Wünsche zu befriedigen, und im Gefolge dieses Dranges unerträgliche Gefühle, etwa die Angst vor Zurückweisung oder Bestrafung, auftreten“ (ebd.). Im Verlaufe der Jahre erwies sich das topische Modell, bezogen auf Freuds Beobachtungen in der Praxis als unzureichend. Fragen wie beispielsweise die Suche nach einem nicht-sexuellen Trieb, der den sexuellen verdrängen kann, warum Menschen unter Schuldgefühlen leiden und wie das Bewusstsein Strebungen, die es noch gar nicht wahrnimmt, kontrollieren kann, forderten eine Revision des alten Modells (vgl. a.a.O., S. 69).

Im Strukturmodell beschreibt Freud drei psychische Strukturen (Instanzen) – Es, Über-Ich und Ich – die einerseits die Beständigkeit einer Persönlichkeit organisieren, gleichzeitig aber auch veränderungsfähig sind. Nach Fonagy und Target (vgl. 2006, S. 72) verstand Freud diese drei Strukturen als Metaphern, die ihm bei der Konzeptualisierung seiner klinischen Beobachtungen Erleichterung verschafften. Als Speicher für die sexuellen und aggressiven Triebe – analog zum System Unbewusst – steht das von Geburt an existierende Es. Das Über-Ich bildet die zweite Struktur und repräsentiert die psychische Organisation der in der Kindheit internalisierten Elternautorität. Freud (2003) vergleicht das Unbewusste mit einem grossen Vorraum, in welchem sich die seelischen Regungen tummeln. An diesen Vorraum schliesst ein zweiter, engerer Raum an, eine Art Salon, das Bewusstsein. Getrennt sind die beiden Räume durch einen ,Wächter’, die Zensur. Während des Schlafs, wenn die Zensur stark herabgesetzt ist – der Wächter weniger aktiv und aufmerksam ist – gelangen die unbewussten Gedanken am ,Wächter’ vorbei und zeigen sich in unseren Träumen. Freud nennt diesen Bereich ‚vorbewusst’ (vgl. Freud, 2003, S. 283f.).

Wie man im Kapitel der Gewissensbildung feststellen kann, ist das Über-Ich Ursprung aller Schuldgefühle und spielt für die psychische Befindlichkeit – gesunde und pathologische – eine wichtige Rolle. Unter diesem Aspekt misst Freud (1997) der Kultur eine herausragende Einflussgrösse zu. Das Über-Ich ist nur teilweise bewusst, weitgehend jedoch unbewusst.

Die dritte Instanz dieses Modells ist das Ich. Sie bezeichnet jenen Bereich des Individuums, welcher als eigene Persönlichkeit sowie die Vorstellung über sich selber gesehen wird. Grösstenteils ist das Ich unbewusst. Seine Funktion liegt in der Vermittlung zwischen dem Es und dem Über-Ich. Weitere Aufgaben zeigen sich in der Auseinandersetzung mit Anforderungen und Verboten der Aussenwelt (Gesellschaft). Wie in weiteren Ausführungen dieser Arbeit ersichtlich wird, betrifft dies den Umgang mit der eigenen Bedürfnisbefriedigung: in der Kindheit unter dem Einfluss der Realität (Umwelt) und später zusätzlich dem Über-Ich (vgl. a.a.O., S. 69f.). Nach Freud (vgl. 1997, S. 65ff.) zeigt sich die Dynamik einer Persönlichkeit (die psychische Gesundheit) in den Auswirkungen des Wechselspiels zwischen den Es-Wünschen, der moralischen Beurteilung des Über-Ichs, den Anforderungen der Realität und den Vermittlungs- und Anpassungsleistungen des Ichs. Diese Aufgabe erfüllt das Ich mit den Fähigkeiten der bewussten Wahrnehmung und der Problemlösung (vgl. Fonagy, Target, 2006, S. 70). Für die Regulation der inneren Treibdynamik stehen ihm im Sinne einer Barriere Abwehrmechanismen zur Verfügung. „Obwohl Teile des Ichs bewusst sind, vollzieht sich ein Grossteil seines Ringens mit den inneren Anforderungen des Es und des Über-Ichs unbewusst“ (ebd.). Aus entwicklungspsy-chologischer Sicht geht das Strukturmodell davon aus, dass das Ich aus der Enttäuschung unbefriedigter Triebwünsche hervor geht. Das Kind musste die Besetzung der Objekte (Personen) aufgeben und verinnerlichte sie mittels Identifikationsprozesse (vgl. a.a.O., S. 71).

2.1.1 Die Triebe

Im Studium der „Sexualäusserungen in der Kindheit“ findet Freud (2004) Hinweise, dass Kinder von Geburt an über einen Geschlechtstrieb, eine „infantile Sexualität“ verfügen (S. 75). Der Begriff des Triebes beschreibt in der Psychoanalyse ein psychologisches Phänomen und gilt als „psychische Repräsentanz einer biologischen Kraft, die motivations- und somit handlungsbestimmend wirkt“ (Tayson, Tayson, 2001, S. 341). Die psychologische (seelische) Entwicklung basiert auf neuralen Konstellationen, welche ihre Energie aus angeborenen Trieben erhalten (vgl. Fend, 2000, S. 82). Die Aufgabe der Triebe ist die Lebenserhaltung durch Fortpflanzung und Selbsterhaltung. Freud (1997, S. 81) geht von zwei selbständigen Triebanlagen aus: dem Sexualtrieb („Libido“ oder „Objekttrieb“) und dem Todestrieb („Thanatos“ oder „Ich-Trieb“). Sämtliche Triebzustände die Menschen erfahren, sind danach Abkömmlinge des Sexual- (Lebenstrieb, Liebe) und Todestriebes (Aggression, Destruktion).

Im Verlaufe der Arbeit wird ersichtlich (beispielsweise im Kapitel 3.5.1 der Gewissensbildung), „dass die beiden Triebarten selten – vielleicht niemals – voneinander isoliert auftreten, sondern sich in verschiedenen, sehr wechselnden Mengungsverhältnissen miteinander legieren und [sich] dadurch unserem Urteil unkenntlich machen“ (Freud, 1997, S. 83). Beispielsweise zeigen sich solche Legierungen im Sadismus und dem Masochismus (vgl. Freud, 1997, Kapitel VI).

2.2 Psychosexuelle Entwicklung

Freud war der Auffassung, dass individuelle Erlebens- und Verhaltensweisen von „primitiven biologischen Strebungen beherrscht werde[n]“ (Fonagy, Target, 2006, S. 62). Diese Triebe – auch Libido[4] genannt – sind sexueller Natur und orientieren sich an äusseren Objekten. Die Fähigkeit sie im Verlaufe der persönlichen Entwicklung zunehmend zu kontrollieren, stellt sich somit von Geburt an als Hauptanforderung unserer Gesellschaft und Kultur (vgl. Freud, 1997). Lustgesteuertes Handeln (Lustprinzip) beobachtet man vor allem bei Kindern. Es ist der ständige Versuch Triebe abzubauen. In der Phasentheorie beschreibt Freud drei Entwick-lungsphasen der „infantilen Strebungen, die er auf der Grundlage der Körperzonen, durch die sich der Sexualtrieb jeweils manifestiert, voneinander unterschied“ (Fonagy, Target, 2006, S. 62). Jede dieser Phasen stellt spezifische Anforderungen an das Kind. Sie zeigen sich in verschiedenen Konflikten zwischen Triebwünschen und psychisch-geistiger Aktivität. Nach Freud hat die Art und Weise der Konfliktbewältigung einen entscheidenden Einfluss für die zukünftige Persönlichkeitsentwicklung. Die ‚orale Phase’ steht ganz im Zeichen der Lust, der Nahrungsaufnahme, dem Saugen an der Mutterbrust. Freud sieht diese frühe Erfahrung als erste Form von Zuwendung zur Welt. Etwa im dritten Lebensjahr verlagert sich das Lustzentrum in den analen Bereich (‚anale Phase’) (vgl. Freud, 2004, S. 88). Im Alter zwischen drei und vier Jahren findet eine erneute Verlagerung der Libido statt, nämlich in den genitalen Bereich. Die ‚ödipale’ oder auch ‚phallische Phase’ ist nach dem Ödipuskomplex benannt und wird durch die Latenzphase – einer relativ ruhigen Phase der psychosexuellen Entwicklung – fortgesetzt, welche erst mit der Pubertät ausklingt (vgl. Fonagy, Target, 2006, S. 63). In der Adoleszenz erwacht die Sexualität aufs Neue und sämtliche vorangegangenen „Stufen der libidinösen Fixierung“ werden in die „genitale Sexualität“ integriert (ebd.).

Im Folgenden betrachten wir die ‚phallische Phase’ und die Freudsche Auffassung des Ödipuskomplexes. Seine Auflösung (Untergang) und die damit verbundene Identifikation des Kindes mit den Eltern leitet die Gewissensbildung ein.

2.2.1 Der Ödipuskomplex

Der Ödipuskomplex[5] beschreibt in der Psychoanalyse einen Beziehungskonflikt zwischen dem Kind und seinen Eltern in der ‚ödipalen Phase’. Psychoanalytisch gesprochen, findet eine Manifestierung der Beziehungskonfiguration statt, „in der das Kind seine sexuellen Wünsche auf den gegengeschlechtlichen Elternteil richtet, während es sich mit dem gleichge-schlechtlichen Elternteil identifiziert“ (Tyson, Tyson, 2001, S. 336). Beispielsweise richtet der Sohn[6], ausgehend vom Erwachen seiner Männlichkeit die Libido auf die Mutter und ist eifersüchtig auf ihren Liebespartner, den Vater. Dieser erscheint ihm als Konkurrenz und müsste laut der Sage beseitigt werden. Dieser Gedanke löst beim Sohn Schuldgefühle aus, „die durch die imaginierte Bedrohung des Vaters [und die damit verbundene Kastrationsangst[7] ] noch verstärkt“ wird (Fend, 2000, S. 83). Dem dadurch entstandenen inneren Konflikt kann der Sohn nur entgehen, in dem er die libidinöse Besetzung – sein sexuelles Verlangen nach dem gegengeschlechtlichen Elternteil (Mutter) – aufgibt und sich mit dem Vater identifiziert. Die Psyche setzt sich in die Rolle des Vaters und tut so, als wäre sie der Vater und kann auf diese Weise die Mutter für sich ‚besitzen’ (vgl. ebd.). Die äusseren Anforderungen, die Vaterautorität wird somit verinnerlicht und ins Ich introjiziert und bilden dort den Kern des Über-Ichs (vgl. Freud, 1994, S. 248). Demnach geht das Ich aus „frustrierten Es-Wünschen hervor und nimmt auf der Grundlage der Natur jener Objekte, deren das Kind unter dem Druck der Realität entsagen muss, Gestalt an“ (Fonagy, Target, 2006, S. 71).

Die Entdeckung des Schuldgefühls, der Angst und des Verlustschmerzes weckten zunehmend Freuds Aufmerksamkeit und rückten das sexuelle Motiv in den Hintergrund. In diesem Zusammenhang erscheinen die Abwehrmechanismen in einem neuen Licht (vgl. Fonagy, Target, 2006, S. 71). Ihre Funktion und Organisation konnte Freud mit Hilfe des Strukturmodells (vgl. Kapitel 2.1 in dieser Arbeit) benennen.

2.3 Abwehrmechanismen des Ich

Abwehrmechanismen bezeichnen im klinischen Sinne alle beschränkt-bewusst dem Ich zur Verfügung stehenden Techniken, um sich vor Konflikten (beispielsweise äusseren Anforderungen wie schmerzhafte Affekte) und daraus resultierenden Neurosen zu schützen (vgl. Dorsch, 1998, S. 5). Mit Hilfe ihrer werden unbewusste Impulse modifiziert und angepasst. Die Angst sieht Freud als ein sich im Ich bemerkbar machendes Gefahrensignal, eine Reaktion auf von Aussen oder Innen kommende Bedrohungen wie beispielsweise Leibesverlust, Schuldgefühle oder auch körperliche Verletzungen. Im Folgenden werden verschiedene Abwehrmechanismen kurz vorgestellt (vgl. Fonagy, Target, 2006, S. 72f.):

Mit Hilfe der Verdrängung werden unannehmbare Impulse oder Gedanken ins Unbewusste verbannt. Scheitert eine Verdrängung, so werden andere Abwehrmechanismen aktiviert. Mit der Projektion beschreibt Freud den Mechanismus, eigene unerwünschte Gedanken oder Strebungen anderen Personen zuzuschreiben. „So wandelt sich ein aktiver Wunsch in einen passiv wahrgenommenen – mit dem nicht seltenen Ergebnis, dass das Objekt der Aggression zum Angstobjekt wird“ (Fonagy, Target, 2006, S. 72f.). Mit Hilfe der Reaktionsbildung können Impulse durch eine Mobilisierung ihres Gegenteils verstärkt werden. Beispielsweise kann eine starke Ablehnung gegenüber einer Person durch eine übertriebene Zuneigung ersetzt werden. Die Verleugnung ist eine Verweigerung der Wahrnehmung und die Verschiebung „die Übertragung eines Affekts von einem Stimulus auf einen anderen“ (a.a.O., S. 73). Durch die Isolierung werden Gefühle vom Denken abgekoppelt. Als Unterdrückung versteht Freud die bewusste nicht zur Kenntnisnahme eines Stimulus. Die Sublimierung beschreibt die Fähigkeit des Ichs, die psychosexuelle Energie umzuwandeln und sie für höhere psychische Tätigkeiten wie beispielsweise kulturelle Leistungen zu verwenden (vgl. Freud, 1997). Die Regression beschreibt das Zurückfallen von einer genetisch späteren auf eine genetisch frühere Entwicklungsstufe, beispielsweise als Folge einer schweren Enttäuschung (vgl. Dorsch, 1998, S. 728). Agieren ist die ungebremste Äusserung eines unbewussten Impulses (frühere Verhaltensweise) an Stelle des Erinnerns (vgl. a.a.O., S. 15). Die Intellektualisierung beschreibt die Fähigkeit des Ichs, einen bedrohlichen Impuls „aus seinem emotionalen Kontext heraus[zulösen] und in einem – gelegentlich unangemessenen – rationalen Bezugsrahmen unter[zubringen]“ (Fonagy, Target, 2006, S. 73).

2.4 Neurosenlehre

Der Begriff der Neurose ist ein Sammelbegriff für verschiedene Persönlichkeitsstörungen, denen keine anatomisch-pathologischen Befunde zugrunde liegen. In der Psychoanalyse ist die Neurose ein unbewusster Widerstand und ihre Symptome Äusserung psychodynamischer Konflikte zwischen den sich rivalisierenden psychischen Strukturen (vgl. Dorsch, 1998, S. 576). Mit Freuds Strukturmodell versteht man neurotische Symptome als eine Mischung aus unakzeptablen Impulsen und dagegen mobilisierten Abwehrmechanismen (vgl. Fonagy, Target, 2006, S.75). Die psychische Gesundheit hängt von der Fähigkeit des Ichs ab, wie es Triebwünsche unter den Anforderungen der Umwelt zu kontrollieren vermag. Die Neurose ist demnach das Resultat einer misslungenen oder unvollständigen Verdrängung von Es-Impulsen durch das Ich. Kann ein Impuls nur unvollständig verdrängt werden, versucht er immer wieder ins Bewusstsein zu drängen. Als erneute Abwehr und sozusagen letzte Massnahme, entwickelt sich das neurotische Symptom. Nach Freud (1933a; zitiert nach Fonagy, Target, 2006) birgt jedes Symptom „die Unfähigkeit des Ichs in sich, das Bedürfnis nach Triebabfuhr mit den Geboten des Über-Ichs und den Anforderungen der äusseren Realität in Einklang zu bringen“ (S. 75).

Wie bereits erwähnt, entdeckte Freud die Angst als charakteristische Begleiterscheinung bei den meisten Neurosen. Er interpretierte sie als Warnung, die das Ich auffordert Abwehrmechanismen bereitzustellen. Freud (1931a; zitiert nach a.a.O., S. 75) unterscheidet zwischen unterschiedlichen neurotischen Reaktionstypen, nach der Fähigkeit (Art und Weise) des Ichs, wie es sich vor Angst und Schuldgefühlen schützen kann. Vom Ich eingesetzte Mechanismen der Projektion und der Verschiebung lassen hauptsächlich auf eine Phobie schliessen. Paranoide Erscheinungsbilder lassen nach Freud auf eine Reaktionsbildung zur Abwehr konflikthafter homosexueller Impulse schliessen (vgl. a.a.O., S. 76). Bei der Zwangsneurose nahm Freud (1933a; zitiert nach ebd.) an, dass eine Reaktionsbildung eingesetzt wurde, um aggressive Impulse abzuwehren. Hinter dem Symptom der Depression vermutete Freud selbstgerichtete unbewusste Aggressionen. Diese seien Ausdruck eines Bewältigungsversuchs ambivalenter Gefühle.

[...]


[1] Freud (XIV; zitiert nach Bittner, 1991) untersucht in dieser Abhandlung folgende Lebensmächte: „die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander … regeln“ (S. 66).

[2] Die Welt wird mit den Augen von Männern gesehen. Ihr Erleben und Handeln setzt die Normen, ohne in Erwägung zu ziehen, dass Frauen anders sein könnten (Zimbardo, Gerrig, 1999, S. 530ff.).

[3] Nach Freud das Grundprinzip von Handlungen, die unter dem Motiv des Lustgewinns erfolgen (Hedonismus). Nach dem Strukturmodell arbeitet das Es ausschliesslich nach dem Lustprinzip. Als Gegenspieler zum Es arbeiten das Ich nach dem Realitätsprinzip und das Über-Ich nach dem Moralitätsprinzip (vgl. Dorsch, 1998, S. 512).

[4] Lustzonen im weitesten Sinne und gleichbedeutend wie körperlich lustvoll (vgl. Fend, 2000, S. 82).

[5] Er ist nach dem sagenhaften thebanischen König Ödipus benannt, der unwissentlich seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete (vgl. Tyson, Tyson, 2001, S. 336).

[6] Der Einfachheit halber konzentriert sich die vorliegende Arbeit nur auf den Ödipuskomplex des Jungen. Der Ödipuskomplex des Mädchens gestaltet sich auch verschiedenen Gründen komplizierter (vgl. Fonagy, Target, 2006, S. 66).

[7] Der Knabe geht anfänglich davon aus, dass alle Menschen einen Penis haben. Nach der aus seiner Entdeckung des weiblichen Geschlechts gewonnen Erkenntnis fürchtet er sich vor einer möglichen „Kastration“. Anders ergeht es dem Mädchen, welches durch das Fehlen eines Penis dem „Penisneid“ unterliegt (Freud, 2004, S. 97).

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Kultur aus psychoanalytischer Sicht
Untertitel
Eine kultur- und gesellschaftskritische Analyse von Sigmund Freud
Hochschule
Universität Zürich  (Pädagogisches Institut)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2007
Seiten
33
Katalognummer
V89760
ISBN (eBook)
9783638029780
ISBN (Buch)
9783638928038
Dateigröße
770 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kultur, Sicht
Arbeit zitieren
lic. phil. Piero Raselli (Autor:in), 2007, Kultur aus psychoanalytischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89760

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