Die Malerei im Text / Der Text in der Malerei - Die Lehre der Sainte-Victoire von Peter Handke


Tesis de Maestría, 2005

44 Páginas, Calificación: 1


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Die Lehre der Sainte-Victoire: Eine Wanderung in der französischen Kultur
1.1.Die Erschütterung: Magritte und die Surrealisten
1.2. Das “Unheimliche”: Inquiétante étrangeté, tranquille étrangeté: die Malerei Hoppers
1.3.Intensität des Realismus : Courbet
1.4.Von der Natur zu der Kunst: Cézanne

2. Die Malerei im Text: Über einen Dialog hinaus
2.1. Die Lehre der Surrealisten: die Autonomie des Objekts
2.2. Die Lehre von Hopper: Verwandlungen des Wirklichen
2.3.Die Lehre von Courbet : das Schweigen
2.4. Die Lehre von Cézanne: Von der Wahrnehmung zum Wort

3. Ein nomadisierendes Schreiben
3.1. Gehen und schreiben
3.2. Das Palimpsest-Schreiben: Gedächtnis der Literatur
3.3. Eine nomadisierende Bewegung

Benutzte Bibliographie

„Ich saß daneben , las Balzacs Erzählung Le Chef-d’œuvre inconnu von dem scheiternden Maler Frenhofer, in dessen Verlangen nach dem vollkommenen-wirklichen Bild Cézanne sich wiedererkannte, und entdeckte, wie das Französische (als Kultur) mir eine - doch immer wieder entbehrte - zuständige Heimat geworden war“[1].

Die Lehre der Sainte-Victoire,, die im Jahre 1980 veröffentlicht und fünf Jahre später von Georges-Arthur Goldschmidt ins Französische übersetzt wurde, ist der Roman, in dem Handke durch seinen Erzähler Sorger, der nach seiner Besichtigung eines Museums in New-York[2] nach Europa zurückkehrt, seine Leidenschaft für Frankreich enthüllt. Er erklärt sehr genau, inwiefern die französische Kultur für ihn eine Heimat geworden ist. Frankreich ist für diesen Unbehausten ein anderes und wichtiges Zuhause geworden. Er hat nämlich sich selbst und seine Schreibweise teilweise durch den Kontakt mit Frankreich entwickelt.

Peter Handke hat ja von Kindesbeinen an keine echte und sichere Heimat gehabt. Deswegen habe ich ihn als einen Unbehausten bezeichnet. Er kommt nämlich am Rand des deutschen Sprachraums auf die Welt, insofern seine Mutter slowenisch sprach, während sein Vater Deutscher ist. Er verbrachte seine frühe Kindheit in Berlin und die ersten Jahren seiner Jugend in der Abgeschiedenheit und Armut eines kleinen Dorfes in Kärnten. Ansschließend hat sich Handke – als er noch ein sehr junger Autor war – in verschiedenen europäischen Ländern (mehrmals in Paris) und in den USA aufgehalten. Er wohnt sogar seit den 80er Jahren in Chaville bei Paris als freiwilliger Exilant. Er interessiert sich für alle Sprachen und Kulturen. Er wird er sehr schnell im Ausland bekannt und wird ein Vermittler zwischen den Kulturen. Obwohl er, wie in Langsame Heimkehr beschrieben, zur deutschen Kultur zurückkehrt, stellt sich Handke vor als ein Erbe der österreichischen Tradition mit Stifter, der deutschen Tradition mit Goethe, aber auch der französischen mit Flaubert, der russischen mit Dostojewski, der griechischen mit Aischylos… . Auch wenn er anfangs – wegen seiner Herkunft – quasi gezwungen ist, sich für die anderen Länder zu interessieren, hat er auch diese spannende Offenheit auch gewählt, indem er z. B. sagt: „Ich beschloß, aus einem weiten Land zu sein“[3]. Dieser kosmopolitische Geist ist ihm gleichsam in die Wiege gelegt worden.

Diese biographischen Hinweise führen uns zur Problematik der folgenden Arbeit, unter der wir Die Lehre der Sainte-Victoire behandeln wollen und zwar zur Problematik des Kulturtransfers, die von Michel Espagne und Michaël Werner theoretisch entwickelt wurde. Wir haben gerade eben die Art Bindungsfreiheit unseres Autors betont, denn sie ist eine der Voraussetzungen eines gelungenen Kulturtransfers.

Aber was verstehen wir unter dem Begriff „Kulturtransfer“?. Wir wollen hier auf zwei Stellen von Michel Espagne in Les transferts culturels franco-allemands verweisen, um diesen Begriff deutlicher zu erklären: „Le message transmis [d’une aire culturelle à une autre] doit être traduit du code de référence du système d’émission dans celui du système de réception. Cette appropriation sémantique transforme profondément l’objet passé d’un système à l’autre. On ne parlera pas pour autant de déperdition…Lorsqu’un livre, une théorie, une tendance esthétique franchissent la frontière entre deux espaces culturels et passent par exemple d’Allemagne en France, leur signification, liée au contexte, se modifie par là- même.» [4] ; «Un transfert culturel est une sorte de traduction puisqu’il correspond au passage d’un code à un nouveau code“ [5] .

Unser Roman ist von französischen Bezügen geprägt und spielt in der Provence und besonders an der Sainte-Victoire, auch wenn wir verschiedenen anderen Orten begegnen. Die Hauptfigur dieser Erzählung ist Cézanne, der vor Peter Handke auch für Rilke ein Vorbild gewesen ist. Andere französische Maler, Schriftsteller und Philosophen werden implizit oder explizit genannt. Wir sind niemals nur mit dem Erzähler allein, sondern wir begleiten ihn auf den Spuren mehrerer Künstler. Deshalb haben wir zwei Kontexte: einen französischen Erstkontext, der u. a. von Courbet, Balzac, Flaubert und Cézanne vertreten wird und der Zweitkontext, die Rezeption dieser französischen Figuren durch den österreichischen Autor Peter Handke. Diese beiden Kontexte sind entscheidend, um die Kontaktzone zu untersuchen: den Drittraum, der den Kontakt, ja sogar die Konfrontation zwischen dem Ausgangskontext und dem Aufnahmekontext ermöglicht. Was ist eigentlich dieser Zwischenraum oder Drittraum bei Die Lehre der Sainte-Victoire ? Ist die provenzalische Landschaft an sich der Auslöser dieses Transfers oder genauer die Kunst Cézannes, die entscheidend für die Auffassung Handkes von der Literatur ist?

Die Entdeckung Cézannes hat nämlich wichtige und starke Wirkungen auf das Werk Handkes ausgeübt. Nachdem unser Autor die Malerei von Cézanne entdeckt hat, ist er überhaupt nicht mehr derselbe Autor und darüber hinaus nicht mehr derselbe Mann. Handkes erster Kontakt mit Cézannes Malerei stellt einen Wendepunkt, eine Revolution innerhalb seiner literarischen Entwicklung dar : „Als solche Dinge des Anfangs erlebte ich die Bilder Cézannes, auf einer Ausstellung im Frühjahr 1978, und wurde ergriffen von Studierlust, wir zuvor nur bei den Satzfolgen Flauberts“(S.58); „Jetzt aber wird es fällig, zu erzählen, wie der Maler Paul Cézanne mir als ein Menschheitslehrer - ich wage das Wort : als der Menschheitslehrer der Jetztzeit erschien“ (S.108). Eine Transformation findet statt, und zwar insofern, als es die Malerei Cézannes dem Schreiben Handkes ermöglicht, aus einer Auswegslosigkeit, einer Aporie, auf die wir in dieser Arbeit zurückkommen werden, herauszukommen.

Es ist sehr wichtig, noch einmal zu präzisieren, dass Handke schon sehr früh Beziehungen zu Frankreich im künstlerischen Bereich pflegt. Die „Wiener Gruppe“, zu der er als junger Schriftsteller gehörte, hat zur Annäherung von Peter Handke an die französische Kultur beigetragen, denn die „Wiener Gruppe“ hat von Anfang an Kontakte mit französischen Künstlern geknüpft[6]. Man kann auch nicht umhin, den Einfluss des „Nouveau Roman“ auf Handke zu erwähnen. Unser Autor war sehr von dieser „Ecole du regard“ fasziniert . Das ist für ihn ein Vorbild, weil dort vor allem das Objekt wichtiger als das Subjekt ist. Es geht mehr um eine Schreibweise, die das Bild beschreibt, als um eine Erzählung. Sie steht nur an zweiter Stelle. Ein Hintergrund, auf den man nicht zu achten braucht, denn – so schreibt es Handke selbst - "[er] kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen."[7]

Außerdem haben sich alle Schriftsteller des „Nouveau Roman“ für die Bilder interessiert: Robbe-Grillet und Marguerite Duras haben Filme gedreht, Claude Simon ist Fotograph und Michel Butor schrieb ein Buch mit Les Mots dans la peinture betitelt. Die Sprache des Romans wird der Ort des Bildes und Handke entwickelt diese Auffassung besonders in Die Lehre der Sainte- Victoire. Handke sieht, bevor er erzählt, genauso wie Flaubert oder Stifter, auf die er sich beruft. Es gibt ja eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Schreiben und dem Sehen. Diese Problematik der „Bilderschrift“ (S.114), der Malerei im Text, steht selbstverständlich im Zentrum der folgenden Arbeit. Was geschieht eigentlich, wenn ein Autor, ein „Ich“, nun ein Bild beschreibt? Was bedeutet, über die Malerei sprechen oder schreiben, für den Diskurs an sich?

Das Motiv der Malerei im Text bzw. in Die Lehre der Sainte-Victoire ist sehr eng mit einer Art trans-literarischen „Wanderung“[8] verknüpft, nämlich insofern, als Handke sich ständig auf Gemälde bezieht oder Anspielungen darauf macht , genauso, wie der Hypotext im Sinne von Genette[9], den er verwendet. Das Material Handkes ist besonders dicht. Es besteht aus direkten und indirekten Zitaten unterschiedlicher Philosophen, Schriftsteller und Maler. Außer Cézanne werden genannt: Goethe, Stifter, De Chirico, Max Ernst, Magritte, Edward Hopper, Emile Zola, Christian Wagner, Gustave Courbet, Flaubert, Ludwig Hohl, Homer, Balzac, der georgische Bauernmaler Pirosmani, Hölderlin, Nicolas Born, Grillparzer, Maurice Denis, Hitchcock, Rembrandt, Musil, Jakob von Ruisdael. (in der Reihenfolge ihrer ersten Erwähnung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Diese Zitate und Anspielungen bilden mehrere und besonders reiche Schichten, die für den Leser zu entziffern bleiben.

Dieses Verfahren, das wir als eine trans-literarische „Wanderung“ bezeichnet haben, trägt eigentlich die Züge eines Palimpsestes im Sinne von Gérard Genette, der in Palimpsestes . La littérature au second dégré schreibt : „ Un palimpseste est un parchemin dont on a gratté la première inscription pour en tracer une autre, qui ne la cache pas tout à fait, en sorte qu‘on peut y lire, par transparence, l‘ancien sous le nouveau. […]Un texte peut toujours en lire un autre , et ainsi de suite jusqu‘à la fin des textes .[…] . Lira bien qui lira le dernier“. Wir könnten im Fall der Lehre der Sainte Victoire dazu hinzufügen : „Verra bien qui verra le dernier“.Man könnte sogar von einer „trans-ästhetischen“ Wanderung sprechen, um die Terminologie Genettes zu erweitern, der sich auf das literarische Feld beschränkt[10]. Dieser Begriff von Palimpsest scheint uns der Theorie des Kulturtransfers sehr nah zu stehen. Um dies aufzuzeigen, werden wir zuerst die französischen Figuren, die die Lehre der Sainte-Victoire durchziehen, genauer vorstellen und auch untersuchen, wie – mit welchen Verfahren – Handke sie erwähnt. Die Verfahren haben nämlich bestimmte Auswirkungen auf die Gattung der Erzählung , die Handke selbst als „eine Erzählung und zugleich ein wenig als ein Essay und ein Manifest“[11] bezeichnet. Welche Auswirkungen haben sie auf das Werk Handkes? Diese Frage ist der Gegenstand des zweiten Teils unserer Arbeit. Da wir einer Transformation des Schreibens beiwohnen, weil Handke das „Unerhörte“(S.114) - die Bilderschrift - entdeckt, werden wir schließlich das Konzept des Kulturtransfers erweitern, um diesen Begriff mit dem des „Palimpseste-Schreibens“ zu verbinden. Im Licht des Romans von Handke scheint uns der Unterschied zwischen einem Transfer und einem Palimpsest nicht sehr groß zu sein. Man kann nämlich sagen, dass das „Maison Carrée“ beispielsweise ein architektonisches Palimpsest, aber auch ein Transfer der Antiquität in eine moderne Stadt ist. Wenn Michel Tournier[12] in seinem erzählerischen Werk deutsche Texte als Hypotext gebraucht , handelt es sich um einen „Transfer-Palimpsest“. Wir werden ausführlich aufzeigen, dass die rhetorische Figur, die von Genette[13] analysiert wird, auch als eine Kategorie der kulturellen Geschichte verwendet werden kann. Diese Analyse wird uns verstehen lassen, dass dieses Verfahren des Palimpsestes und insbesondere das Motiv der Malerei – im weitesten Sinne des Wortes - ein Anzeichen der Sehnsucht Handkes nach dem Fremden, einer Außenwelt ist. Die grundlegende Frage ist ja die des Territoriums, denn „eine nomadisierende Bewegung“ geht von dem Schreiben Handkes aus. Das ist genau das, was wir mit dieser Arbeit aufzeigen möchten.

[...]""Besonderer Gegenstand" ist noch nicht das richtige Wort; denn geltend waren gerade die Normalsachen , die aber der Maler in den Schein des Besonderen gestellt hatte- und ich jetzt kurz die "magischen" nennen kann"(S.36)

1. Die Lehre der Sainte-Victoire: Eine Wanderung in der französischen Kultur

Die Maler, die in unserer Erzählung vorkommen, sind für den Erzähler – und implizit für Peter Handke - verschiedene Etappen einer Initiation, die zur Entdeckung des "Wortgemäldes" führen. Die Bilder werden aber nicht abgedruckt. Handke schreibt über die Gemälde, ohne sie dem Leser zu zeigen. Diese Beziehung in absentia unterscheidet sich z. B. von den Comics oder von der Buchmalerei, wo in beiden Fällen Bild und Text nebeneinander stehen. Das Bild ohne den Text hat keine Bedeutung. Das sind gleichsam die beiden Seiten eines Zeichens (signifiant und signifié ). Sie haben keine Autonomie und sind abhängig voneinander. Im Gegensatz dazu ist das Bild bei Handke abwesend. Das Bild wird “nur” vom Text erwähnt und beschrieben. Daher bekommt der Text seine Freiheit, weil er sich – durch die Abwesenheit des Bildes - vom Gemälde distanzieren kann. Er hat die Möglichkeit, nach einer Sprache zu suchen, um sich das Bild eigen zu machen. Es geht dem Autor darum, erstens von seiner Initiation zu berichten und zweitens – und vor allem – eine Lehre daraus abzuleiten. So verweist eine verbale Substanz auf eine visuelle Substanz, die normalerweise für die Wörter heterogen ist. Das Bild steckt im Text. Die Bilder sind da, ohne wirklich da zu sein. Das Ziel Handkes – er lernt das von Cézanne - ist gerade, das Bild im Text zu verwirklichen (“réaliser”). Diese Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit ist besonders ergiebig, weil Handke diese Dialektik aufheben will, um an die “Bilderschrift” (S.114) heranzukommen. „Il trouve une langue”[14] - die Sprache des "Wortgemäldes"[15] - hauptsächlich dank vierer Maler: Magritte, Hopper, Courbet und vor allem Cézanne, die entweder Franzosen sind oder die tief von der französischen Malerei beeinflußt worden sind, insofern, dass Paris seit langer Zeit eine sehr bedeutende und zentrale Rolle für die Kunstgeschichte gespielt hat.

1.1.Die Erschütterung: Magritte und die Surrealisten.

Die Surrealisten sind für Handke die ersten Maler, die eine entscheidende Rolle für seine Beziehung zur Malerei spielen. Er bezeichnet die Serien von de Chirico, Max Ernst und Magritte als “entvölkerte schweigendschöne Drohbilder des Halbschlafs” ( S.36). Sie erweisen sich als ein Auslöser für die Fantasie, weil sie eine Welt zwischen der Realität und der Imagination darstellen. Handke spricht besonders von den Landschaften. Er hat sich eigentlich wenig für die Stillleben oder die Porträts interessiert. Das Interesse an Landschaften ermöglicht einem Autor, der die Landschaften mit Worten beschreibt, die Arbeit des Malers besser zu verstehen, als wenn er in der Werkstatt des Malers wäre, denn die Worte sind die Striche des Malers, die Vorstufen eines vollendeten Bildes. Im Gegensatz zur Malerei entdeckt der Leser bei der Literatur die Merkmale der Landschaften allmählich und muss sich sie vorstellen. Die Beschreibung scheint die einzige Möglichkeit zu sein, von der Malerei zum Text überzugehen. Wie kann ich malen, indem ich schreibe, um meinen Text in ein Bild oder sogar in mehrere Bilder zu verwandeln? Das ist die Frage Handkes. Die Surrealisten sind vielleicht für unseren Autor eine erste Antwort, um aus dieser Aporie herauszukommen.

Auch wenn sich De Chirico, Ernst und Magritte selbstverständlich gegenseitig beeinflusst haben, wollen wir uns besonders für Magritte interessieren, weil er dem französischen Kulturaum am nächsten war. Seine ersten Arbeiten, deren Stil impressionistisch geprägt war, entstanden 1913. Etwas später beschloß Magritte, “die Gegenstände nur noch mit ihren augenfälligen Details zu malen”[16]. 1927 hat er seine erste Einzelausstellung mit vorwiegend abstrakten Bildern gezeigt. Er lebte 1927-30 in Paris, wo er von den französischen Surrealisten reiche Anregungen empfing und sich vor allem von Bildern Giorgio De Chiricos beeindrucken ließ (als Werk, das einen besonderen Eindruck bei Magritte hinterließ, wird häufig De Chiricos “Lied der Liebe” genannt). Ab 1930 lebte Magritte wieder in Brüssel als Mittelpunkt eines Freundeskreises. Er freundete sich mit André Breton, Paul Eluard, Joan Miro und später auch mit Salvador Dalí an genauso wie Max Ernst, der sehr früh mit Eluard zusammenarbeitet.

Magritte seinerseits zählte zu den wichtigsten Vertretern des Surrealismus. Breton meinte dazu: “Was ist der Surrealismus? Das ist ein Kuckucksei, das René Magritte wissentlich ins Nest gelegt wird“[17]. Die Hauptaufgabe des Surrealismus war es, herkömmliche Erfahrungs-, Denk- und Sehgewohnheiten zu erschüttern. Dies gelang Magritte, indem er zwar realistische Darstellungen von Gegenständen malte, aber diese durch deren ungewöhnlichen Zusammenstellung. Magritte benutzte immer wiederkehrende Objekte wie z. B. den Apfel, den Vorhang, die Eisenschellen oder das Ei… . Meist bezogen sich diese Werke auf Kindheitserinnerungen wie den Fesselballon, der auf das Elternhaus abstürzte oder die tot aufgefundene Mutter mit einem Nachthemd über dem Kopf. Er setzte verblüffende Gegensätze in seine Bildern ein, wie z. B. im Bild “L’Empire des Lumières”[18], das Handke evoziert, in dem die Häuser im Dunkeln liegen, wogegen es am Firmament aber heller Tag ist. Es wird oft gesagt, dass die Malerei Magrittes Träume und das Bewusstsein darstellte oder enthüllte, genauso wie das künstlerische Schaffen der Surrealisten im Allgemeinen. Magritte schrieb dazu: “Im Hinblick auf meine Malerei wird der “Traum” oft missverständlich gebraucht. Meine Werke gehören nicht der Traumwelt an, im Gegenteil. Wenn es sich in diesem Zusammenhang um Träume handelt, sind diese sehr verschieden von jenen, die wir im Schlaf haben. Es sind eher selbstgewollte Träume, in denen nichts so vage ist, wie die Gefühle, die man hat, wenn man sich in den Schlaf flüchtet. Träume, die nicht einschläfern, sondern aufwecken wollen”[19]. Man kann nicht umhin, eine Parallele zu dem zu ziehen, was Handke über den Traum schreibt: “Das Erträumte geschrieben finden: so möchte ich, dass es euch geht”[20]. Handke möchte den Traum geschrieben oder gemalt sehen; denn er scheint ein Schlüssel zur Entzifferung der Welt zu sein. Es geht ihm genauso wie Magritte um einen Traum, den man nicht in der Nacht hat, sondern noch im Wachzustand : “Drohbilder des Halbschlafs” (S. 36).

Die Titel dieser surrealistischen Bilder werden in dem Roman kurz erwähnt. Doch werden die Gemälde eher beschrieben. Handke beschreibt jedes Bild – das immer eine Serie mit einem Leitmotiv ist, das gleichsam zur Abstraktion geführt wird - mit sehr komprimierten Sätzen oder Formulierungen, um Eindrücke zu vermitteln. Die Angaben wie der Titel, das Entstehungsdatum usw sind sekundär. Die Aufmerksamkeit auf die Stimmung des Bildes hängt sehr eng mit einer Art Bewegung, ja sogar mit einem Verlust zusammen. Die Titel und andere historische Angaben gehören zur Kategorie des Denkmals. Handke versucht, die Beschreibung des Bildes hervorzuheben. Von vornherein bewirkt dieses Verfahren eine besondere Beziehung der Sprache zu der Malerei und umgekehrt. Dieser Gebrauch der Beschreibung mit Anspielungen auf Details oder auf die Stimmung des Bildes trägt dazu bei, unsere Fantasie anzuregen Das ist das “Märchen”, das Handke uns mit den Worten Goethes am Anfang des Romans versprochen hat: “Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen”(S.22). Diese allusive Sprache – einer der Schlüssel zu dem Märchen - versucht nicht, die Unvereinbarkeit der beiden Räume (des Textes und des Bildes ) aufzulösen, sondern sie ermöglicht die Beziehung zwischen den beiden künstlerischen Mitteln. Und so fängt die ewige offene Beziehung zwischen der Malerei und der Literatur an, die so schön von Foucault in Les Mots et les Choses analysiert worden ist: “[…] Mais le rapport du langage à la peinture est un rapport infini. Non pas que la parole soit imparfaite, et en face du visible dans un déficit qu’elle s’efforcerait en vain de rattraper. Ils sont irréductibles l’un à l’autre : on a beau dire ce qu’on voit, ce qu’on voit ne loge jamais dans ce qu’on dit, et on a beau faire voir , par des images, des métaphores, des comparaisons, ce qu’on est en train de dire , le lieu où elles resplendissent n’est pas celui que déploient les yeux , mais celui que définissent le lieu de la syntaxe[…]” [21] .

1.2. Das “Unheimliche”: Inquiétante étrangeté, tranquille étrangeté: die Malerei Hoppers

Diese allusive Dimension wird weiterhin verwendet, indem Handke schreibt: “[…] und endlich, vor allem , die in den Föhrenwäldern von Cape Cod/ Massachussets verborgenen Holzhäuser des amerikanischen Malers Edward Hopper , mit Namen wie ‚Straße und Häuser‘ und ‚Straße und Bäume‘”(S.38)[22]. Die Titel stehen im Hintergrund und sind unwichtig, auch wenn unser Autor betont, dass es um einfache Sachen geht. Die Bilder, die Handke später entdeckt, haben auch etwas Magisches, aber sie bleiben bei der Realität – oder mindestens bei einer Art Realität im Gegensatz zur Surrealität beispielsweise von Magritte. Die Landschaften Hoppers scheinen einerseits Fata Morgana zu sein und andererseits eine der banalsten realistischen Landschaften: “weniger traumdrohend als verlassen-wirklich”( S.38). Sie schwanken zwischen der Realität und einem Jenseits der Realität, während Magritte die versteckte Dimension der Gegenstände zu malen versuchte. “Im Reich [des] Künstlers” (S.38): Hopper stellt all seine Figuren und Motive in einer stillen Erwartung, ja sogar in einer stillen Spannung dar.

Der am 22. Juli 1882 in Nyack, New York, geborene Hopper malte zunächst in impressionistischer Manier. Später begann er, einen realistischen Malstil zu entwickeln, bei dem er Menschen oder Landschaften in strenger Bildordnung malte. Er wurde mit seinen realistischen Bildern der amerikanischen Mittelschicht Vorbild für eine eigenständige amerikanische Malerei. Seine Bilder strahlen vor allem Einsamkeit und Melancholie aus.

Aus der weitgehenden Unbekanntheit in Europa katapultierte ihn die erste große Retrospektive 1981 in Amsterdam, Düsseldorf und London auf die Höhen der Popularität. In seinem Heimatland Amerika gilt er schon sehr viel länger als ein Vertreter des nationalen Erbes, wird auf breiter Basis verehrt und zählt mittlerweile zu den Klassikern. Sein Werk beeinflusste Maler, Fotografen und Filmschaffende, unter anderen Filmregisseure wie Alfred Hitchcock[23], der für das Bates Motel in Psycho Hoppers Bild House by the Railroad zum Vorbild nahm. Hopper wiederum wurde im Gegenzug auch von deren Ästhetik geprägt. Viele seiner Bilder wirken nicht von ungefähr wie eingefrorene Filmszenen. Eine Bar bei Nacht, durch die gläserne Front sickert künstliches Licht in den wie leer gefegten Gehsteig, an der Theke beugen sich vier einsame Gestalten über ihre Gläser. Die Szenerie klingt bekannt und beschwört vor unserem geistigen Auge das Bild der Nachtschwärmer von Edward Hopper herauf.

[...]


[1] Die Lehre der Sainte-Victoire wird zitiert nach : Die Lehre der Sainte-Victoire / La leçon de la Sainte-Victoire Editions Gallimard, Folio bilingue, 1991. S.96. Die Seitenangaben in den Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.

[2] Siehe Handke Peter, Langsame Heimkehr, Suhrkamp Verlag, 1979.

[3] In Handke Peter, Phantasien der Wiederholung, Suhrkamp Verlag 1168, 1983 . Das «weite Land» ist eine Anspielung auf die gleichnamige Tragikomödie Schnitzlers und meint dadurch die Seele: «Die Seele ist ein weites Land».

[4] Espagne Michel , Les transferts culturels franco-allemands, PUF Paris, 2001.S.20ff.

[5] ebd. S. 8ff.

[6] Siehe: Die Wiener Gruppe Achleitner, Hartmann, Bayer,Rühm, Wiener. Texte Gemeinschaftsarbeiten Aktionen, herausgegeben von Gerhard Rühm, 1967, Rowohlt.

[7] «Ich kann in der Literatur keine Geschichte mehr vertragen…Ich bin der Geschichte, der Phantasie einfach überdtrüssig. Aber ich habe auch bemerkt, daß es mir in der Literatur eben nicht um die Erfndung und nicht um die Phantasie geht…Immer mehr Vehikel fallen weg, die Gescichte wird unnötig, es geht mehr um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nicht sprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden » Handke Peter, Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Suhrkamp tb, Frankfurt 1972, S. 23-24.

[8] Im eigentlichen und übertragenen Sinne, denn Handke wandert gerade auf der Sainte-Victoire.

[9] In Palimpsestes. La littérature au second degré, Seuil, 1982. Man kann diese definition lesen: L’hypertextualité= « toute relation unissant un texte B (hypertexte) à un texte antérieur A (hypotexte ) sur lequel il se greffe d’une manière qui n’est pas celle du commentaire. » L’hypertexte est un texte dérivé d’un autre texte préexistant au terme d’une opération de transformation. : transformation simple (transposer l’action du texte A dans une autre époque : Ulysse de Joyce) ou transformation indirecte (ou imitation : engendrement d’un nouveau texte à partir de la constitution préalable d’un modèle générique; ex. : L’Énéide).

[10] Siehe Kapitel LXXIX «Pratiques hyperesthétiques».

[11] Goldschmidt Georges-Arthur, Peter Handke, «Les Contemporains» Seuil, 1988, S.126.

[12] Siehe u.a Le Roi des Aulnes (Gallimard) Folio 656.

[13] Palimpsestes. La littérature au second degré (1982; dt. Palimpsestes. Die Literatur auf zweiter Stufe, 1993).

[14] Rimbaud A.: Brief an Paul Demeny, 1871.

[15] Der Begriff kommt ursprünglich von dem Dichter Harsdörffer (1607-1758)

[16] Magritte René, Die Wörter und die Bilder, in: R.M. Sämtliche schriften, München/Wien 1981, S.41ff.

[17] Breton André, Œuvres complètes, éd. Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade sous la direction de Marguerite Bonnet, tome I, 1988 (jusqu'en 1930).

[18] Siehe Anhang S.44.

[19] Magritte René, Die Wörter und die Bilder, in: R.M. Sämtliche schriften, München/Wien 1981, S.41ff und sein Brief an Hornik am 8.Mai 1959, ebd., S.309-311.

[20] Handke Peter, Phantasien der Wiederholung, Suhrkamp, 1983, S.42.

[21] Foucault M. Les Mots et les Choses, Paris, Gallimard 1966, S.25.

[22] Siehe Anhang S.44.

[23] Zu der Beziehung von Handke zu Hitchcock: Siehe: “Handke et Hitckcock : le vertige, la neige” von Yvonne Bollman in Partir, Revenir. En route avec Peter Handke. Etudes réunies par L.Cassagnau, J.Le Rider et E.Tunner, Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières , 1992.

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Detalles

Título
Die Malerei im Text / Der Text in der Malerei - Die Lehre der Sainte-Victoire von Peter Handke
Universidad
Université de Provence  (Universität (Deutsches Seminar))
Calificación
1
Autor
Año
2005
Páginas
44
No. de catálogo
V89799
ISBN (Ebook)
9783638038102
ISBN (Libro)
9783640522477
Tamaño de fichero
674 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Malerei, Text, Malerei, Lehre, Sainte-Victoire, Peter, Handke
Citar trabajo
Thibaut Chaix-Bryan (Autor), 2005, Die Malerei im Text / Der Text in der Malerei - Die Lehre der Sainte-Victoire von Peter Handke, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/89799

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