Die deutsche Sozialdemokratie und die Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre


Trabajo, 2006

29 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die deutsche Sozialdemokratie und die Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre
2.1 Die Sozialdemokratie im Jahr 1913
2.2 Sozialdemokratie und Reichsland 1870 bis 1913
2.3 Die Zabern-Affäre
2.4 Die Sozialdemokratie in den Debatten nach Zabern
2.4.1 Im Reichstag
2.4.2 In Presse & Publizistik

3 Zusammenfassende Bemerkungen

4 Literaturverzeichnis
4.1 Gedruckte Quellen
4.2 Literatur

1 Einleitung

Blitzlicht – Schlaglichtartig – Schlagartiges Zutage treten. Die aufklärende Qualität der Vorfälle in der elsässischen und vorübergehend deutschen Kleinstadt Zabern im Jahr 1913, ihre Behandlung seitens der Reichsregierung sowie die anschließende Debatte im deutschen Reichstag hoben Zeitgenossen sowie Historiker einhellig hervor.[1] Was dort beleuchtet wurde war der Zustand der Verfassung des Wilhelminischen Kaiserreichs, ihre mangelnde Parlamentisierung und die übermächtige Stellung des Militärs. Die Zabern-Affäre erscheint unter diesem Gesichtspunkt betrachtet als ‚Verfassungskrise’.

Ein anderer Aspekt der Vorkommnisse sowie der sich anschließenden Debatte wird in den meisten Darstellungen der Zabern-Affäre nur am Rande oder nicht erwähnt: die Interpretation und Bewertung der Ereignisse im Kontext der Reichsland-Problematik. Dazu zählen neben den Auswirkungen der Affäre auf die Elsässer und Lothringer die Einstellungen der deutschen politischen Kreise, Gruppen und Parteien gegenüber der Annexion, dem verfassungsrechtlichem Status Elsaß-Lothringens sowie seinen Bewohner und deren Einstellungen. Denn nicht nur der Zustand der Reichsverfassung, sondern auch das Verhältnis des preußischen Militärs und Teilen der deutschen Öffentlichkeit gegenüber der reichsländischen Bevölkerung wurde durch die Affäre deutlich. Der Ausdruck, die preußischen, im Reichsland stationierten Soldaten stünden „fast in Feindesland“[2] erhellte ebenfalls schlaglichtartig – die Kontinuität des Bismarckschen Denkens von Elsaß-Lothringen als Glacis und Aufmarschgebiet. Auf ultrakonservativer, rechter Seite überraschte diese Meinung wenig. Welche Meinungen zu dieser reichsländischen Thematik auf der politisch entgegen gesetzten, linken Seite auftraten, bei der vermeintlich internationalistischen deutschen Sozialdemokratie, ist Thema dieser Arbeit.

Welche Überzeugungen die zugespitzte Situation offenbarte, ob diese mit der bisherigen inneren Entwicklung der Sozialdemokratie korrespondierten oder ihr zuwiderliefen, soll abschließend beantwortet werden. Der Stellenwert, den die Reichslandproblematik und die ‚Elsaß-Lothringen-Frage’ für die Sozialdemokraten während der Zabern-Affäre hatte, ist ebenfalls ein zentraler Aspekt. ‚Elsaß-Lothringen-Frage’ bezieht sich hier auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Annexion und der völkerrechtlichen Zukunft Elsaß-Lothringens, während die Reichslandproblematik die Gesamtheit der Probleme zwischen Elsaß-Lothringen und dem Deutschen Reich, insbesondere die verfassungsrechtlichen, bezeichnet. Die Betrachtung konzentriert sich in erster Linie auf die Vertreter und Organe der reichsdeutschen Sozialdemokratie und nur indirekt auf reichsländische Sozialdemokraten, die jedoch auch im reichsweiten Rahmen auftraten.

Zu Anfang der Arbeit wird ein allgemeiner Überblick der inneren und äußeren Situation der deutschen Sozialdemokratie im Jahr 1913 gegeben und ihr Nationalisierungsprozess kurz skizziert. Das zweite Kapitel umfasst die Haltung der SPD gegenüber der Annexion und der Reichslandspolitik der Regierung sowie das ab 1890 möglich gewordene eigene politische Wirken in Elsaß-Lothringen. Nach einer knappen Darstellung des Verlaufs der Zabern-Affäre folgt die Auseinandersetzung mit der Behandlung der Affäre durch die Sozialdemokratie. Das Hauptaugenmerk liegt auf gesamtdeutschen Medien. Die stenographischen Protokolle der Reichstagsdebatten, die Berichterstattung des sozialdemokratischen Zentralorgans ‚Vorwärts’ sowie die Kommentierung durch die sozialdemokratische Wochenschrift ‚Die Neue Zeit’ wurden für den relevanten Zeitraum vollständig durchgesehen. Darüber hinaus wurden einige weitere sozialdemokratische Schriften oder Reden miteinbezogen.

Das einleitende Kapitel stützt sich auf eine Reihe von Überblicksdarstellungen der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bzw. der Sozialdemokratie sowie auf einige Monographien.[3] Für das Thema ‚Sozialdemokratie und Reichslandproblematik’ bleibt Hans-Ulrich Wehlers ‚Die deutsche Sozialdemokratie und die elsaß-lothringische Frage’ unverzichtbar, ergänzt durch Hartmut-Diethelm Soells alternativlose Arbeit über die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im Reichsland.[4] Auch die verwendeten moderneren Reichsland-Monographien bieten gegenüber diesen älteren Darstellungen wenig neue Aspekte.[5] Die Zabern-Affäre erfuhr detaillierte Interpretationen von Wehler und Ernst Rudolf Huber und ist Gegenstand mehrerer alter und einer moderneren Monographie.[6] Das Thema dieser Arbeit, die deutsche Sozialdemokratie gegenüber der Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre, findet nur bei Wehler, und hier sehr knapp, Erwähnung.[7]

2 Die deutsche Sozialdemokratie und die Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre

2.1 Die Sozialdemokratie im Jahr 1913

Im Jahr 1913 befand sich das Deutsche Reich am Ende einer Phase wirtschaftlichen Aufschwungs, die vor der Jahrhundertwende ihren Anfang genommen hatte.[8] Der wirtschaftliche Aufschwung korrelierte dabei nicht mit einer Erleichterung der Lebens- und Arbeitsumstände der unteren Schichten der Gesellschaft: Der Verkürzung der Arbeitszeit und einer Verbesserung der Wohnsituation der Arbeiter standen eine Stagnation des Realeinkommens und regionale Verschlechterungen ihrer ohnehin schon eingeschränkten politischen Rechte entgegen.[9] Zusätzliche Faktoren wie die ständige Proletarisierung neuer Schichten[10] oder die wachsende Kriegsgefahr hatten viele Arbeiter sowie Kleinbürger an die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die „Oppositionspartei par excellence“[11], herangeführt.[12] Diese stellte mit einer 1913 auf 982000 bezifferten, stetig steigenden Mitgliederzahl die einzige Massenpartei der deutschen Gesellschaft dar.[13]

1912 hatte die SPD ihren bis dahin größten parlamentarischen Erfolg verbuchen können: Erstmalig in ihrer Geschichte bildete sie im Reichstag mit 110 Abgeordneten und einem Mandatsanteil von 27,7% die größte Fraktion.[14] Da der Reichskanzler und die Regierung nicht vom Vertrauen des Reichstags abhängig waren, konnte die Stellung als stärkste Reichstagsfraktion allerdings nicht leicht in die Macht, politische Entscheidungen zu bewirken oder zu erzwingen, übersetzt werden.[15] Zudem hat sich die SPD in der kurzen Zeit bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht zu „einer klaren Entscheidung darüber, (…) ob und wie sie ihre parlamentarische Stärke ausnutzen sollte, (…) durchringen können“[16].

Der innerhalb der Sozialdemokratie teils schwelende, teils ausgefochtene Richtungsstreit zwischen der ‚marxistisch-revolutionären’ einerseits und der ‚reformistischen’ Hauptrichtung andererseits näherte sich in der Vorkriegszeit einer Entscheidung. Das reformistische Verständnis von sozialdemokratischer Politik als Teilnahme am „parlamentarisch-politsche[n] Kräftespiel“[17] basierte auf der Überzeugung, der Sieg der Arbeiterklasse sei „nur auf demokratisch-parlamentarischem Weg [zu] erringen“[18], und der Staat könne durch sozialethisches Wollen der Staatsbürger und Staatsorgane „Träger der sozialistischen Entwicklung werden“[19]. Dabei wurden die Notwendigkeit einer Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft hin zur „fortschreitenden (…) Verelendung der Arbeiterklasse“[20], und die Notwendigkeit deren Konsequenz, der Revolution, bestritten.

Als „Antwort auf die die Einheit der Partei und der gesamten Bewegung gefährdenden Kontroversen über die richtige Strategie und Taktik“[21] bildete sich der ‚Zentrismus’ heraus, und wurde ab 1910 die von der Parteileitung vertretene politische Linie. Diese Strömung nahm den Widerspruch zwischen den gegensätzlichen Ideologien in sich auf, indem sie „grundsätzlich an der marxistischen Orientierung festhielt, in der Praxis jedoch keine alternative Position zum Reformismus einnahm“[22]. So hatte die SPD während der erwähnten Reichstagswahl 1912 u.a. durch eine Absprache über gegenseitigen Kandidatenverzicht mit der bürgerlichen Fortschrittlichen Volkspartei den Wahlerfolg erlangen können.[23] Die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu neuen Steuern zur Deckung der Verteidigungsausgaben im Frühjahr 1913 – ein krasser Bruch der traditionellen sozialdemokratischen Budgetpolitik[24] – deutete ebenfalls auf die reformistische Praxis der Partei hin. Sozialdemokratische „Kuhhandel“[25] wie diese waren neuartig, kurz zuvor nicht möglich gewesen, und wurden innerhalb der Partei heftig kritisiert.[26]

Analog zu dieser Hinwendung zum Staat vollzog die deutsche Sozialdemokratie eine Hinwendung zum nationalstaatlichen Denken, sie entwickelte ihren „nationale[n] Zug“[27]. Nach Ho-Seong Park hatte sich die deutsche Arbeiterbewegung schon in ihren Anfängen als Teil der nationalen Bewegung verstanden; ihr Internationalismus war „kaum sozialistisch, geschweige denn marxistisch-klassenkämpferisch begründet“ und nahm vielmehr „die Form einer ‚innernationalen Klassenloyalität’ an, die von vornherein der ‚Loyalität gegenüber der Nation’ untergeordnet war“[28]. Bereits unter der Verfolgung durch das ‚Sozialistengesetz’ begann nun „die beschleunigte Rezeption nationalstaatlichen Denkens durch das öffentliche Bewusstsein im Reich“[29] auf die Sozialdemokraten zu wirken. Dieser nationale Integrierungsprozess wurde durch die „Wirkungen von Schule und allgemeiner Wehrpflicht, überhaupt [durch] die monarchisch-autoritäre Ordnung von Staat und Gesellschaft“[30] vermittelt.

Erstmals nach der Aufhebung des ‚Sozialistengesetzes’ brach die „latente nationale Strömung“[31] durch und erregte Aufsehen. Vor der Jahrhundertwende beschränkte sich dieses offen geäußerte nationalistische Denken jedoch auf Vertreter der Partei-Rechten.[32] Nach 1900 setzte nun bei den meisten Sozialdemokraten ein Nationalisierungsprozess ein.[33] Die sozialdemokratische „Rußlandfeindschaft“[34], „das uneingeschränkte Bekenntnis zur Verteidigung des Vaterlandes“[35] sowie sporadisch geäußerter „Vulgärnationalismus“[36] bildeten die sichtbarsten Anteile des „noch verborgenen deutsch-sozialdemokratischen Patriotismus“[37]. Aufgrund der parteioffiziellen internationalen Gesinnung vollzog sich der Nationalisierungsprozess jedoch meist unbewusst und der sozialdemokratische Nationalismus blieb weitgehend unreflektiert.[38] Angesichts des Kriegsausbruchs 1914 schlug die deutsche Sozialdemokratie schließlich "offen den Weg zur nationalen Identifizierung auf Kosten der internationalen Klassensolidarität ein“[39].

Der sozialdemokratische Nations- und Vaterlandsbegriff wies einige bemerkenswerte Aspekte auf. Die marxistische, wenn auch temporäre Akzeptanz des bürgerlichen Nationalstaats als „Durchgangsstadium zu neuen Staats- und Gesellschaftsformen“[40] hatte den Sozialdemokraten als Anknüpfungspunkt an eben diesen gedient. Dementsprechend entstand in den 1880er Jahren ein sozialdemokratischer Begriff von ‚Vaterland’ als der „unerlässliche[n] Basis der sozialen Revolution“[41], die es im Falle eines Angriffs von außen zu verteidigen gelte. Mit der fortschreitenden Anpassung an den Nationalstaat entwickelte die Sozialdemokratie ebenfalls einen speziellen Nationsbegriff. Durch die Bestreitung der „mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretende[n] Selbstidentifizierung der herrschenden Schichten und des Bürgertums mit der Nation“ trat die Sozialdemokratie mit diesen staatstragenden Schichten in eine Konkurrenz um die Definitionsmacht der ‚Nation’: Dem offiziellen Nationsbegriff, reduziert auf ein „Ethos des Verzichts (...) als inneres und einen diffusen Machtanspruch (...) als äußeres Moment“, setzten die Sozialdemokraten eine ‚Nation’, bestimmt durch „Unabhängigkeit nach außen, [eine] demokratisch-freiheitliche Verfassung und die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit im Innern“ entgegen.[42] Ihre Betonung „die wahren Vollender des in die hundertjährige Vergangenheit zurückprojizierten ‚demokratischen Freiheitskampfes’ und deshalb auch die ‚besseren Patrioten’ zu sein“[43] illustrierte deutlich ihr Streben zur Nation, ihren Wunsch zu ihr zu gehören. Der Wandel in der Haltung gegenüber der preußisch-deutschen Politik in Elsaß-Lothringen und in der eigenen Reichslandpolitik stellte diese sozialdemokratische Hinwendung zur Nation m. E. beispielhaft dar.

2.2 Sozialdemokratie und Reichsland 1870 bis 1913

Die erste Phase der Auseinandersetzung der deutschen Arbeiterbewegung mit der preußisch-deutschen Politik gegenüber dem Elsaß und Lothringen umfasste die zwanzig Jahre vom Beginn des deutsch-französischen Krieges 1870 bis zum Anfang der 1890er Jahre. Während kurz nach Beginn des Krieges die Forderung, die französischen lothringischen und elsässischen Départements zu annektieren, weite Kreise der deutschen Öffentlichkeit erfasste[44], steigerte sich in der deutschen Arbeiterbewegung die Auseinandersetzung zwischen der Befürwortung des vermeintlichen Defensivkrieges seitens der Lassalleaner und der Distanzierung bis Ablehnung des Krieges seitens der Eisenacher Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur „Fehde“[45]. Die Schlacht von Sedan, die Ausrufung der dritten französischen Republik, sowie Karl Marx’ eindeutige Positionierung gegen eine Annexion stellten die Einheit der Arbeiterbewegung mit einer strikten Ablehnung der Annexion jedoch wieder her.[46] Von da an bewegte sich die deutsche Sozialdemokratie „auf der unmißverständlichen Grundlinie, die Marx gegen eine Annexion vorgezeichnet hatte“[47]. Marx’ funktionalistische Argumentation sah in der Annexion ein Hindernis für den Fortschritt der Arbeiterbewegung, da sie dessen Voraussetzung, ein nationalstaatliches, nach den Gesetzen der industrialisierten Welt sich entfaltendes Deutschland, gefährde.[48] Die Annexion führe Deutschland und Frankreich in die „wechselseitige Selbstzerfleischung“, der Krieg werde eine „europäische Institution“, Frankreich in ein Bündnis mit Russland getrieben und Deutschland gegen eine französisch-russische Allianz zugrunde gehen.[49] Neben dem Insistieren auf diesen negativen Konsequenzen der Annexion kritisierten die deutschen Sozialdemokraten in diesen Jahren jedoch auch beharrlich den Rechtsbruch und die moralische Bedeutung der erzwungenen Einverleibung der elsässischen und lothringischen Bevölkerung ins Deutsche Reich.[50] Aus dem Selbstbestimmungsrecht abgeleitet, forderten sie eine nachträgliche Abstimmung der Betroffenen über ihren völkerrechtlichen Status.[51]

Im Reichsland selbst konnte dieser Protest jedoch noch keine Wirkung zeitigen. Hier wurde der soziale Antagonismus, der Klassengegensatz, noch vollständig durch den nationalen Antagonismus, die Gegnerschaft gegenüber Preußen-Deutschland, überlagert. Die vom elsässischen Klerus und der „Haute-Bourgeoisie“[52] geleitete Protestbewegung sah in den reichsdeutschen Sozialisten fremde „Preußen“[53], zuweilen gar „Agenten Bismarcks“[54]. Die hier bedeutungslose Sozialdemokratie musste ihren Gegner paradoxerweise in der Protestbewegung und ihrem „unseligen Nationalitätenhader“[55] sehen, während folgerichtig ihr Erfolg von einer Eindeutschung des Reichslandes und dem Verebben des Protests gegen die Annexion abhing.[56] Der Versuch einer Bagatellisierung des nationalen elsaß-lothringischen Protests trat bereits jetzt auch in den reichsdeutschen sozialdemokratischen Organen neben die proklamierte Beibehaltung der Opposition gegen die Annexion.[57]

Die zweite Phase der Haltung der Sozialdemokratie gegenüber der Elsaß-Lothringen-Frage kündigte sich während der 1880er Jahre an und setzte sich Anfang der 1890er Jahre durch. Sie ist gekennzeichnet durch die Aufgabe des Kampfes gegen den Status Elsaß-Lothringens – als gegen den eigenen Willen annektiertes, deutsches Reichsland - zugunsten des Kampfes um die Verbesserung dieses Status. Nach einem letzten klaren Hervortreten der bisherigen politischen Grundlinie während der Boulanger-Krise 1887 gewann in der sozialdemokratischen Partei „die Auffassung an Boden, daß man sich mit dem Status-quo abzufinden habe“[58]. „Unter dem Druck der stabilisierten politischen Verhältnisse, unter dem Einfluß der ökonomischen Verzahnung mit dem ‚altdeutschen’ Gebiet und des fortschreitenden Anpassungsprozesses an den nationalstaatlichen Charakter des Reichs“[59] hatte sich die Anerkennung der Annexion auch in den Führungsgremien der Sozialdemokratie durchgesetzt. Anfangs exponierten sich Pragmatiker wie Ignaz Auer, Paul Singer und Georg von Vollmar mit dieser Position.[60] Jedoch auch August Bebel distanzierte sich bald von seinen ehemaligen Forderungen; 1889 noch unter Betonung des Rechts der Selbstbestimmung, 1892 dann mit der Leugnung, eine bedingungslose Herausgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich je gefordert zu haben.[61] Bebel und Wilhelm Liebknecht bezogen zwar „nach wie vor den funktionalen Aspekt der els.-lothr. Frage – als Ursache des internationalen Wettrüstens – in ihre Betrachtung ein“[62], dokumentierten aber gerade hiermit den Wandel ihrer Haltung gegenüber der Elsaß-Lothringen-Frage: einen Rückzug hin zu einer funktionalen Kritik. Die negativen Konsequenzen der Annexion für den Frieden in Europa wurden darüber hinaus später als Argument nicht gegen, sondern für die Akzeptanz der Annexion genutzt: Der Ruf nach Revision des Status quo galt nun als Störung des Friedens.[63]

[...]


[1] Wehler, Hans-Ulrich: Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918; Göttingen, 1979, Seite 71; Lenin, W. I.: Werke; Band 19: März – Dezember 1913; Berlin, 1962, Seite 509; Berghahn, Volker Rolf: Imperial Germany; Providence, 1994, Seite 275.

[2] Leserzuschrift des Berliner Polizeipräsidenten v. Jagow an die ‚Kreuzzeitung’; in: Neue Preußische Zeitung, 22.12.1913; nach: Wehler 1979, Seite 76.

[3] Zum Nationalisierungsprozess: Heidegger, Hermann: Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1870-1920; Göttingen, Berlin, Frankfurt, 1956; Wehler, Hans-Ulrich: Sozialdemokratie und Nationalstaat; Göttingen, 1971; Groh, Dieter; Peter Brandt: «Vaterlandslose Gesellen». Sozialdemokratie und Nation 1860-1990; München, 1992; Park, Ho-Seong: Sozialismus und Nationalismus; Berlin, 1986.

[4] Wehler, Hans-Ulrich: Die deutsche Sozialdemokratie und die elsaß-lothringische Frage; in: Wehler 1971; Soell, Hartmut Diethelm: Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871-1918; Diss. phil.; Heidelberg, 1963.

[5] Hiery, Hermann: Reichstagswahlen im Reichsland; Düsseldorf, 1986; Silverman, Dan P.: Reluctant Union. Alsace-Lorraine and Imperial Germany 1871-1918; University Park, London, 1972.

[6] Wehler, Hans-Ulrich: Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs; in: Wehler 1979, Seite 70-116; Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789: Band 4; Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1969, Seite 581-602; Schenk, Erwin: Der Fall Zabern; Stuttgart, 1927; Schoenbaum, David: Zabern 1913; London, Boston, Sydney, 1982; Angaben zu weiterer Literatur bei: Wehler 1979, Seite 449, Anm. 5.

[7] Wehler 1971, Seite 82 f.; bei: Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus; Frankfurt am Main, Berlin, Wien, 1973, Seite 509-537 wird das Agieren der Sozialdemokratie während der Zabern-Affäre nur im Hinblick auf deren Charakter einer Verfassungskrise analysiert.

[8] Freyberg, Jutta von, u.a.: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie; Köln, 1975, Seite 38; Groh, Dieter: Negative Integration und revolutionärer Attentismus; Frankfurt am Main, Berlin, Wien, 1973; Seite 437.

[9] Freyberg 1989, Seite 41; Groh 1973, Seite 456.

[10] Rovan, Joseph: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie; Frankfurt am Main, 1980, Seite 86.

[11] Wehler 1979, Seite 79.

[12] Freyberg 1989, Seite 44.

[13] Grebing, Helga: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung; München, 1966, Seite 107.

[14] Ritter, Gerhard A.: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918; München, 1980, Seite 42.

[15] Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789: Band 3; Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1970, Seite 898 ff.

[16] Grebing 1966, Seite 108.

[17] Rovan 1980, Seite 409, Anm. 7.

[18] Huber 1969, Seite 113.

[19] ebd.

[20] ebd., Seite 112.

[21] Groh 1973, Seite 60.

[22] Freyberg 1989, Seite 46.

[23] Groh 1973, Seite 273 ff.

[24] Rovan 1980, Seite 102; ausführlich: Groh 1973, Seite 433 ff.

[25] Engelmann, Bernt: Vorwärts und nicht Vergessen; München, 1984, Seite 264.

[26] Freyberg 1989, Seite 49; Rovan 1980, Seite 85, 102; Grebing 1966, Seite 108; Engelmann 1984, Seite 264, 271 f.; Groh 1973, Seite 289 ff., 443 ff.

[27] Wehler 1971, Seite 214.

[28] Park 1986, Seite 319.

[29] Wehler 1971, Seite 62.

[30] Grebing 1966, Seite 139.

[31] Schieder, Theodor: Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat; Köln, Opladen, 1961, Seite 16.

[32] Heidegger, Hermann: Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1870-1920; Göttingen, Berlin, Frankfurt, 1956, Seite 61 ff.

[33] Grebing 1966, Seite 139.

[34] Park 1986, Seite 319.

[35] Grebing 1966, Seite 140.

[36] Wehler 1971, Seite 214.

[37] Grebing 1966, Seite 143.

[38] Wehler 1971, Seite 213 f.

[39] Park 1986, Seite 320.

[40] Wehler 1971, Seite 212.

[41] ebd., Seite 65.

[42] Alle Zitate: Groh 1973, Seite 507 f.

[43] ebd., Seite 508.

[44] Schieder, Theodor; Ernst Deuerlein (Hg.): Reichsgründung 1870/71; Stuttgart, 1970, Seite 374.

[45] Wehler 1971, Seite 53 f.

[46] ebd., Seite 54, 58 f.

[47] ebd., Seite 59 f.

[48] ebd., Seite 56.

[49] Alle Zitate: Marx, Karl; Friedrich Engels: Werke; Band 17; Berlin, 1962, Seite 268, 275 f.

[50] Wehler 1971, Seite 60 ff.

[51] ebd., Seite 60.

[52] Soell 1963, Seite 35.

[53] ebd., Seite 56.

[54] ebd., Seite 44.

[55] Vorwärts 19.7.78; nach: ebd., Seite 46.

[56] ebd., Seiten 40-51.

[57] ebd., Seite 42.

[58] Wehler 1971, Seite 63 f.

[59] ebd., Seite 65.

[60] Soell 1963, Seite 151.

[61] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags, 7. Legislaturperiode, 5. Session: Band 1; Berlin 1890, Seite 45; Verhandlungen des Reichstags, 8. Legislaturperiode, 2. Session: Band 1; Berlin 1893, Seite 305.

[62] Soell 1963, Seite 151.

[63] ebd., Seite 191.

Final del extracto de 29 páginas

Detalles

Título
Die deutsche Sozialdemokratie und die Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre
Universidad
University of Hamburg  (Historisches Seminar)
Curso
Nationale Minderheiten in Deutschland im 19. Jahrhundert
Calificación
1,3
Autor
Año
2006
Páginas
29
No. de catálogo
V90421
ISBN (Ebook)
9783638045193
ISBN (Libro)
9783638941266
Tamaño de fichero
568 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Sozialdemokratie, Reichslandproblematik, Zabern-Affäre, Nationale, Minderheiten, Deutschland, Jahrhundert
Citar trabajo
Julius Hess (Autor), 2006, Die deutsche Sozialdemokratie und die Reichslandproblematik während der Zabern-Affäre, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/90421

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