Pädagogischer Umgang mit aggressivem Verhalten bei Jugendlichen. Umgang in der Kinder- und Jugendhilfe und Präventionsmaßnahmen


Bachelor Thesis, 2019

43 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definition und Differenzierung von Gewalt und Aggression
2.1 Aggression & Aggressivität
2.2 Der Gewaltbegriff in Abgrenzung zum Aggressionsbegriff

3. Jugendgewalt in Deutschland – Statistische Bestandsaufnahme
3.1. Jugendgewalt in der Polizeilichen Kriminalstatistik
3.2 Altersstruktur der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten
3.3 Kriminalität im Altersverlauf
3.4 Resümee Hellfeldanalyse
3.5 Dunkelfeldanalyse

4. Sozial- und entwicklungspsychologische Theorien zum Thema Aggression
4.1 Trieb– und Instinkttheorien der Aggression
4.2 Die Frustrations- Aggressions- Hypothese nach Dollard et al
4.3 Lernen am Modell nach Bandura
4.4 Das bio-psycho-soziale Modell

5. Auslöser aggressiven Verhaltens
5.1 Ärger
5.2 Frustration
5.3 Konflikte

6. Umgang mit aggressivem Verhalten in der pädagogischen Praxis
6.1 Wie reagiert man in einer akuten Krisensituation?
6.2 Grundkompetenzen für den Umgang mit aggressivem Verhalten
6.3 Interventionsberechtigung
6.4 Selbstmanagement

7. Präventionsmaßnahmen bei aggressivem Verhalten
7.1 Prävention
7.2 Soziales Kompetenztraining

8. Schlussbetrachtung

1. Einleitung

Aggression und Gewalt sind als Problem allgegenwärtig. Unsere Gesellschaft scheint von Aggression und Gewalt dominiert zu sein. Terrorismus, Hass im Netz, Gewalt gegen Randgruppen, Jugendgewalt, Gewalt im Sport, häusliche Gewalt – kaum ein gesellschaftlicher Bereich, der nicht mit Gewalt oder Aggression in Verbindung gebracht wird.

Aber was ist eigentlich wissenschaftlich betrachtet genau Gewalt? Was Aggression? Und was ist der Unterscheid zwischen Gewalt und Aggression? Bedingt das Eine das Andere? Möglicherweise agieren wir ja mit Begriffen, unter denen jeder etwas anderes, Eigenes, versteht.

Ich habe mir daher die Frage gestellt, was dies für die Praxis der sozialen Arbeit – und hier insbesondere der Praxis in der Kinder- und Jugendhilfearbeit, in der ich seit Jahren tätig bin – bedeutet, wenn wir hier mit unklaren Begrifflichkeiten hantieren. Wir Fachkräfte werden täglich mit Gewalt und Aggression konfrontiert. Jugendliche, die Gewalt gegen andere ausüben. Jugendliche, die Gewalt am eigenen Leib erfahren – von Mitschülern, ihren Eltern, Wildfremden. Kaum einer der von uns betreuten jungen Menschen (im Alter zwischen 12 und 20 Jahren) kann nicht von eigenen Gewalterfahrungen, ob als Täter oder Opfer, berichten.

Und damit müssen wir als Fachkräfte umgehen. Wir müssen einen Weg finden, jungen Menschen zu helfen, diese Erfahrungen einzuordnen. Wir müssen ihnen helfen zu verstehen, dass ausgeübte Gewalt und Aggression ein falscher Weg ist. Dazu müssen wir aber auch verstehen, was genau ist Gewalt. Woher kommt Aggression? Nur wenn wir das verstehen, können wir auch helfen.

Und wir dürfen auch nicht vernachlässigen, dass wir als Fachkräfte nicht selten auch selbst Opfer oder Ziel von Aggressionen ausgehend von unseren Klienten sind. Auch hier ist es in der Frage, wie wir damit umgehen und darauf reagieren von elementarer Bedeutung, dass wir verstehen, warum junge Menschen so handeln wie sie es tun. Zwei Beispiele hierzu aus meiner beruflichen Praxis.

Fall 1. Der 17-jährige Dirk (Name geändert) lebt bei seinen Eltern. Dirk hat, als wir begannen mit ihm zu arbeiten, keinerlei soziale Kontakte, verließ kaum das Haus und wenn dann nur, um zur Schule zu gehen. Das musste er aber immer weniger, weil er nahezu wöchentlich immer wieder vom Unterricht suspendiert wurde aufgrund massiver Gewalteruptionen gegenüber Mitschülern und Lehrpersonal. Diese waren so massiv, dass deswegen zeitweise ganze Etagen auf seiner Schule evakuiert werden mussten, um andere Mitschüler nicht zu gefährden. Am Ende der Betreuung hatte Dirk einen festen Job mit eigenem Einkommen, einen kleinen Freundeskreis und plante seinen Auszug zuhause.

Fall 2. Der 14-jährige Ole (Name geändert) hat eine diffuse Diagnose, die auf eine autistische Störung hinweist. Die Eltern waren bei unzähligen Ärzten und Kliniken, um Klarheit über die Situation ihres Sohnes zu bekommen. Ole lebt bei seinen Eltern, die sich sehr liebevoll und geduldig um ihn kümmern. Als wir begannen mit ihm zu arbeiten, war Ole nahezu 24 Stunden pro Tag in der Obhut seiner Eltern, die keinerlei eigenes soziales Leben mehr hatten, da sie sich rund um die Uhr um ihren Sohn kümmern und ihn beaufsichtigen mussten. Ole war ebenfalls nahezu durchgehend vom Schulbesuch suspendiert, da er immer wieder völlig unvermittelt und extrem massiv körperlich und verbal gegen Mitschüler und Lehrpersonal vorging. Ole hatte zu diesem Zeitpunkt bereits etliche Schulassistenten „verbraucht“. Auch in der Familie kam es immer wieder zu massiven, unvermittelten Gewalteruptionen seitens Ole gegenüber seinen Eltern. Die Familie stand kurz davor auseinanderzubrechen. Die Empfehlung war eine geschlossene Unterbringung des Jungen. Heute verlässt Ole täglich am Morgen das Haus, um beschult zu werden, hat an Freizeiten mit anderen Kindern teilgenommen, ist kaum noch körperlich übergriffig. Die Familie ist durch die massive Entlastung wieder zusammengerückt und blickt in eine positive Zukunft.

Der Grad an Aggression und Gewalt war in beiden Fällen auf einem ähnlichen Niveau. Und in beiden Fällen richtete sich diese Aggression auch in erheblichem Maße gegen uns als Betreuer. Und trotzdem liegen beide Fälle in der Erklärung für die Gewaltausbrüche sehr weit auseinander.

War es in einem Fall eine krankheitsbedingte psychisch-körperliche Fehlentwicklung, gegen die der Junge (Ole) nur wenig tun kann, musste im Fall von Dirk davon ausgegangen werden, dass aufgrund ständig erfahrener Ausgrenzung und sozialem Scheitern und daraus resultierend völlig fehlendem Selbstwertgefühl sich ein solches Maß an Frustration und Wut in ihm aufgestaut hatte, dass die Aggressionsausbrüche zwangsläufig und selbstreinigend geschehen mussten. In Momenten der ausgeübten Gewalt fühlte er sich stark und beachtet, aber emotional leer und einsam.

Nur weil es uns als betreuendem Fachkräfte-Team möglich war zu verstehen, welcher Form von Gewalt und Aggression wir hier begegnet sind und was die Gründe und Auslöser dieser Gewalt waren, konnten wir beiden jungen Menschen auf eine individuelle und sinnvolle Weise helfen.

Mein Versuch wird daher sein, mich mit der vorliegenden Bachelor-Arbeit zunächst einmal dem Thema Aggression/Gewalt in der jugendlichen Lebenswelt von der theoretischen Seite zu nähern. Junge Menschen zwischen 6 und 21 Jahren stellen über 30% der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung nur rund 18% beträgt (siehe Kapitel 3). Gewalt im Jugendalter ist also ein wichtiges und relevantes Thema, mit dem wir als Gesellschaft, insbesondere aber die Soziale Arbeit sich auseinandersetzen muss.

Ich werde daher zunächst in Kapitel 2 versuchen, die zugrundeliegenden Begrifflichkeiten genauer und klarer zu definieren und voneinander abzugrenzen.

In Kapitel 3 beschäftige ich mich mit der statistischen Betrachtung des Thema Jugendkriminalität und -gewalt. Es wird deutlich werden, wie schwer es ist, aus den vorliegenden Zahlen wirklich belastbare und eindeutige Erkenntnisse zu ziehen. Wie schwer hier eine klare Analyse ist, belegt die Tatsache, dass jedes Jahr, wenn wieder neue Zahlen aus dem genannten Bereich vorgelegt werden, je nach Medium, politischer Ausrichtung und Intension die Bewertung ein und derselben Zahlen völlig diametral ausfällt.

Kapitel 4 macht den Versuch eine Übersicht zu geben über die unzähligen Theorien aus Psychoanalyse, Psychologie, Sozial- und Gesellschaftswissenschaft über Auslöser und Ursprünge von Gewalt und Aggression.

Die Kapitel 5 und 6 dann knüpfen die Verbindung von Theorie und Praxis. Hier werde ich beispielhaft an ausgewählten Praxisfeldern verdeutlichen, wie wichtig die zuvor gewonnenen theoretischen Erkenntnisse bei der Suche und Umsetzung sinnvoller und effektiver Strategien in der Praxis der Sozialen Arbeit im Umgang mit Jugendgewalt sind.

Meine Forschungsfrage, die ich in den vorgenannten Kapiteln versuchen werde zu beantworten, ist daher: Wie kann es am Beispiel des Themas jugendliche Gewalt und Aggression gelingen, theoretische Erkenntnis se und Definitionen in praktisches Handeln zu implementieren?

2. Definition und Differenzierung von Gewalt und Aggression

Zur Einführung in das Thema und zur Abgrenzung des Themenbereichs wird, wie bereits erwähnt, zunächst eine Begriffsdefinition vorgenommen und verschiedene Arten und Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens skizziert. So kann herausgearbeitet werden, was im Folgenden unter „Aggression“, „Gewalt“ und „Jugendgewalt“ zu verstehen ist.

Eine einheitliche Definition der vorgenannten Begriffe ist vor dem Hintergrund meiner Forschungsfrage notwendig, da unterschiedliche Definitionsansätze auch unterschiedliche Ansätze in Bezug auf den konkreten Umgang mit Gewalt ermöglichen.

2.1 Aggression & Aggressivität

Der Begriff der Aggression wird sowohl im Alltagswortschatz wie auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch auf vielfältige und zumeist unterschiedliche Weise verwendet. Die Unterschiede im Begriffsverständnis sind zahlreich. Auch wenn im Alltagssprachgebrauch eine weitgehende Übereinstimmung darüber zu bestehen scheint, was wir als aggressiv bezeichnen, gibt es in der Wissenschaft keine eindeutige und allumfassende Definition des Begriffs.

Eine erste Annäherung an den Begriff liefert uns Schottmayer, der Aggressionen als „vielerlei destruktive Verhaltensweisen“ zusammenfasst (Schottmayer, 2011, S. 51). Bereits Erich Fromm verwendete, analog zu Schottmayer, den Begriff der „menschlichen Destruktivität“, um Aggression zu beschreiben (Fromm, 1973, S. 254ff.). Aggressivität und Aggression sind ubiquitäre Phänomene (Weidner, 1993, S. 4; Remschmidt, 1992, S.73). Aggression ist eine in jedem Menschen innewohnende, angeboren und genetisch verankerte Fähigkeit, wenn nötig gewalttätig gegen einen Artgenossen vorzugehen und dadurch das eigene Überleben zu sichern (vgl. Struck, 2007, S.24-27). Der Psychoanalytiker Erich Fromm sieht dies ähnlich. Er betont dagegen, im Vergleich zu den bereits oben genannten, vor allem dessen Defensivfunktion (vgl. Fromm, 1973, S. 87).

Der Begriff der Aggression leitet sich von dem lateinischen Verb „ad-gredi“ ab, welches so viel wie „sich nähern“, „mutiges Draufzugehen“ bedeutet. Ursprünglich beschreibt der Begriff somit ein eher prosoziales Verhalten, während der Begriff heute tendenziell negativ notiert ist (vgl. Schottmayer, 2011, S 43).

Zimbardo und Gerrig definieren ähnlich wie Hurrelmann & Bründel (Hurrelmann & Bründel, 2007, S.11; S.16) Aggression „als körperliches oder verbales Handeln, das mit der Absicht ausgeführt wird, zu verletzen oder zu zerstören. […] Während der Begriff der Aggression direkt auf ein Verhalten abzielt, bezieht sich Aggressivität auf eine Disposition oder Persönlichkeitseigenschaft“ (Zimbardo & Gerrig, 2003, S.334).

Nolting fasst die verschiedenen Aspekte des Begriffs unter folgender Definition zusammen.

„Aggression ist ein Verhalten, das darauf gerichtet ist, andere Individuen zu schädigen oder ihnen wehzutun“ (Nolting, 2005, S.15)

Beim Betrachten der soeben dargestellten engeren Definitionsansätze, fällt auf, dass insbesondere drei Charakteristika von aggressivem Verhalten herausstechen:

- Schädigung
- Intention
- Normabweichung (vgl. ebd., S.14)

Die Bandbreite aggressiver Handlungen, im Sinne der dargestellten Definition von Aggression, ist außerordentlich groß. Es lassen sich verschiede Arten von Aggressionen kategorisieren:

- Physische Aggression, wie z.B. kratzen, würgen, schlagen, schubsen, stoßen
- Verbale Aggression mit angreifenden Ton, wie z.B. Beschimpfen oder anschreien
- Verbale Aggression, welche primär durch das Gesagte angreifen, wie z.B. Verspottung, Drohungen oder Kränkungen
- Nonverbale Aggression, wie böse Blicke oder eine gehobene Faust
- Relationale Aggression, die die Beziehung und/oder Stellung der angegriffenen Person untergraben oder diffamieren soll.

Eine weitere Unterscheidung des Aggressionsbegriffs erfolgt zwischen affektiver und instrumenteller Aggression. Affektive Aggression ist durch eine emotionale Reaktion hervorgerufen und wird von starken Emotionen und Erregungen begleitet. Sie dient der Reduktion von Spannung und Angst und hat eine klare Zielabsicht: Schädigung (vgl. Nolting, 1998, S.148ff).

Demgegenüber steht die instrumentelle Aggression, die sich über dessen Zweckorientierung definiert. Ihr liegt kein aggressives Bedürfnis zugrunde, sondern wird ausschließlich aufgrund eines bestimmten Nutzens ausgeführt (vgl. ebd., 1998, S.148ff).

Andreas Dutschmann und Justina Lukat kritisieren unter anderem die Eindimensionalität der meisten wissenschaftlichen Definitionsansätze. Da sie zumeist nur aus einer wissenschaftlichen Perspektive formuliert wurden, besitzen sie für Dutschann & Lukat nur eingeschränkten heuristischen sowie pragmatischen Wert.

Sie werden der Komplexität der Realität nicht gerecht (vgl. Dutschmann und Lukat, 2011, S.128ff.).

Die Definition von Dutschmann unterscheidet 3 verschiedene Formen von Aggression (Dutschmann & Lukat 2011, S.128):

Aggression vom Typ A (instrumenteller Typ). Instrumentelle Aggression, ist wie bereits oben beschrieben, der Versuch, gezielt oder geplant, mit Aggression zu einem bestimmten Ziel zu gelangen. Anderen Menschen Schaden zuzufügen, wird dabei meist in Kauf genommen. Verhaltensweisen dieses Typs werden mehr oder weniger absichtlich als Instrument zur Zielerreichung eingesetzt. Emotionen bzw. Erregung steht hier im Hintergrund

Aggression vom Typ B (Erregungstyp). Aggression vom Typ B sind gekennzeichnet durch erhöhte emotionale Erregung. Das Verhalten dient hauptsächlich zum Abbau von Spannungszuständen und zur Abwehr bedrohlicher Reize, wobei die Schädigung anderer in Kauf genommen wird.

Aggression vom Typ C (Erregungstyp). Eine Aggression vom Typ C ist durch hohe Erregung hervorgerufenes, weitgehend ungesteuertes Verhalten mit schwerer Gefährdung von Menschen sowie Gegenständen. Es handelt sich hierbei um eine extremere Form des Typs B. Typ C ist durch seine besondere Heftigkeit und Unbesonnenheit charakterisiert. Auf kognitiver Ebene können Kinder und Jugendliche nicht ansatzweise die Folgen ihrer Handlung vorwegnehmen und können sich oder andere schwer gefährden.

Auch wenn Dutschmann und Lukat an dieser Stelle auf die Gesamtheit der Definitionsfrage von Aggression keine umwälzend neuen Erkenntnisse geliefert haben, haben sie doch für die Praxis durch die Ergänzung des Typs C einen durchaus pragmatischen Ansatz hinzugefügt.

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass es die allgemeingültige Definition von Aggression nicht gibt. Ob wir uns nun dem Begriff auf verhaltenstypischer, emotionaler oder affektiver Ebene nähern oder ob man sich dem Begriff über topografische oder antezedente Ansätze nähert, eine allumfassende Definition kann nicht proklamiert werden. Ähnlich sehen dies Dutschmann & Lukat (2011, S.128) sowie Nolting, (2015, S.23f.), der der Meinung ist, dass keine Aggressionsdefinition eine scharfe Grenze zwischen aggressivem und nicht aggressivem Verhalten ziehen kann. Es bleibt immer eine Grauzone.

2.2 Der Gewaltbegriff in Abgrenzung zum Aggressionsbegriff

Die Begriffe „Gewalt“ und „Aggression“ werden in der wissenschaftlichen Diskussion weiterhin stark diskutiert und sowohl in der Diskussion wie auch in der pädagogischen Praxis oft unterschiedlich definiert (vgl. Mücke & Korn, 2000, S. 12). Es scheint schwierig, genaue Unterscheidungskriterien anzuführen, da die Übergänge zwischen den beiden Begriffen fließend sind (vgl. Nolting, 1997, S.25; Hurrelmann & Bründel, 2007, S.17). Formen von Gewalt sind ebenso vielfältig wie die der Aggression, was eine Eingrenzung erschwert. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat es sich weitgehend durchgesetzt mit den beiden Begriffen unterschiedlichste Arten von Destruktivität zu kennzeichnen (vgl. Schottmayer, 2011, S.54).

Das Wort Aggression gilt im alltäglichen Sprachgebrauch weniger gängig als der Begriff Gewalt. Für Schottmayer werden mit Aggression subtilere Formen, Gefühlsäußerungen und Motive asozialen und destruktiven Verhaltens bezeichnet. Vorrangig unter dem Einfluss von Massenmedien wird Gewalt als besonders brutale, grausame oder abstoßende Verhaltensweise definiert (vgl. Schottmayer, 2011, S. 43).

Doch auch der Gewaltbegriff hat, wie der Aggressionsbegriff, eine ursprünglich positive Wortbedeutung. Gewalt ist einerseits ein Kompetenzbegriff in der Bedeutung, die Kraft zu haben, über etwas verfügen oder etwas bewirken zu können. Andererseits finden wir den Begriff auch im Zusammenhang mit Sprachgewalt (Fähigkeit, andere durch seine Ausdrucks-/Redeweise nachhaltig zu beeindrucken) oder auch die staatlich legitimierte Gewalt (Staatliches Gewaltmonopol, Amtsgewalt, Gewaltenteilung, alle Gewalt geht vom Volke aus Art 20 GG.) (vgl. Schottmayer, 2011, S. 42f.).

Eine deutende Definition kann immer nur ein Versuch sein, bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen unter einen Begriff zu subsumieren. Dabei ist die Verwendung des Gewaltbegriffs immer Teil einer „sozialen Wirklichkeitskonstruktion“ und eine Frage „sozialer Interpretationen“ (Neidhardt, 1986, S.115) von gewissen Handlungen als Gewalthandlungen. Eine allgemeingültige Zuordnung ist vor diesem Hintergrund kaum möglich, da eine Beurteilung, von akzeptablen und nicht akzeptablen Verhaltensweisen kulturellen Einflüssen, Wertvorstellungen und gesellschaftlichen Normen unterliegt, die sich ständig wandeln (vgl. WHO, 2002, S. 5). Liell fasst diesen Umstand zusammen, indem er die Wahrnehmung und Interpretation von Gewalt an den jeweiligen sozialen, kulturellen sowie historischen Kontext anknüpft (vgl. Liell, 2002, S.7). Ebenso variieren Definitionen von Gewalt interdisziplinär, was eine einheitliche Definition darüber hinaus erschwert. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Gewalt als ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen, das sich einer exakten wissenschaftlichen Definition entzieht und eher der Interpretation des Einzelnen überlassen bleibt.

Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gewalt folgendermaßen:

Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“

Nicht nur konkrete physische Gewalt findet sich in dieser Definition wieder, sondern sie bezieht auch Drohungen und Einschüchterungen in die inhaltliche Reichweite des Begriffs mit ein. Wolter abstrahiert daraus folgende Maxime/Definition:

Gewalt umfasst Verhaltensweisen, die die Intention in sich trägt, eine andere Person direkt oder indirekt zu schädigen (vgl. Wolter, 2014, S.8).

Analog dazu wird in der Verhaltenswissenschaft der Gewaltbegriff in Anlehnung an den Aggressionsbegriff folgendermaßen definiert: „Gewalt ist Aggression in ihrer extremen und sozial nicht akzeptablen Form“ (Zimbardo & Gerrig, 2003, S.334).

Weiterhin kann man Gewalt auch in direkte und indirekte Gewalt differenzieren. Unter indirekter oder auch struktureller Gewalt versteht man ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse, wie beispielsweise Mangel an Nahrungsmitteln oder medizinischer Versorgung für einen Teil der Bevölkerung (vgl. Nolting, 2015, S. 26). Indirekte Gewalt ist demnach Ergebnis unzureichender gesellschaftlicher Strukturen und Bedingungen. Direkte Gewalt hingegen wird direkt von Menschen ausgeübt. Im Gegensatz zur strukturellen Gewalt, lassen sich in diesem Fall die Konsequenzen ganz klar einzelnen Akteuren zuschreiben. Entsprechend dem vorherrschenden Sprachgebrauchs versteht man unter direkter Gewalt u.a. schwerwiegende Formen ausgelebten Aggressionsverhaltens. Darunter fallen nach Nolting insbesondere körperliche Angriffe und Übergriffe, Waffengebrauch oder auch psychische Misshandlungen und Folter (vgl. ebd.)

Neben der direkten physischen Gewalt, die hier mehrfach bereits als Gewaltform beschrieben wurde, muss aber auch bewusst gemacht werden, dass auch psychische Übergriffe als Gewalt definiert werden müssen. Schwind et al. fassen psychische Gewalt in einer nicht abschließenden Aufzählung wie folgt zusammen:

- Verbale Aggressionen, wie beispielsweise Rufmord, Diskreditierung oder Entwertung
- Drohung mit physischer Gewalt (insb. Zur Nötigung und/oder Erpressung)
- Diskriminierung (Schwind, 1997, S.5)

Eine sinnvolle abschließende Formulierung des Gewaltbegriffs liefert Galtung, der in seiner Definition sowohl die direkte als auch die indirekte Gewalt berücksichtigt und somit den Kreis zur anfangs formulierten WHO- Definition schließt.

„Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihr potentielle Verwirklichung“ (Galtung, 1975, S.9).

3. Jugendgewalt in Deutschland – Statistische Bestandsaufnahme

Um deutlich zu machen, warum die Auseinandersetzung mit den Themen Gewalt und Aggression insbesondere im Kontext der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen von geradezu existentieller Bedeutung ist, möchte ich in diesem Kapitel den Zusammenhang und die Bedeutung der Begriffe gerade im Kontext mit dieser Lebensphase anhand einiger wichtiger statistischer Zahlen beleuchten. Wie sieht die Jugendkriminalitätswahrheit in Deutschland aus fernab medial aufbereiteter Meinungsmache? Das folgende Kapitel bedient sich zweier statistischer Quellen. Zum einen der polizeilichen Kriminalstatistik (im folgenden PKS) und zum anderen Dunkelfeldstudien. Zuerst werden Erkenntnisse der Auswertungen der PKS, welches das sogenannte kriminologische Hellfeld darstellt, vorgestellt.

Das Hellfeld beschreibt einen Ausschnitt des gesamten Kriminalitätsgeschehens, welches offiziell bekannt und durch die Polizei registriert wurde. Zusammengefasst werden diese Zahlen in der jährlich erscheinenden polizeilichen Kriminalstatistik belegt. So lassen sich zwar auf Basis der kriminalistischen Statistik Aussagen über Jugendkriminalität treffen, die Aussagekraft ist aber nur beschränkt, sofern man das kriminologische Dunkelfeld nicht miteinbezieht. Baier betont deshalb auch die Wichtigkeit der Dunkelfeldstudien als Ergänzung zur Kriminalstatistik. Weiterhin kritisiert er, dass es in Deutschland keine kontinuierlich durchgeführten Dunkelfeldbefragung gegeben hat und somit die Entwicklung von Jugendgewalt im Dunkelfeld nicht über viele Jahre hinweg aufgezeichnet wurde (vgl. Baier, 2011, S.36)

3.1. Jugendgewalt in der Polizeilichen Kriminalstatistik

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Anzahl der Tatverdächtigen in der Gesamtbevölkerung im Jahr 2017. SR: Steigungsrate in % im Vergleich zum Vorjahr; Quelle: PKS 2017, S. 57)

Abgebildet ist hier die absolute Anzahl an Personen, die im Jahr 2017 als Tatverdächtige (im folgenden TV) bestimmter Delikte polizeilich registriert wurden. Die Tabelle differenziert nach Alter und Geschlecht.

(1.) Der Anteil der TV unter 14 Jahren liegt hiernach bei 3,5% der insgesamt registrierten Straftaten. Tatverdächtige zwischen 14 und 18 repräsentieren 9% Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren 9,3%. Zusammengefasst bedeutet dies, dass rund 22% aller Straftaten in Deutschland von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden begangen werden.
(2.) Der Anteil weiblicher TV liegt im Bereich Heranwachsende bei 21%, im Bereich Jugendliche bei 26,7% und Kindern bei 29,7%. Betrachtet man die Tatverdächtigen im Alter zwischen 14 bis 16 Jahren, sind weibliche TV mit 31% vertreten. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Anteil männlicher TV in den vorgenannten Bereichen zwischen rund 70 und 80% differiert.

3.2 Altersstruktur der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten

Nachdem in Kapitel 3.1 der Anteil Jugendlicher am gesamten Kriminalitätsspektrum angesehen wurde, wird sich der folgende Abschnitt, dem für diese Arbeit wichtigeren Feld der Gewaltkriminalität widmen. Unter Gewaltkriminalität werden in Deutschland eine Reihe von Delikten zusammengefasst, die in direktem Zusammenhang mit Gewalt und Aggression stehen. Laut PKS werden unter den Begriff der Gewaltkriminalität folgende Delikte zusammengefasst: Mord, Totschlag und Tötung auf Verlangen, Vergewaltigung und sexuelle Nötigung, Raub, Körperverletzung mit Todesfolge, gefährliche und schwere Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Geiselnahme sowie Angriff auf den Luft- und Seeverkehr (PKS 2006, S.16).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Altersstruktur der TV bei Gewaltkriminalität 2017 (Quelle: PKS 2017, S. 33)

Die vorstehende Grafik sagt dementsprechend in Prozenten aus, dass 30% der Tatverdächtigen unter 21 Jahren war. Kinder nehmen in der Statistik eine eher untergeordnete Rolle ein (3,98%). Die Anzahl jugendlicher (12,97%) sowie heranwachsender (13,22%) Tatverdächtiger ist beinahe identisch.

Zur besseren Einordnung dieser Zahlen muss das Verhältnis der o.g. Altersgruppen prozentual an der Gesamtbevölkerung gesehen werden. Hier liegt der Anteil der 6 bis unter 25-Jährigen bei 18%.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Bevölkerungsstand (Quelle: Destatis, Statistisches Bundesamt. URL: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/AltersgruppenFamilienstandZensus.html, Zugriff am 02.02.19)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Kriminalität im Altersverlauf (Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik, zit. n. Heinz 2016).

3.3 Kriminalität im Altersverlauf

Die Abbildung zeigt, dass junge Menschen (unter 21 Jahren) sehr viel häufiger polizeilich erfasst werden, als Erwachsene. Weiterhin ist erkenntlich, dass ähnlich wie in Abbildung 1, der Anteil männlicher Tatverdächtiger deutlich überwiegt.

3.4 Resümee Hellfeldanalyse

Aus den in Kapitel 3 dargestellten statistischen Auswertungen lassen sich folgende Erkenntnisse zur Jugendkriminalität zusammenfassen:

(1.) In der aktuellsten Kriminalstatistik sind unter 21-jährige insgesamt mit 21,80% vertreten. Bezogen auf Gewaltkriminalitätsdelikte beläuft sich der Anteil der TV auf 30%. Diese Überrepräsentation einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe erklärt Wolter dadurch, dass jugendtypische Delikte einer größeren Entdeckungswahrscheinlichkeit unterliegen und folglich die Täter häufiger polizeilich erfasst werden. Jugendlichendelinquenz geschieht häufig spontan und aus dem Affekt heraus und findet oft im öffentlichen Raum statt und umfasst in größerem Umfang Bagatelldelikte, wie Diebstahl, Schwarzfahren, Sachbeschädigung oder einfache Körperverletzung, so dass das Risiko einer Anzeige in diesen Deliktbereichen erheblich höher ausfällt (vgl. Wolter, 2014, S.18f)
(2.) Die Entwicklung der TVBZ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Von 1998 bis 2007 gab es einen Anstieg sowohl im Bereich der Jugendlichen als auch im Bereich der Heranwachsenden. Ab 2017 ist die Entwicklung jedoch wieder rückläufig. Bei Kindern sowie bei Erwachsenen befindet sich die TVBZ seit 1998 auf einem konstant niedrigen Niveau. Die Entwicklung der einzelnen Altersspannen folgen damit dem Gesamttrend. Die Rückläufigkeit spricht an dieser Stelle bereits dafür, dass die gesellschaftliche Annahme, Jugendgewalt würde mit immer mehr Brutalität ausgeführt, durch die Daten nicht gestützt werden kann.

[...]

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Details

Title
Pädagogischer Umgang mit aggressivem Verhalten bei Jugendlichen. Umgang in der Kinder- und Jugendhilfe und Präventionsmaßnahmen
College
University of Kassel
Grade
2,0
Author
Year
2019
Pages
43
Catalog Number
V918489
ISBN (eBook)
9783346233318
ISBN (Book)
9783346233325
Language
German
Keywords
Pädagogischer, Umgang, agressives Verhalten, Verhalten, Pädagogischer Umgang, Jugendlicher, Klienten, Klientinnen, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendhilfe, Humanwissenschaften, Bachelor of Arts, B.A., Bachelor, Arbeit, Gewalt, Aggression, Aggressivität, Gewaltbegriff, Dunkelfeldanalyse, Kriminalität, Altersstruktur, Jugendgewalt, Sozialtheorien, Entwicklungspsychologie, Entwicklungstheorien, Psychologie, Theorien, Trieb- und Instinktheorien, Frustrations- Aggressions- Hypothese, Dollard, Bandura, Lernen am Modell, Ärger, Frustration, Konflikte, Grundkompetenzen, Interventionsberechtigung, Selbstmanagment, Präventionsmaßnahmen, Prävention, Soziales Kompetenztraining
Quote paper
Luka Löwe-Stura (Author), 2019, Pädagogischer Umgang mit aggressivem Verhalten bei Jugendlichen. Umgang in der Kinder- und Jugendhilfe und Präventionsmaßnahmen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/918489

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