Freiherr von Knigge und seine Bedeutung heute

Eine Retrospektive


Ensayo, 2008

39 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Der Lebensweg und seine familiären Wurzeln

Das höfische Leben

Geheimbünde

Der freie Schriftsteller

Die Bremer Zeit

Seine Werke

Der historische Hintergrund und der Niedergang des Adels

Die Aufklärung

Der Idealismus des 18. Jahrhunderts

Die protestantische Ethik

Persönlichkeitsentwicklung als Menschheitsziel

Erziehung - die Quintessenz aller Gedanken

Knigges Kommunikationsmodell

Quellenverzeichnis

Einleitung

Wir leben in einer Zeit der verschärften Widersprüche, deren Ursachen im expotentiellen Zuwachs der Population „Mensch“ und in seinem Verhalten gegenüber der Natur, der Tierwelt und seiner eigenen Spezies zu suchen sind. Den vorläufigen Kulminationspunkt der menschlichen Gesellschaften nennt man „Globalisierung“. Darunter versteht man einen weltweit wirksamen Mechanismus, der alles unter die Kontrolle weniger Personen stellt und die Menschheit in einem noch nie da gewesenem Ausmaß kontrolliert und reglementiert. Genau unter diesen Bedingungen stellte sich die vorgelegte Retrospektive die Frage nach den wirklichen Werten einer menschlichen Gesellschaft neu und spannt hierbei den Bogen von einem Bahnbrecher des Spätfeudalismus, nämlich Knigge, bis zu uns ins Heute. Nicht ohne Grund wird das Thema „Werte einer Gesellschaft“ verstärkt in allen politischen Gremien diskutiert, wenn auch ohne wesentliche praktische Veränderungen. Zu diesem Zustand, der dem eines sinkenden Bootes voller unwissender Narren gleicht, trug die über die Jahrhunderte alte Verfolgung derjenigen bei, die im Leben eines Menschen mehr sahen, als einen erbarmungslosen Beherrscher und Plünderer der Schätze dieses Planeten. Das zentrale Problem der derzeit formierten Gesellschaften ist dasjenige, dass bisher keine Gesellschaftsformation auch nur annähernd ein optimales Ergebnis für alle Lebewesen zu schaffen im Stande war. Die Gründe liegen eindeutig in der materialistischen Ausrichtung der Gesellschaften und in der Abnahme wirklicher Religion. Was wir heute weltweit sehen und erfahren ist eine heuchlerische Pflege heidnischer, also traditioneller Riten, die schon Jesus Christus als für die Menschen zum Schaden verwarf. In diesem Kontext wird sich die vorlegte Arbeit mit dem Für und Wider in unserer Zeit befassen und sich anhand der ethischen Lehren eines Knigge, insbesondere die zur Ausübung einer sinnreichen Kommunikation förderlichen Aspekte befassen. In unserem Land hat leider, nach dem Ende des zweiten Weltkrieges der Einfluss der amerikanischen (Un) Kultur nicht nur die Sprachgewohnheiten aller Volksschichten verändert, sondern dieser Einfluss hat die Sitten und Gebräuche der Kommunikation erheblich zum Nachteil derselben verändert. Knigge, die Gebrüder Grimm, Schiller und Dutzende reformistische Köpfe mehr wären wohl ziemlich betrübt, wenn sie ihre Bemühungen um die Sprache und die Sitten in ihrem geliebten Land heute selbst in dieser Form erfahren müssten. Aber lassen wir uns nicht von der Vergangenheit und ihrer beschaulichen Zeit zu sehr in die Betrübnis einfangen, dazu lässt uns die schnelllebige Jetzt – Zeit, in der die Menschheit im Eilzugtempo ihrer Erlösung zurast, keine andere Wahl. Wir bestaunen in der Fülle des Überangebotes an nutzlosen Dingen und dem Anwachsen der Zahl an Millionären und Glücksrittern (allein in Deutschland 755.000 und 11 Milliardäre), dem gleichzeitigen Verarmungsprozess von Milliarden anderen Menschen, welchen die Ungleichung der Fehlverteilung in dieser Welt des Irrsinns uns folgerichtig präsentiert. Ebenso vermerken wir kopfschüttelnd, wie sich eine zivilisiert anmutende Gesellschaft mit dem Bau, dem Abriss und dem Neubau von Wolkenkratzern, der Produktion von Milliarden von Autos, ihrer Verschrottung und dem Bau neuer Autos für eine sinnmachende Notwendigkeit ihrer Existenz in diesem Universum hält. Ein Paradoxon, welches auf seine Auslösung wartet. Das ist der große Rahmen, in welchen sich eine Retrospektive und Reflexion über Knigges Wirken bewegen muss. Alles andere wäre Selbstbetrug und nicht das Papier wert auf dem es geschrieben stände. Alles Leben unterliegt einem ständigen Wandel und niemand kann dies im eigentlichen Sinne aufhalten. Wir erfahren die Änderungen teilweise bewusst und teilweise unbewusst. Die Gewöhnung macht vieles unbewusst, gleichwohl die gemachten Erfahrungen nicht verschwunden sind, sondern sie wurden nur ins Unterbewusste eingesperrt. Bei der Problemstellung zu dieser Arbeit muss es, wie bei jeder Problemstellung mindestens zwei Dinge geben, deren sich der Verfasser bewusst geworden sein muss. Erstens, er muss ein Problem erkannt haben und zweitens, er muss eine Lösung des Problems vorlegen wollen. Ein Problem zu erkennen setzt eine Konfrontation damit voraus. Worin liegt nun dieses Problem, also die Essenz dieser Arbeit? Wenn man es kurz fassen möchte, so liegt diese Essenz darin einen Soll – Ist – Vergleich der sozialen Kompetenz aus der Sicht eines Knigge im 18. Jahrhundert und dem anzutreffenden Zustand im Heute im zweiten Jahrtausend gegenüberzustellen und eine Bewertung vorzunehmen. Diese Bewertung erfolgt nach umfangreichen Untersuchungen des von uns sogenannten Kniggeschen Modells und dessen Auswirkungen in unserer Zeit. Hat ein solches Sittenmodell von vor zweihundert Jahren überhaupt noch eine Chance genutzt zu werden? Wenn wir uns die Lehren z. B. eines Jesus Christus ansehen, so können wir den Bestand dieser Lehren vollkommen bejahen, denn sie verfügen über zwei Dinge; sie sind wahr und beziehen alle Dinge unseres Seins in einen Verhaltenskodex ein. Inwieweit dieser Verhaltencodex eingehalten wird, ist am Verfall der sogenannten gesellschaftlichen Werteskala ablesbar. Allerdings offenbart uns dieser Ausdruck nicht exakt die Ursache von bestimmten Verhaltensmustern, denn besser wäre es, wenn man von einer menschlichen Werteskala sprechen würde, wobei sich jeder angesprochen fühlen würde. So verschiebt man das Problem auf eine gesichtslose Masse die es zulässt, dass jeder stets auf den anderen zeigen kann. Dies ist das eigentliche Grundproblem das keine Lösung zulässt, solange man nicht die Werte am Einzelindividuum festmacht. Die vorgelegte Arbeit möchte dazu einen Beitrag leisten und für etwas mehr Transparenz und Verständnis für die Ursachen, warum was in der Gesellschaft nicht funktioniert, sorgen. Dabei ist es unerlässlich die unterschiedlichsten Faktoren unserer Zeit, die Einfluss auf die Funktion nehmen, näher zu beschreiben. Wie gestaltet sich in unserer Zeit die Kommunikation in den Gesellschaften und zwischen den einzelnen Individuen? Was bewirken soziale Kompetenzen und ist dies die wirkliche Basis für sachgerechte Entscheidungen, welche das Leben des einzelnen in seiner Qualität nachhaltig verbessern? Die vorgelegte Arbeit verfolgt dabei mehrere Ziele, welche aber in ein einziges Hauptziel münden: sie möchte ein möglichst umfassendes Bild über die Wurzeln und die Anwendung der Kommunikation, als Mittel und Ausdruck sozialer Kompetenz vermitteln. Das geschieht im wesentlichen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Leben und Wirken des Reformers, Freiherr v. Knigge und dem aufzeigen der gesellschaftlichen Bedingungen und Widersprüche seiner Zeit, die diesen erst zu seinen sozialen Anschauungen geführt haben. Im historischen Wechselspiel seines bewegten Lebens und von gesellschaftlichen Enttäuschungen nicht verschont gebliebenen Adligen, entsteht so der Hintergrund oder die Basis für den in der Arbeit später folgenden Vergleich des Fortwirkens dieser Ideen und Erkenntnisse bis in unsere Zeit.

Dabei kann es nicht ausbleiben, dass in dieser Arbeit lediglich wenige Facetten unseres Seins beleuchtet werden können und vieles muss, bedingt durch die Begrenzungen die das Leben in Zeit und Raum beschränkt, im Dunkel bleiben. Dennoch ist der Autor dieser Arbeit der Auffassung das Thema in angemessener Art und Weise behandelt zu haben, so dass daraus nicht nur eine trockene akademische Arbeit entstand, sondern mehr eine Richtschnur und ein wegweisendes Licht für unsere globale Zeit der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit. Seine familiären Wurzeln, sein Leben an den Höfen, die Mitgliedschaft in verschiedenen Geheimbünden und seine Auflehnung gegen das gesellschaftliche Korsett, dass etwas vortäuscht, das er in seinem beruflichen Leben jedoch so nicht vorfinden konnte. Diese Diskrepanz machte ihn schließlich zum schonungslosen Kritiker der gesellschaftlichen Bedingungen und brachte ihn auch in eine menschliche Isolation. Diese Situationen treffen wir natürlich auch in unseren heutigen Gesellschaften in verstärkten Maße an, was uns zeigt, dass eine sogenannte „Zivilisierung“ nicht zwangsläufig mit einer verbesserten Einsicht in die Welt einhergehen muss. Was wir heute Zivilisation nennen ist weiter nichts, als die Umschreibung der materialistischen Verhältnisse die im eigentlichen Sinne lediglich den „technischen Fortschritt“ meinen. Ethisch und moralisch sind gerade diese Gesellschaften auf dem Rückschritt in die Barbarei begriffen. Davon zeugen die letzten 80 Jahre der verheerenden Kriege mit 80 Mio. Toten. Das Ende dieser Entwicklung kann sich jeder Gesellschaft – Analyst selbst ausmalen, wenn er dazu fähig ist. Im fortschreiten der Arbeit war es selbstverständlich und wichtig den historischen Hintergrund, unter welchen sich die jeweiligen Prozesse entwickelten und zum Ausbruch kamen, darzustellen. Die französische Revolution gab dem bereits degenerierten und moralisch verkommenen Adel in ganz Europa faktisch den Gnadenstoß. Im Zeitraum vom 1789 bis zur Machtübernahme Napoleons erlebten wir die Schnittstelle des Niederganges des Adels und das aufkeimen eines freien Bürgertums in Frankreich und in Europa. Obwohl der Freiherr v. Knigge nur 44 Jahre alt wurde (1752 – 1796) prägte doch gerade ihn, den ohnehin „aufrührerischen„ Charakter in seinen reifen Mannesjahren dieses weltgeschichtliche Ereignis noch mehr, als es seine Veranlagung gegen allen Hofmief bereits in seinen Schriften und seinem handeln ausdrückte, wie z. B. das ablegen seines Adelstitels aufzeigen. Wir sehen in dieser Phase der Ausprägung seiner Persönlichkeit das suchen nach Alternativen, die Flucht aus der seichten Gewohnheit des Alltags in „Geheimbünde“, mit dem Ziel diese abgelebte Welt förderlich zu verändern. Diese, seine radikalen Versuche scheiterten natürlich, da es innerhalb eines jeden Menschen – Konglomerats immer eine Mehrzahl von abwartenden Individuen gab und gibt, die der notwendigen Handlung stets in den Arm fallen. So sehen wir Knigge nach einer gewissen Zeit, sich wieder enttäuscht aus der „Geheimbünderei“ zurückzuziehen. Infolge diese prägenden Veränderungen der Umwelt Knigges spielten die Philosophen der sogenannten Aufklärung, des Idealismus und der Ethik für die akademische Theorie des Seins sicher eine fulminante Rolle, jedoch das Leben der einfachen Volksschichten änderte sich durch das hinausschleudern in die Gesellschaft an „Sollbeschreibungen“ kaum, solange nicht die Machtverhältnisse - und diese waren und sind nun einmal an die Besitzverhältnisse gebunden, geändert wurden. Unter diesem Aspekt des Erkennens von Defiziten aller möglichen Gesellschaftsmodelle versuchte Knigge mit seinen Kommunikationsmodellen (wie wir diese heute bezeichnen) Einfluss und die Erziehung und damit auf die Gesellschaft zu nehmen. Letztendlich sind von seinen revolutionären Ideen lediglich die, von seiner Schwester und deren Ehemann nach seinem Tode veränderten „Tischsitten und Anstandsformeln“ übrig geblieben. Alle anderen aufrührerischen und kritischen Werke Knigges sind für die Welt in den Keller des Vergessens eingelagert worden und dienen höchstens noch den Historikern und Germanisten als unterhaltsame Auflockerung ihres trockenen Wissenszweiges.

Der Lebensweg und seine familiären Wurzeln

Adolph Franz Friedrich Ludwig Freiherr von Knigge wurde am 16. Oktober 1752 in Bredenbeck bei Hannover geboren. Sein Vater war der Hofgerichtsrat Philipp Carl Freiherr von Knigge, seine Mutter Louise Wilhelmine, geborene Knigge. Er wuchs in Bredenbeck auf, wo er von Privatlehrern unterrichtet wurde. Im Alter von zehn Jahren verlor Adolph seine Mutter und drei Jahre später, 1766, den Vater. Die Eltern hinterließen ihm Schulden von über 100.000 Reichstalern, die durch Abgabe der Güter ausgeglichen wurden. Dem Waisen kam eine Rente zu. 1766 immatrikulierte Knigge sich an der Universität Göttingen zum Jurastudium. Er wurde zunächst Assessor bei der Kriegs- und Domänenkammer, dann Hofjunker. 1772 zog Knigge nach Kassel und tritt der dortigen Freimaurerloge »Zum gekrönten Löwen« bei. Er heiratete Henriette von Baumbach. 1774 übernahm er die Leitung der hessischen Tabakfabrik. Bald darauf zog das Paar auf das Gut von Henriettes Mutter, wo Knigge sein erstes Theaterstück schrieb. 1776 wurde er auf Goethes Vorschlag von Herzog Carl August von Sachsen – Weimar zum Kammerherrn ernannt. Im Folgejahr gründete Knigge in Hanau ein Liebhabertheater. Von 1779 bis 1796 schrieb er Rezensionen für die von Friedrich Nicolai herausgegebene »Allgemeine deutsche Bibliothek«. 1780 zog Knigge nach Frankfurt und trat dort dem Illuminaten – Orden bei. Er gewann unter dem Ordensgründer Adam Weishaupt großen Einfluss und schaffte es, den Orden in Norddeutschland zu verbreiten. 1783 zog Knigge nach Heidelberg. In Mannheim traf er bei einer Aufführung von "Kabale und Liebe" Friedrich Schiller. Nach einem Aufenthalt in Hannover zog Knigge 1790 nach Bremen um, wo er zum Oberhauptmann ernannt wurde. Wegen seiner Sympathie für die französische Revolution war er Schikanen von der Regierung ausgesetzt. Er reagierte 1795 mit dem anonymen »Manifest einer nicht geheimen, sondern sehr öffentlichen Verbindung echter Freunde der Wahrheit«, das in Wien heraus kam. Am 6. Mai 1796 starb Knigge in Bremen. Im folgenden wird noch näher auf die Details des Lebens von Adolph Freiherr von Knigge eingegangen, diese aus verschiedenen Richtungen beleuchtet um so ein besseres Bild des Ganzen zu erhalten. Er war das zweite Kind von Philipp Carl Ernst Freiherr Knigge und Louise Wilhelmine, die ebenfalls eine geborene Freiin Knigge war. Adolphs Eltern waren miteinander verwandt, so dass Adolphs Mutter zugleich seine Cousine 2. Grades, sein Vater zugleich sein Onkel war, für damalige Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches. Sein Vater Philipp Carl war promovierter Jurist und Hofgerichtsrat, kurfürstlich Hannoverscher Oberhauptmann und als Besitzer der Rittergüter Bredenbeck und Pattensen ein Mitglied der Calenbergischen Ritterschaft. Das Rittergut Bredenbeck, auf welchem Knigge geboren ward, befand sich bereits seit Anfang des 14. Jahrhunderts im Besitz der Familie. Der Urgroßvater Adolphs, Friedrich Ulrich von Knigge, tat sich als Kaiserlicher Obrist zu Ross sowie Kurfürstlich kölnischer und Kurfürstlich sächsischer Kriegsrat in den Türkenkriegen hervor und wurde hierfür im Jahr 1665 von Kaiser Leopold zusammen mit seinem Bruder Jobst Hilmar in den Reichs –und erbländischen, österreichischen Freiherrenstand erhoben. Die Mutter Knigges starb am 8. Juli mit nur 33 Jahren. Sie wurde später als „häuslich, sparsam, sanft und verständig“ charakterisiert. Knigge selbst schrieb über seine frühe Kindheit: „Ich war in der ersten Erziehung ein wenig verzärtelt und durch große Aufmerksamkeit , deren man meine kleine Person früh gewürdigt hatte, gewöhnt worden, sehr viel Rücksichten von anderen Leuten zu fordern“. Knigge wurde in das Erziehungsinstitut des hannoverschen Kammersekretärs Augspurg gegeben. Er wurde von Johann August Schlegel konfirmiert, dem Vater der Brüder Johann August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Am 11. Oktober, kurz vor Knigges 14. Geburtstag, starb auch der Vater im Alter von 43 Jahren. Dieser hatte von seinem Sohn offenbar keine besonders hohe Meinung, jedenfalls schrieb die Tochter Adolphs in ihrer 1823 erschienenen kurzen Biographie über ihren Vater, dass „der alte Knigge sich überhaupt wenig um die Erziehung des Sohnes, den er für einen Dummkopf hielt, bekümmerte“. Ganz so schlecht konnte die frühe Erziehung Knigges in seinem Elternhaus aber nicht gewesen sein, vor allem verschaffte ihm eine frühe und nachhaltig wirkende Begegnung mit der Freimaurerei, der sein Vater anhing, das notwendige Wissen. Der Vater war überhaupt offenbar eine höchst originelle Gestalt, zugleich fortschrittlich – er ließ sich ohne weiteres von bürgerlichen Professoren die Doktorwürde verleihen – und altmodisch, in seiner Lebensweise offenbar noch stark der barocken Prachtentfaltung verhaftet. Die große Lebensfreude war offenbar auch der Grund, warum Adolph nicht in den Genuss seines Erbes kommen konnte. Philipp Carl Ernst hinterließ seinem Sohn neben der goldenen Uhr und dem Schreibbüro rund 130.000 Reichstaler Schulden. Die Gläubiger des Vaters setzten durch, dass das Rittergut Bredenbeck unter Zwangsverwaltung kommt – eine Zwangsversteigerung oder ähnliches war nicht möglich, da das Gut zum damaligen Zeitpunkt nicht persönliches Eigentum des Gutsherrn, sondern als Lehen an die Familie gebunden war. Sequester wird der hannoversche Anwalt Siegmund Christian Vogel, mit welchem Knigge zeitlebens erbitterte Kämpfe und Prozesse um die Verwaltung führte. Aus den Erträgen seiner Güter erhielt Knigge eine jährliche Apanage von 500 Reichstalern. Mit dieser für einen jungen Mann seines Standes mageren finanziellen Ausstattung blieb er bei seinem Erzieher Augspurg, zu seinen Vormündern wurden zwei hannoversche Geheimräte bestellt. Am 23. Oktober 1769 immatrikulierte sich Knigge an der Universität Göttingen für ein Studium der Rechtswissenschaften. Er wohnte im Hause des Verlegers Johann Christian Dieterich und war so ein Hausgenosse von Georg Christoph Lichtenberg. Diese Begegnung hatte im Werk Lichtenbergs keine Spuren hinterlassen, was daran liegen könnte, dass dieser 10 Jahre älter war als Knigge und schon kurz nach dessen Einzug an der Universität Göttingen eine außerordentliche Professur erhielt. Knigge besuchte die Schwester seiner Mutter, Juliane Ernestine v. Althaus, die mit dem Landgräflich hessen – kasselischen Geheimrat und Minister Moritz Wilhelm von Althaus verheiratet war. Durch ihre Intervention gelang es, Knigge eine bezahlte und standesgemäße Stellung zu erlangen: am 19. März 1771 ernannte Landgraf Friedrich II. von Hessen – Kassel ihn zum Hofjunker und kurz darauf zum Assessor der Kriegs- und Domänenkammer, was man als das Wirtschaftsministerium der Landgrafschaft bezeichnen kann. Zum Abschluss seines Studiums erhielt Knigge noch ein Jahr Urlaub, so dass er wieder nach Göttingen zurückkehrte und sich vor allem wirtschaftswissenschaftlichen Themen widmete.[1]

Das höfische Leben

Das Leben des Freiherrn von Knigge wurde in seinen wichtigsten Stationen dargestellt, sodass im folgenden mehr auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und das höfische Leben eingegangen wird, in welches Knigge eingebunden war. Um das höfische Leben besser verstehen zu können, ist der nachfolgende Teil geradezu prädestiniert. Die berühmteste Schilderung höfischen Verhaltens bezieht sich auf einen der Renaissancehöfe Italiens, den Hof von Urbino. Dort spielt die Handlung des Buches von Baldesar Castiglione über den Hofmann, Il Cortegiano, das im Jahre 1528 erschien. Castiglione[2] schildert vier gesellige Abende, an denen in nicht allzu großer Runde über ein bestimmtes Thema gesprochen werden soll. Es ist ein Gesellschaftsspiel oder für den Leser eine Art höfische Talkshow. Das Thema, auf das sich die Anwesenden einigen, ist die Frage nach dem vollendeten Hofmann. Es ist eine amüsante Show. Es wird oft und gern gelacht bei diesem Spiel. Das kommt zum Beispiel dort zum Ausdruck, wo eine der Hofdamen, Signora Emilia, die Aufgabe erhält, denjenigen auszuwählen, der mit der Schilderung eines idealen Hofmannes beginnen soll: „Signora Emilia sagte lachend zum Grafen Ludovico da Canossa: “Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, werdet also Ihr, Graf, derjenige sein, der diese Aufgabe in der Weise auszuführen hat, wie Signor Federico es gesagt hat; und zwar nicht, weil Ihr uns ein so hinreichend guter Hofmann zu sein scheint, der weiß, was einem solchen angemessen ist, sondern weil das Spiel, wenn Ihr, wie wir von Euch erwarten, von allem das Gegenteil sagt, um so schöner sein wird... Denn wenn ein anderer, der mehr als Ihr davon verstünde, diese Aufgabe hätte, könnte man ihm in nichts widersprechen, da er ja die Wahrheit sagte; und so würde das Spiel langweilig werden.“ Der Graf antwortete sofort: „Signora, die Gefahr, dass dem Vertreter der Wahrheit der Widerspruch fehlte, würde nicht bestehen, da Ihr ja anwesend seid;“ und nachdem man über diese Antwort lebhaft gelacht hatte, fuhr er fort...etc.“ So geht es zu am Hofe von Urbino. Man schmeichelt, man lacht, man scherzt, man spottet, man fordert den anderen heraus. Die unverblümte Wahrheit sei langweilig, sagt Signora Emilia, amüsant werde sie erst im Zusammenspiel mit ihrem Gegenteil. Was ist das Gegenteil der Wahrheit? Die Lüge. Ein Leben ohne Lüge wäre den Hofleuten zu eintönig. Das wird noch deutlicher am zweiten Abend, wenn Signore Federico Fregoso so etwas wie ein Plädoyer für die Lüge hält: „Denn da das Böse dem Guten und das Gute dem Bösen entgegengesetzt ist, ist es gleichsam notwendig, dass das eine durch den Gegensatz und ein gewisses Gleichgewicht das andere stützt und stärkt, und wenn das eine abnimmt oder wächst, nimmt auch das andere ab oder zu, weil nichts ohne seinen Gegensatz besteht. Wer weiß nicht, dass es in der Welt nicht die Gerechtigkeit gäbe, wenn kein Unrecht wäre? Und nicht die Großmut ohne kleinmütige Herzen? Die Enthaltsamkeit ohne die Unzüchtigkeit? Die Gesundheit ohne die Krankheit? Und eben auch: Die Wahrheit ohne die Lüge? Das Verhältnis von Wahrheit und Lüge, ihre gegenseitige Stützung, scheint so etwas wie eine Basis anzugeben, die, die Verhaltensform der Hofleute fundiert. Ohne die bewusste Abweichung von der Wahrheit kann kein Scherz gelingen. „Wie dagegen die schönen, gut angelegten Lügen zum Lachen anregen, wisst Ihr alle.“ Und da knapp die Hälfte jenes Abends dem Thema des Lachens, Scherzens und Spottens gewidmet ist, kann man ermessen, wie sehr die Lüge als Ferment des geselligen Lebens willkommen war. Sie war nicht nur erlaubt, sie war erwünscht; denn ohne sie gab es die Wahrheit nicht. Das gilt auch noch in einem höheren Sinne: Ziel des Hofmannes war es, den Fürsten, dem er diente, zum guten Regieren zu veranlassen. Wollte er ihn gut beraten, dann durfte er sich nicht scheuen, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber die Wahrheit war nicht immer angenehm für den Fürsten, und wer sie ihm sagte, konnte leicht in Ungnade fallen. So kam es für den Hofmann darauf an, sich selbst so angenehm zu machen, dass er es sich erlauben konnte, mit der unangenehmen Wahrheit herauszurücken. Dazu war die Vielfalt seiner höfischen Künste, sein Geschick im Waffenhandwerk, in Gesang und Spiel, sein Witz und Wissen letztlich da. Durch schöne Künste und amüsante Lügen, durch Anmut und Lässigkeit - grazia und sprezzatura - sollte er den Fürsten gewissermaßen zur Wahrheit verführen; ganz analog zur neoplatonischen Kunsttheorie, nach der die Schönheit eines Kunstwerks keinen anderen Sinn hatte, als uns der Wahrheit näher zu bringen. Der Hofmann war gewissermaßen ein Verhaltenskünstler, einer, der aus sich selbst ein Kunstwerk machte, und seine schönen Lügen dienten letztlich doch der Wahrheit. Zweihundert Jahre später wird es einem jungen Adligen, dem eine Karriere bei Hofe weit offen steht, nicht mehr gelingen, den Spott und Scherz, die Lüge und die Ironie, das ganze Maskenspiel bei Hofe, das sich inzwischen freilich auch verändert hatte, mitzumachen. Er legt seinen Adelstitel ab, wird ein Bürgerlicher und schreibt am Ende seines kurzen Lebens ein Buch, das auf das ganze 19. Jahrhundert Einfluss haben wird. Ein Buch Über den Umgang mit Menschen. Der Name des Autors ist Adolph Freiherr von Knigge, oder, wie er sich später selber nannte: der freie Herr Knigge. Castiglione kam nach dem Urteil seiner Zeitgenossen dem Ideal des Hofmanns selbst sehr nahe. Er war ein erfolgreicher und geehrter Mann. Knigge war, nach eigener Aussage, eine gescheiterte Existenz. Er hatte in seinem Leben so ziemlich alles falsch gemacht - und eben deshalb fühlt er sich berufen, der Jugend zu sagen, wie sie es besser machen soll. Denn: “Habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben - desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat?“ Übrigens war Knigge ein Bewunderer Castigliones. Doch die Zeiten einer europaweit einheitlichen höfischen Kultur waren vorbei. Es kam darauf an sich mit allen Menschen zu verständigen, mit den Menschen verschiedener Schichten, verschiedener Regionen, verschiedener Berufe, verschiedener Religionen. Mit dieser Mannigfaltigkeit musste Knigge fertig werden, zumal sie, wie er schmerzlich empfand, in Deutschland soviel verwirrender war als anderswo. Die Nation war so zersplittert, dass es sie nur in den Köpfen gab. Das Buch „Über den Umgang mit Menschen“ hatte unter anderem auch die Absicht, durch Vereinfachung und Vereinheitlichung des Verhaltens an der nationalen Einheit mitzuwirken. Knigge stand dabei in einer Reihe mit den großen Aufklärern der deutschen Klassik, mit Lessing, Schiller und mit Kant. Der Imperativ ist seine Äußerungsform: „Sei selbständig!“, „Sei pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in deinem Berufe!“, „Interessiere dich für Andere!“, „Lerne Widerspruch ertragen!“, „Sei, was du bist, immer ganz und immer derselbe!“, „Von deinen Grundsätzen gehe nie ab, solange du sie als richtig anerkennst!“, „Habe immer ein gutes Gewissen!“ , „Sei lieber das kleinste Lämpchen, das einen dunklen Winkel mit eigenem Licht erleuchtet, als ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!“ Was sich hier unter der Knute des Imperativs aufbaute, war ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein. Knigge wertete das kleine Licht, mit dem der Bürger seinen dunklen Winkel erleuchtete, auf und erleichterte ihm den gewöhnlich unfreiwilligen Verzicht darauf, bei Hofe die Rolle eines „großen Mondes“ zu spielen. Wovon aber nährte sich das kleine Licht? Was leuchtete im dunklen Winkel? Das Licht der Tugend. Es war das gute Gewissen, es waren Prinzipientreue und Verlässlichkeit des Bürgers, der zwar nur ein kleiner Mann war, aber dafür ganz er selbst. Es waren Aufrichtigkeit und Liebe zur Wahrheit: „Keine Regel ist so allgemein, keine so heilig zu halten,..., als die: unverbrüchlich, auch in den geringsten Kleinigkeiten, Wort zu halten, seiner Zusage treu, und stets wahrhaftig zu sein in seinen Reden... Es gibt keine Notlügen; noch nie ist eine Unwahrheit gesprochen worden, die nicht früh oder spät nachteilige Folgen für jedermann gehabt hätte.“ Es gibt keine Notlügen - so steht es auch bei Kant. Es gibt nicht einmal die Lüge aus Barmherzigkeit: „Ich saß einst an einer fremden Tafel, zwischen einer hübschen verständigen jungen Dame und einem kleinen, buckligen, garstigen Fräulein von etwa vierzig Jahren. Ich beging die Unhöflichkeit, die ganze Mahlzeit hindurch, mich nur mit jener zu unterhalten, zu dieser hingegen kein Wort zu reden. Beim Nachtische erst erinnerte ich mich meiner Unart; und nun machte ich den Fehler gegen die Höflichkeit durch einen anderen gegen die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit gut. Ich wendete mich zu ihr und redete von einer Begebenheit, die vor zwanzig Jahren vorangegangen war. Sie wusste nichts davon. „Es ist kein Wunder“, sagte ich, „Sie waren damals noch ein Kind.“ Das kleine Wesen freute sich innigst darüber, dass ich sie für so jung hielte, und dies einzige Wort erwarb mir ihre günstige Meinung...“ Und damit war der Abend gerettet, möchte man sagen. Das Gespräch mit der hübschen, jungen Dame war angenehm, und die garstige Alte ging trotzdem beglückt nach Hause. Aber nein, dieses auf die charmante Lüge gegründete Glück darf nicht sein. Knigge ist - wie übrigens sein ganzes Buch - voller Reue: „Sie hätte mich dieser niedrigen Schmeichelei wegen verachten sollen! Wie leicht hätte ich einen Gegenstand zu einem Gespräche mit ihr finden können, das ihr auf irgendeine Weise interessant gewesen wäre! Und es war meine Pflicht, daran zu denken und ihr nicht einen ganzen Abend lang die Tür der Konversation zu verschließen. Jene elende Schmeichelei hingegen war eine unwürdige Art, den ersten Fehler zu verbessern.“ Von einer anderen Art, den Fehler zu verbessern ist hernach jedoch nicht mehr die Rede. Vielleicht gab es keine würdige Art, vielleicht gab es nur die Möglichkeit, ihn gar nicht erst zu machen. Am sichersten wäre er jedenfalls vermieden worden, wenn sowohl Knigge als auch die Garstige gar nicht erst erschienen wären. „Wer sich nicht in Gesellschaft begibt, der braucht weder zu schmeicheln noch zu heucheln, noch kann er einen anderen durch schroffes, wenngleich ehrliches Verhalten verletzen. Den besten Umgang mit den Menschen pflegt man, wenn man sie umgeht.“ Das galt ausdrücklich für die Gesellschaft bei Hofe - und so hatten die Zeitgenossen ihren Knigge auch verstanden. Doch die verborgene Botschaft lautete: wenn du ehrlich und wahrhaftig bleiben willst, dann gehst du am besten gar nicht in Gesellschaft, es sei denn in die Gesellschaft von Unbekannten als Fremder in einer großen Stadt: „Um angenehm zu leben, muss man fast immer ein Fremder unter den Leuten bleiben. Dann wird man geschont, geehrt, aufgesucht. Deswegen ist das Leben in großen Städten so schön, wo man alle Tage andre Menschen sehen kann. Für einen Mann, der sonst nicht schüchtern ist, ist es ein Vergnügen, unter Unbekannten zu sitzen. Da hört man, was man sonst nicht hören würde, man wird nicht gehütet und kann in der Stille beobachten.“ Das also käme dabei heraus, wenn man es so rigide mit der Wahrheit hielte, dass alle Lügen, auch die schönen, aus der Welt verbannt wären. Der Hofmann Castiglione, der mit der Lüge leben konnte und sie als Gegenpol der Wahrheit guthieß, führte uns eine vergnügliche Abendgesellschaft vor, in der jeder den anderen respektierte und doch zugleich verspottete, neckte und sonst wie rhetorisch herausforderte. Der freie Herr Knigge ließ, wie alle Aufklärer, das Wahrheitspathos wuchern und hatte am Ende, statt einer wahren Gesellschaft nichts als eine ungesellige Wahrheit. „Sei selbständig: was kümmert dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn du tust, was du sollst? Und was ist deine ganze Garderobe von äußern Tugenden wert, wenn du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaft damit Staat zu machen?“ „Was kümmert dich das Urteil der Welt, wenn du tust, was du sollst? - Knigges Form der Äußerung war der Imperativ. Der Inhalt dieser Form hieß: Pflicht.[3]

[...]


[1] Vgl.: http://www.knigge.de/knigge-600.htm

[2] Vgl.: http://www.jens-johler.de/essay/knigge.htm

[3] Vgl.: http://www.palehorse.de/illuminati/illuminati.html

Final del extracto de 39 páginas

Detalles

Título
Freiherr von Knigge und seine Bedeutung heute
Subtítulo
Eine Retrospektive
Autor
Año
2008
Páginas
39
No. de catálogo
V92957
ISBN (Ebook)
9783640167951
ISBN (Libro)
9783640168163
Tamaño de fichero
621 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Freiherr, Knigge, Bedeutung, Benimmregeln, Aufrührer, Weishaupt, Freimaurer, Goethe, Französiche Revolution, Adelstitel
Citar trabajo
Bernd Staudte (Autor), 2008, Freiherr von Knigge und seine Bedeutung heute, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/92957

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