Kognitive Verhaltenstherapie einer rezidivierenden depressiven Störung mit selbstverletzendem Verhalten. Eine anonyme Falldarstellung


Hausarbeit, 2019

23 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Überweisungskontext

2. Diagnostik und Indikationsstellung

3. Problemanalyse

4. Therapieplanung

5. Therapieverlauf

6. Evaluation

7. Kritische Reflektion

8. Zusammenfassung

9. Literaturverzeichnis

1. Überweisungskontext

Die Überweisung der damals 18-jährigen Schülerin eines Berufskollegs in die stationäre psychosomatische Akutbehandlung erfolgte durch ihren Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Diesen hatte Frau S. vor dem Hintergrund wiederkehrender Suizidgedanken sechs Monate zuvor eigeninitiativ aufgesucht. Frau S. befand sich somit vom XX.XX.XXXX bis XX.XX.XXXX in stationärer sowie unmittelbar anschließend vom XX.XX.XXXX bis XX.XX.XXXX in teilstationärer akutpsychosomatischer Behandlung. Während dieser Zeit wurde die Indikation für eine ambulante Einzeltherapie gestellt, welche von der bereits behandelnden Bezugstherapeutin des (teil-) stationären Settings ab dem XX.XX.XXXX fortgeführt werden konnte. Vor diesem Hintergrund werden neben der ambulanten Einzeltherapie ebenfalls die therapeutischen Inhalte der zuvor absolvierten Klinikaufenthalte der Patientin in die Darstellung mit einbezogen.

2. Diagnostik und Indikationsstellung

Aktuelle Anamnese

Bei Antritt der stationären Behandlung berichtet Frau S., dass sie überhaupt nicht mehr belastbar sei und ihren Alltag nicht mehr ausreichend bewältigen könne. Sie leide unter einer stark depressiven Stimmung und breche bei jeder Gelegenheit plötzlich in Tränen aus. Die meiste Zeit des Tages verbringe sie in ihrem Bett. Insbesondere am Morgen wache sie häufig viel zu früh auf und fühle sich sehr erschöpft. Dies habe dazu geführt, dass ihr gesamter Tag-Nacht-Rhythmus durcheinandergeraten sei. Sie könne sich zu nichts mehr aufraffen, leide unter Kopfschmerzen, innerer Leere und starker Antriebslosigkeit. Gleichzeitig verspüre sie eine nahezu „unerträgliche“ innere Unruhe und innere Anspannung. Ihre Beschwerden, die sich außerdem in Form von ausgeprägter Freud- und Hoffnungslosigkeit, gesteigertem Appetit, starken Konzentrationsschwierigkeiten, Insuffizienzerleben und Unentschlossenheit äußern würden, hätten sich in den letzten sechs Monaten fortschreitend verschlechtert. Sie sei überzeugt, eine „überflüssige Versagerin“ zu sein und mache sich große Vorwürfe, das Abitur abgebrochen zu haben. Früher habe sie gerne Sport gemacht und Zeit mit Freunden verbracht. Nichts davon würde ihr noch Spaß bereiten. Dem Schulunterricht beizuwohnen, gelinge ihr seit mehreren Wochen gar nicht mehr. Immer häufiger reagiere sie gereizt, vor allem Familienmitgliedern gegenüber. Wiederholt erlebe sie emotionale Einbrüche, die mit Suizidgedanken und selbstverletzendem Verhalten (ca. 2x/Monat, Messerschnitte in Armen und Beinen) einhergehen würden. Dies passiere infolge starker innerer Anspannung, u. a. wenn es Streit in der Familie gegeben habe und sie sich besonders ungeliebt fühle.

Sozialanamnese, Familienanamnese, Schulanamnese

Frau S. sei das einzige gemeinsame Kind ihrer geschiedenen Eltern. Die Mutter von Frau S. habe immer versucht, sie von Streitereien zwischen den Eltern fernzuhalten. Aus diesem Grund sei die Trennung der Eltern, als Frau S. elf Jahre alt gewesen sei, für die Patientin sehr unerwartet gewesen. Sie habe unter der Befürchtung gelitten, schuld an der Trennung zu sein, da ihre Mutter häufiger gesagt habe: „Vor dir war alles anders.“. Bereits in ihrer frühen Kindheit sei die Patientin sehr schüchtern gewesen. Laut fremdanamnestischer Angaben der Mutter, sei sie ein sehr anhängliches, ängstliches und angepasstes Kind gewesen.

Im Kindergarten, den sie ab ihrem dritten Lebensjahr besucht habe, habe sie keinen Kontakt zu anderen Kindern gesucht. Stattdessen habe sie in der Nähe der Erzieherinnen ausgeharrt, bis ihre Mutter sie wieder nach Hause abgeholt habe. Während der Grundschulzeit sei es ihr ähnlich ergangen, bis eine Mitschülerin Kontakt zu ihr aufgebaut habe. Von dieser sei sie jedoch sehr schlecht behandelt worden. Frau S. beschreibt einen Umgang durch die gleichaltrige Mitschülerin, der über mehrere Jahre hinweg (im Alter von ca. 6-9 Jahren) von psychischer Erpressung und sexuellen Übergriffen geprägt gewesen sei. Unter anderem habe die Mitschülerin sie zu „Mutproben“ gezwungen und ihr im Rahmen von „Doktorspielen“ Gegenstände in sämtliche Körperöffnungen eingeführt. Ihre Mutter habe keine Kenntnis über die besagten Übergriffe gehabt und sei sehr froh darüber gewesen, dass die Patientin Anschluss gefunden zu haben schien. Sie habe Frau S. regelmäßig dazu motiviert, Zeit mit dieser Mitschülerin zu verbringen.

Trotz Eignung für die Realschule, habe sich Frau S. damals für den Besuch der Hauptschule entschieden, um der Mitschülerin aus Grundschulzeiten nicht mehr begegnen zu müssen. Im Anschluss an die Trennung der Eltern, sei es zu zwei Umzügen und somit auch Schulwechseln gekommen. Frau S. sei es in dieser Zeit nicht gelungen, engere Sozialkontakte zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Zudem sei der Familienhund verstorben, was sie sehr traurig gestimmt habe. Erst im Alter von 14 Jahren, sei es ihr erstmalig gelungen, längerfristige Freundschaften zu Mitschülern aufzubauen. Nach Abschluss der Hauptschule habe sie von 2014 bis 2016 die Fachschulreife an einer Berufsfachschule absolviert. Bis zu diesem Zeitpunkt habe sie immer sehr gute Schulnoten erzielt, wofür sie von ihrer Familie mütterlicherseits viel Lob erhalten habe. Im Anschluss habe sie im Jahr 2016 an einem Gymnasium versucht, das Abitur nachträglich zu absolvieren. Dabei habe sie sich selbst unter enormen Leistungsdruck gesetzt, sei mit ihren Noten äußerst unzufrieden gewesen und habe nach dem ersten Halbjahr den Besuch der Oberstufe abgebrochen. Ab Februar 2017 habe Frau S. das Berufskolleg besucht. Dort habe sie sich zwar wohl gefühlt, aufgrund von affektiven Beschwerden den Schulalltag jedoch nicht bewältigen können. Ihr Vater mache ihr deswegen Vorwürfe („Jetzt stell dich nicht so an! Du willst doch nur nicht in die Schule gehen!“) und fordere sie permanent dazu auf, einen Ausbildungsberuf zu erlernen anstatt sich weiterzubilden.

Ihre Mutter (geb. 1959, Altenpflegerin) habe aus erster Ehe zwei Söhne (+12 J. und +14 J.), mit denen Frau S. aufgrund des hohen Altersunterschieds nur wenige Jahre zusammen aufgewachsen sei. Die Patientin beschreibt die Mutter als eine charismatische, selbstbewusste Frau, die immer für ihre Kinder einstehen und diese unterstützen würde. Trotzdem gebe es oft Unstimmigkeiten zwischen der Mutter und ihren Kindern. Der jüngere Halbbruder sei wegen affektiver Beschwerden in psychotherapeutischer Behandlung. Er werfe der Mutter unter anderem vor, egoistisch zu sein und habe den Kontakt zu ihr seit Monaten fast gänzlich abgebrochen. Der ältere Halbbruder konsumiere laut der Patientin regelmäßig kritische Mengen Alkohol und sei sehr cholerisch. Der Patientin gegenüber klage die Mutter sehr viel Leid in Bezug auf ihren stressigen Alltag, den Alkoholkonsum des einen Sohnes, den Kontaktabbruch des anderen Sohnes sowie den depressiven Zustand der Patientin („Was habe ich falsch gemacht? Bin ich solch eine schlechte Mutter? Womit habe ich das verdient?“). In gemeinsamen Unterhaltungen spreche meistens nur die Mutter und es falle Frau S. sehr schwer, eigene Belange zu kommunizieren. Sie habe viel Verständnis und Mitgefühl für ihre Mutter, deren Alltag sehr stressig und belastet sei. Frau S. versuche deshalb, besonders viel zu lächeln und sich ihr Befinden nicht weiter anmerken zu lassen. Ihr ältester Halbbruder gebe Frau S. immer wieder die Schuld dafür, dass es der Mutter „schlecht gehe“ und werfe ihr vor, sich kindisch und unverantwortlich zu benehmen („Die Mama macht sich immer nur Sorgen um dich, schämst du dich nicht dafür? Hör auf so faul zu sein und krieg dein Leben in den Griff!“). Es falle ihr dann sehr schwer diese Vorwürfe nachzuvollziehen, da sie sich bereits sehr stark darum bemühe, keine Belastung für die Familie darzustellen. Daraus resultierend ziehe sie sich häufig in ihr Zimmer zurück, wo es zu emotionalen Einbrüchen mit Selbstverletzung und tiefer Traurigkeit komme. Der Bruder der Mutter habe unter schweren Depressionen gelitten und vor diesem Hintergrund vor zwölf Jahren Suizid begangen. Darüber hinaus seien keine psychischen Erkrankungen in der Herkunftsfamilie bekannt.

Ihren leiblichen Vater (geb. 1972, Maschinenschlosser) beschreibt die Patientin als eine wenig einfühlsame Person, die sich schlecht in andere hineinversetzen könne und erschwert mit den eigenen sowie den Gefühlen anderer umgehen könne. Auf ihre Kindheit zurückblickend, erinnere sich Frau S. lediglich an negative Beziehungserfahrungen mit ihrem Vater. Unter anderem habe er sie häufig für ihre Ängstlichkeit ausgelacht. Außerdem habe er sie über mehrere Jahre hinweg, trotz Normalgewicht, mit dem Namen „Fetti“ angesprochen. Auch heute noch kritisiere er ihr Gewicht offen. Gemeinsam mit seiner neuen Familie (Tante und Großtante der Patientin, seine Partnerin) lebe ihr Vater in einem Mehrgenerationenhaus in der Nähe der Patientin. Zu ihrem Vater pflege sie regelmäßigen Kontakt. Alle zwei Wochen verbringe sie das Wochenende bei ihm zu Hause. Aufrichtiges Interesse an ihr zeige er jedoch auch dann nicht. Sie werde immer sofort in Haushaltstätigkeiten involviert (z.B. Gartenarbeit oder Autoreparatur) oder im Wohnzimmer alleine zurückgelassen. Insbesondere während Familienveranstaltungen väterlicherseits empfinde Frau S. sich als Außenseiterin, da niemand Interesse an ihr zeige und sie lediglich den Unterhaltungen anderer wortkarg beiwohne. Auch werde sie oft wütend, da die Familie sich abwertend über ihre Mutter äußere. Persönlicher Kontakt zwischen ihren Eltern bestünde lediglich in absoluten Notfällen. In Bezug auf ihre psychische Verfassung fühle sie sich von der Familie väterlicherseits stigmatisiert, abgelehnt und unter Druck gesetzt („Jeder ist mal traurig“, „Kliniken sind nur was für Irre.“, „Hast du schon einen Ausbildungsplatz gefunden?“, „Warum bist du immer so krank?“).

Seit ihrem zwölften Lebensjahr lebe Frau S. bei der Mutter und ihrem neuen Ehemann, zu welchem ein schwieriges Verhältnis bestünde. Ruhige, respektvolle Unterhaltungen seien nahezu unmöglich. Zum Beispiel gebe es wiederholt Auseinandersetzungen infolge des lauten Fernsehers im Wohnzimmer, welcher immer angeschaltet sei. Wenn Frau S. ihre Mutter darum bitte, den Fernseher leiser zu stellen, um sich miteinander unterhalten zu können, mische sich der Stiefvater ein und schreie sie laut an. Aus diesem Grund versuche sie sich von ihm fernzuhalten und Konversationen aus dem Weg zu gehen. Ihre Mutter leide sehr unter dieser Dynamik, was Frau S. wiederum von beiden zum Vorwurf gemacht werde. Dabei käme es auch immer häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen der Patientin und ihrer Mutter, innerhalb derer ihre Mutter ihr vorwerfe „kein liebes Kind“ zu sein und den Stiefvater verteidigen würde.

Eine Partnerschaft habe Frau S. bislang noch nie geführt. Sie habe große Angst davor, sich einer anderen Person aufrichtig anzuvertrauen. Im Umgang mit ihren Freundinnen sei sie meist diejenige, die zuhören und helfen würde. Ihre Freizeit habe Frau S. noch vor einem Jahr gerne mit Sport (Badminton und Joggen) und Unternehmungen mit Freunden verbracht. Die meiste Zeit verbringe sie mit ihren zwei Kaninchen. Auch zeichne und lese sie gerne.

Psychischer Befund

Die Patientin ist wach, bewusstseinsklar und zu allen Qualitäten regelrecht orientiert. Die Kontaktaufnahme erfolgt schüchtern, aber freundlich bei spürbar hohem Leidensdruck, der sich hinter einem fassadären Lächeln verbirgt. Sie blickt häufig zu Boden und spricht mit leiser Stimme. Die Patientin bemüht sich durchgehend darin, die Fassung zu wahren, bricht aber dennoch mehrmals in Tränen aus. In ihrer Problemschilderung ist sie sehr zurückhaltend, öffnet sich jedoch bei konkretem Nachfragen im Gesprächsverlauf zunehmend. Im Gespräch sind keine objektivierbaren Besonderheiten hinsichtlich der Aufmerksamkeit und des Gedächtnisses beobachtbar. Die Patientin berichtet über subjektiv belastende Konzentrationsstörungen. Die Stimmungslage ist stark niedergedrückt, im Affekt hoffnungslos und labil. Der Antrieb ist deutlich vermindert. Es bestehen keine Anhaltspunkte für formale Denkstörungen, Zwänge oder wahnhafte Gedanken. Es sind keine Ich-Störungen oder Sinnestäuschungen eruierbar. Die Patientin berichtet von Insuffizienzgefühlen, Schuldgefühlen, sozialem Rückzug, Schlafstörungen, gesteigertem Appetit und selbstverletzendem Verhalten infolge innerer Anspannung. Es bestehen häufige Suizidgedanken und –Phantasien bei aktuell glaubhafter Absprachefähigkeit und Distanzierung von akuten Suizidabsichten. Es liegt keine Fremdgefährdung vor. Anamnestisch besteht kein Anhalt für ein aktuelles Suchtgeschehen.

Störungsanamnese und Behandlungsversuche

Frau S. erinnere sich daran, in ihrer Kindheit für ihr angepasstes Verhalten und ihr strahlendes Lächeln von den Eltern häufig gelobt worden zu sein. Sie sei stets bemüht gewesen, sich mit anderen gutzustellen und Konflikte und Auseinandersetzungen zu vermeiden. Über ihr ängstliches Verhalten habe ihr Vater sich häufig lustig gemacht („Haha, du Pussy!“). Mit Eintritt in die Grundschule habe sie sich plötzlich auch von ihrer Mutter nicht mehr ernst genommen gefühlt („Jetzt hör doch mal auf zu heulen!“, „Stell dich nicht so an!“). In der Interaktion mit ihren Mitschülern habe sich Frau S. sehr überfordert gefühlt. Sie habe große Angst vor ihrer Mitschülerin gehabt und sich aus Angst und Scham nicht getraut, ihrer Mutter von oben geschilderten „Übergriffen“ zu erzählen. Bis heute falle es ihr sehr schwer, ihre eigene Meinung zu äußern und für persönliche Bedürfnisse einzustehen. Zudem sei Frau S. zwischen dem 11. und dem 14. Lebensjahr aufgrund von einschneidenden Lebensereignissen (Trennung der Eltern, Tod des Familienhundes, Abschied von Freunden nach Umzügen) sehr belastet gewesen.

Im Alter von sechzehn Jahren (2015) hätten sich erstmals affektive Beschwerden, u.a. in Form von Antriebs-, Interessenlosigkeit, tiefer Traurigkeit und Suizidgedanken etabliert und so sehr zugespitzt, sodass sie sich dazu überwunden habe, ihrem Vater ihr Leid anzuvertrauen. Dieser habe ihre Beschwerden bagatellisiert und sei nicht weiter darauf eingegangen („Das ist nur die Pubertät.“). Infolge dessen habe Frau S. sich weiter sozial zurückgezogen und sich lediglich mit einer Freundin, die ebenfalls unter Suizidgedanken gelitten habe, über ihr Leid ausgetauscht. Bei einem trotzdem erfolgreichen Verlauf der Berufsfachschule habe sich ihr psychischer Zustand Ende des Jahres 2015 wieder stabilisiert und sie habe an Lebensfreude zurückgewonnen.

Die zuletzt zugespitzte depressive Symptomatik mit Beginn im September 2016 habe sich vor dem Hintergrund anstehender Prüfungen in der gymnasialen Oberstufe und einer Zunahme an familiären Konflikten zugetragen. Es sei zudem zu sehr aufdringlichen Suizidgedanken mit wiederholt selbstverletzendem Verhalten ohne Suizidabsichten (Ritzen in Oberschenkel und Oberarme) gekommen. Die Oberstufe (11. Klasse) habe sie deshalb abbrechen müssen. Zudem habe sie viele Süßigkeiten gegessen und innerhalb von zwölf Monaten 15 kg an Körpergewicht zugenommen. Als sie, mit an die Kehle gerichtetem Messer, in der Küche gestanden habe, sei ihr bewusst geworden, dass sie sich eigeninitiativ um professionelle Hilfe bemühen müsse.

Seit Januar 2017 stehe sie daher in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Es sei ein Vitamin-D-Mangel festgestellt und mit Dekristol 20.000 IE 1x/Woche substituiert worden. Das Ausmaß der depressiven Symptomatik habe dies jedoch nicht ausreichend erklären können. Deshalb habe Frau S. eine antidepressive Medikation mit Citalopram 20mg 1x/Tag erhalten. Im Februar 2017 habe Frau S. begonnen ein Berufskolleg zu besuchen. Vor dem Hintergrund ihrer affektiven Beschwerden mit massiven Schlafstörungen, sei es jedoch zu enormen Fehlzeiten (mind. 3 Tage/Woche) gekommen, bis Frau S. seit März 2017 dauerhaft schulunfähig geworden sei. Es seien zudem unerwünschte Arzneimittelwirkungen aufgetreten bei unverändert anhaltenden Schlafstörungen und Suizidgedanken. Vor diesem Hintergrund sei eine stationäre psychosomatische Akutbehandlung in unserem Haus veranlasst worden.

Testpsychologische Befunde

- Im Klinisch Psychologischen Diagnosesystem 38 (KPD-38 von der Forschungsstelle für Psychotherapie, Universitätsklinikum Heidelberg) konnten deutlich erhöhte Belastungswerte (PR: Prozentrang) auf den Skalen Körperbezogene (PR = 96) sowie Psychische Beeinträchtigung (PR = 99), Handlungskompetenz (PR = 99), Soziale Probleme (PR = 92), Lebenszufriedenheit (PR = 97) und hinsichtlich des Gesamtwertes (PR = 99) abgebildet werden, was den hohen Leidensdruck der Patientin verdeutlichte.
- Das Beck-Depressions-Inventar (BDI-II; Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung des Schweregrads einer depressiven Symptomatik von A.T. Beck) ergab bei Aufnahme einen Summenscore von 48, was auf eine „schwere“ Ausprägung depressiver Symptome (> 29) hinweist.
- Die Soziale-Phobie-Skala (SPS von Consbruch, Stangier & Heidenreich, 2016) ergab einen Summenscore von 1, was gegen das Vorliegen sozialphobischer Ängste spricht (< 20).
- Die Impact of Event Skala-revidierte Version (IES-R von Maercker und Schützwohl) ergab in Bezug auf die sexuellen Gewalterfahrungen der Patientin in ihrer Kindheit einen Indexwert von 0,5, was bei einem Cut-Off von 0 auf das Vorliegen von Symptomen hinweist, die auch im Rahmen einer posttraumatischen Belastungsstörung auftreten und verdeutlichte die Notwendigkeit einer weiteren diagnostischen Abklärung.
- Die Borderline Symptom Liste (BSL; Selbstbeurteilungsskala zur Erfassung intrapsychischer Belastung und Schweregrad einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) von M. Bohus und Kollegen) ergab eine Symptombelastung, die gleich oder größer als die Symptombelastung von 25% der Vergleichsstichprobe (Frauen mit BPS-Diagnose) ist. Insbesondere ergaben sich Belastungen in den Bereichen Selbstwahrnehmung (PR = 56), Autoaggression (PR = 36) und Dysphorie (PR = 45). Deutlich geringere Belastungen (PR < 30) ergaben sich in den Bereichen Affektregulation, Soziale Isolation, Feindseligkeit und Intrusionen. Diese Ergebnisse sprachen weder eindeutig für noch gegen das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und fanden für differenzialdiagnostische Erwägungen im Sinne eines Screenings Verwendung.
- Beim NEO-Fünf-Faktoren-Inventar nach Costa und Mc Crae handelt es sich um ein multidimensionales Persönlichkeitsinventar, das die wichtigsten Bereiche individueller Unterschiede erfasst (NEO-FFI von P. Borkenau und F. Ostendorf). Dieses ergab überdurchschnittliche Ausprägungen hinsichtlich der Dimensionen Neurotizismus (PR = 96) und Offenheit für Erfahrungen (PR = 95). Hinsichtlich Extraversion (PR = 1) wies die Patientin unterdurchschnittliche Ausprägungen auf. In Bezug auf Verträglichkeit (PR = 16) und Gewissenhaftigkeit (PR = 18) ergaben sich durchschnittliche Ausprägungen.

Diagnosestellung nach ICD-10

Folgende Diagnose wurde gestellt:

- Rezidivierende depressive Störung, ggw. schwere Episode ohne psychotische Symptome (ICD-10: F33.2)

Nach den diagnostischen Leitlinien des ICD-10 sind hinsichtlich der rezidivierenden depressiven Störung folgende Kriterien erfüllt: In der Anamnese finden sich seit dem 14. Lebensjahr wiederkehrende depressive Episoden, die in ihrem Ausprägungsgrad als leicht bis schwer anzusehen sind. Zwischen den einzelnen Episoden lagen mindestens zweimonatige Intervalle ohne deutliche affektive Symptomatik. In der Anamnese waren keine hypo-/manischen Episoden, kein Abusus psychotroper Substanzen und keine organische psychische Störung ersichtlich. Die aktuelle schwere Episode ohne psychotische Symptome war gekennzeichnet durch eine seit September 2016 anhaltende depressive Stimmung in einem für die Patientin ungewöhnlichen Ausmaß über die meiste Zeit des Tages hinweg. Frau S. litt ferner unter Interessen- und Freudeverlust, vermindertem Antrieb, psychophysischer Ermüdbarkeit, Verlust des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens, Selbstvorwürfen, Schuldgefühlen, Insuffizienzgefühlen und wiederkehrenden Gedanken an Suizid. Sie klagte über ein vermindertes Konzentrationsvermögen, Ein- und Durchschlafstörungen, Morgentief, Unentschlossenheit sowie gesteigerten Appetit. Zudem lagen keine Hinweise auf Halluzinationen, Wahn oder depressiven Stupor vor.

Differentialdiagnostisch zeigten sich vermehrte Hinweise (siehe testpsychologische Befunde und Therapieverlauf) auf das mögliche Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung im Hinblick auf das Erleben von sexuellen Übergriffen durch eine Mitschülerin in der Kindheit. Die Patientin vermied dem Begegnen der Mitschülerin und wies eine erhöhte psychophysische Sensitivität mit Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten auf. Letztlich ließen sich jedoch wesentliche ICD-10-Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung hinsichtlich des Auftretens von Intrusionen, Alpträumen und/oder einer innerer Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln, nicht bestätigen (B). Auch traten die Beschwerden nicht innerhalb von sechs Monaten nach Ende der Belastungsperiode auf (E). Aus diesem Grund wurde auf eine entsprechende Diagnosestellung verzichtet. Dennoch ist von einem wesentlichen Einfluss dieser Erfahrungen auf das Selbstbild mit internalisierter Selbstabwertung und erlerntem Hilflosigkeitserleben, welches vermutlich zu innerer Anspannung und selbstschädigenden Verhaltensweisen beiträgt, auszugehen (siehe Makroanalyse).

Die Patientin erfüllte ebenfalls einzelne Kriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ und der ängstlichen Persönlichkeitsstörung: Gefühle von innerer Anspannung, Minderwertigkeits- und Insuffizienzerleben, Unsicherheiten bezüglich des Selbstbildes, starke Bemühungen, um das Verlassenwerden zu vermeiden und wiederholte Handlungen mit Selbstbeschädigung. Jedoch erfüllt sie nicht die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung. Insbesondere vor dem Hintergrund des jungen Alters konnte weder von einer langen Dauer noch von der Norm abweichenden Verhaltensmustern ausgegangen werden. Zudem begrenzten sich die meisten der geschilderten Erfahrungs- und Verhaltensmuster auf den familiären Bereich. Die geschilderten Beschwerden waren somit im Rahmen der depressiven Störung einzuordnen, deren Bewältigung sich u.a. in Form von dysfunktionalen Verhaltensweisen vor dem Hintergrund einer hohen emotionalen Labilität äußerte.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Kognitive Verhaltenstherapie einer rezidivierenden depressiven Störung mit selbstverletzendem Verhalten. Eine anonyme Falldarstellung
Note
1,0
Jahr
2019
Seiten
23
Katalognummer
V935486
ISBN (eBook)
9783346264077
ISBN (Buch)
9783346264084
Sprache
Deutsch
Schlagworte
psychologischer Psychotherapeut, psychologische Psychotherapeutin, psychologische Psychotherapie, Staatexamen, Approbation, Approbationsprüfung, Fallvorstellung, Prüfungsfall, Behandlungsfall, Psychologie, Psychotherapie, Verhaltenstherapie, kognitive Verhaltenstherapie, Depression, SVV, Selbstverletzendes Verhalten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Depressive Störung, Prüfung, KVT, VT, Suizidalität
Arbeit zitieren
Anonym, 2019, Kognitive Verhaltenstherapie einer rezidivierenden depressiven Störung mit selbstverletzendem Verhalten. Eine anonyme Falldarstellung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/935486

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