Als Christ muss ich mein Leben täglich neu überdenken

Gedanken, die mich dabei bewegen an unterschiedlichen Texten dargestellt


Recueil, 2008

48 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

01. Der Wunsch des behinderten Menschen nach einem normalen Leben; Einfach nur leben - das Schicksal krank und dadurch behindert zu sein

02. Gibt es einen Weg aus der Schuld? In Schuld gefangen

03. Die Bibel sagt: Das Größte aber ist die Liebe

04. Die Bedeutung des Religionsunterrichtes in unserer Zeit; Ist Religionsunterricht – noch ein zeitgemäßes Fach in unseren Schulen?

05. Liebe hat etwas mit Wahrhaftigkeit zu tun, in der Beziehung zu Gott, aber auch zu unseren Mitmenschen: Eine große Liebe und ihr jähes Ende

06. Liebe ist erfahrbar, auch in unserer Zeit, in unserem Leben Kleine – Sarah – große Taten

07. Weihnachten kritisch hinterfragen: Weihnachten, ein Fest des Kommerz, der Geschenke und des Übermutes?

08. Weihnachten hat sich verändert - Weihnachten, ein besonderes Fest im Wandel der Zeit

Zusammenfassung

Biografie

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

im Volksmund sagt man immer, dass Rentner nie Zeit haben, dem Stress erlegen sind. Ich habe darüber, als ich noch im aktiven Berufsleben stand, in mich hineingelächelt; wie sollte das möglich sein, ohne verpflichtende Aufgaben keine Zeit zu haben? Das konnte ich in keiner Weiser verstehen oder nachvollziehen.

Heute, nachdem ich seit 19 Jahren aus gesundheitlichen Gründen im Ruhestand bin, hat sich meine Sichtweise zu dieser Fragestellung geändert, denn ich denke nicht, dass mich der Stress erfasst hat und mein Leben bestimmt, aber ich habe begriffen, dass der Lebensalltag eine neue Gestaltung erfahren hat. Früher erteilte ich Religionsunterricht und war mit Aufgaben in vakanten Pfarrstellen betraut worden. Dann entfaltete sich die Krankheit, ich war plötzlich auf den Rollstuhl und die Hilfe meiner Kinder, von Freunden und fremden Menschen angewiesen. Diese „zwangsweise verordnete Ruhe“ setzte völlig neue Akzente in meinem Leben. Ich stellte mich, mein Tun und Lassen in einer mir bisher unbekannten, noch nicht da gewesenen Art in Frage.

Neben der Frage nach dem Sinn des Lebens und dem plötzlichen Wegfall aller Aufgaben hatte ich zwar eine neue Aufgabe, zwei pubertäre Kinder alleine zu versorgen, fand aber nicht die Erfüllung, die ich brauchte, um wirklich wieder Lebensmut und Lebensfreude zu haben. Da kamen mir Gottes Pläne in der Person einer lieben Freundin, meiner/unserer Gertrud in den Weg. Ich kam zum Schreiben.

Zunächst war das eine Verlagsarbeit, bei der ich für den Konfirmandenunterricht mit anderen zusammen Unterrichtsentwürfe erarbeitete, später konnte ich bei einem anderen Verlag einige Predigt für die Kasualblätter einbringen.

Immer deutlicher wurden in dieser Zeit die Fragen an das Leben, an die zwischenmenschlichen Untertöne im Umgang miteinander, an die Folgen dieser schnelllebigen Zeit. Meine Erfahrungen mit Menschen aus dem Rollstuhl heraus war völlig anders gelagert, als das, was ich bisher kannte. Ich war tief betroffen, als man mir einen Durchgang vom Bürgersteig über die Straße mit dem Hinweis, dass dieser Durchgang nur für Menschen war, verweigerte. Die Erfahrung, dass sich Menschen leichter von Behinderten abwenden, als auf sie zuzugehen und Hilfe anzubieten traf mich sehr, verletzte und bewegte mich dazu, mich für diese Belange einzusetzen.

Immer mehr Fragen türmten sich auf, immer intensiver wurde mein Nachdenken. Ich fing an, meine Gedanken aufzuschreiben und anderen zum Lesen zu lesen. Es kristallisierte sich sehr bald heraus, dass nicht die elaborierte Sprache das Wichtigste bei diesen Fragen war, sondern die einfache Erkenntnis der Probleme. Nicht elitäres Denken, sondern verständliches Erklären, gedankliches Anschieben war notwendig.

Da ich häufig beobachten konnte, dass nicht nur ich mich in Frage stelle, mein Christ sein überprüfe und hinterfrage, und Gespräche, die sich so nach dem Lesen aus den problemorientierten und schriftlich fixierten Gedanken ergaben, sowohl für mich, als auch für meine Gesprächpartner gewinnbringend waren, habe ich mich nun entschlossen, diese bereits schriftlich vorhandenen, persönlichen Überlegungen, gedanklichen Auseinandersetzungen, Informationen, Fragestellungen, Anregungen und „Gedankenanstöße“ einer breiteren Lesergruppe anzubieten, das Medium Buch zu nutzen.

Ich erhebe nicht den Anspruch, immer die optimalen Wege der Darstellung gefunden zu haben, habe keine Rezepte aufgeschrieben und bin aber dennoch sehr wohl der Überzeugung, dass sich daraus dennoch gute Gespräche entwickeln können.

Als praktizierender Christ habe ich, wie könnte es auch anders sein, den religiösen Aspekt bei allen Fragen eingebunden; es kommt dabei nicht um den religiösen Tatsch an, sondern darauf, dass die Religion, der lebendige Glaube an den allmächtigen Gott wieder etwas mehr zum Tragen kommt, in unserem so nüchternen Alltag den ihm zustehenden Raum bekommt.

Unsere Zeit hat gelehrt und gelernt Elend „Fern zu sehen“, den Tod und die Auferstehung aus dem täglichen Leben zu verbannen; gestorben wird im Pflegeheim für Senioren oder im Ausnahmefall im Krankenhaus. Nur nichts zu nahe an sich heran kommen lassen, die sachliche Kühle unter der Ausblendung möglichst aller Gefühle und Fragezeichen sind ein Zeichen in dieser doch sehr schwierigen Zeit. Unser Schöpfer ist zur Nebensache erklärt worden, spielt eine untergeordnete Rolle, für den die Zeit dann noch reicht, wenn alles im Leben „erledigt“ ist. Ob dann noch reale Zeit vorhanden ist?

Das tägliche Miteinander ist für viele Menschen zu einer Pflichtveranstaltung geworden, weil eigentlich niemand wirklich Interesse daran, mit dem anderen Menschen zu kommunizieren. Schon die Frage nach dem Wohlbefinden ist von einer rein rhetorischen Art, denn die ehrliche Antwort, „nicht gut“, will doch in Wahrheit fast niemand hören.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als Christen eine Verantwortung auf dieser Welt zu tragen haben, der wir nicht ausweichen können und dürfen, die sich auch nicht totschweigen oder ignorieren lässt. Darum habe ich diese Texte geschrieben und in diesem Büchlein zusammengestellt.

Ich würde mir nun wünschen, dass diese inhaltlich sehr unterschiedliche Lektüre Sie, liebe Leserin, lieber Leser dazu beflügelt, Probleme neu anzugehen, zu Gedankenanstöße und neuen Gesprächen führt und Sie im Ergebnis daraus einen persönlichen Gewinn für sich, die Beziehungen zu anderen Menschen (Ehe, Kinder, Familie, Verwandtschaft, Freunde und Umwelt) bringt, weil Sie auf Grund neuer Überlegungen Ihr Leben leichter und besser gestalten können, denn es ist Ihnen dann in der Konsequenz gelungen, sich selbst, Ihr persönliches Tun und auch Denken in Frage zu stellen und das hohe Podest der Unantastbarkeit zu verlassen.

Mein größter Wusch aber lautet anders: Stellen Sie sich der Frage „Wie sieht mein persönliches Christentum im Alltag aus? Bin ich Sonntagschrist oder praktizierender Christ?“ Wenn Ihnen diese Fragestellung für Ihr Leben gelingt, dann haben wir alle gewonnen, Sie und auch ich, ihre Umwelt und Familie, denn dann wird sich einiges in Ihrem Leben verändern, denn Sie haben es ja ernsthaft hinterfragt und in Frage gestellt und an mancher Stelle vielleicht auch noch korrigiert.

Unser Gott schenke Ihnen dazu seinen Segen.

Hanau, im Juni 2008

01. Der Wunsch des behinderten Menschen nach einem normalen Leben; Einfach nur leben - das Schicksal krank und dadurch behindert zu sein

Ich war fast 12 Jahre alt, als meine Krankheit sich ein erstes Mal bei mir zeigte: Ich komme aus einer einfachen Arbeiterfamilie, und es war für mich immer ein Höhepunkt, wenn ich meinem Vater zu einer Baustelle begleiten, den Tag bei ihm verbringen durfte. So auch im Sommer 1962; ich war schon eine Woche dabei, es waren Sommerferien, hatte mit ihm und den anderen Arbeitern in der Baubude gesessen, mit ihnen gegessen und getrunken, als am Nachmittag mein linkes Knie plötzlich weh tat. Vermutliche Ursache: Es wurde eine Straße gebaut, ich war viel über den Schotter gelaufen und glaubte, dass es von den neuen „Strapazen“ kam. Als es am Abend nicht besser war, sondern ganz im Gegenteil zu einer enormen Schwellung des Knies gekommen war, brachten mich meine Eltern in das nahe gelegene Krankenhaus. Es wurden Untersuchungen vorgenommen, geröntgt, aber es gab für mich keine Erklärung die nachvollziehbar oder verständlich gewesen wäre. Ich musste in der Klink bleiben. Es folgten viele weitere Untersuchungen, es wurden Kühlungen des Knies vorgenommen, Belastungen ausgeschlossen, doch was ich hatte, wusste ich nicht. Irgendwann, nach einer Woche wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, denn das Knie hatte wieder eine normale und scheinbar gesunde Form bekommen. Ich begriff von dem allen nur, dass man von einer Kniegelenkentzündung sprach. Ich machte mir keine weiteren Gedanken, denn ich war ja gesund. Immer wieder hatte ich diese seltsamen Entzündungen, einmal am Fußknöchel, einmal links, einmal rechts. Kurzwellenbestrahlungen, Massagen, diverse Salben und immer wieder die verordnete Schonung, keinerlei körperliche Belastungen, bis hin zum Sportverbot in der Schule wurden zu meinem Alltag.

Ein gutes Jahr später kamen enorme Rückenschmerzen dazu. Das mir vertraute Procedere begann: Hausarzt – Facharzt (Orthopäde) – Massagen und Bestrahlungen. Neu war nun, dass ich ein „Gipsbett“ bekam, also in einer an meinem Körper angepasste Gipsschale schlafen musste. Das war ein enormes Problem, denn ich schlief immer auf dem Bauch und musste nun in der Schale auf dem Rücken schlafen, weil ein Drehen unmöglich war.

Medizinisch-therapeutisch sprach man von einem „Morbus Scheuermann“, einer nicht ungewöhnlich und durchaus bekannten Entwicklungserscheinung, die wieder vorüber gehen würde. Ein inzwischen verstorbener Professor an der heimischen Klinik sah das aber sehr skeptisch und ahnte schon damals, was sich dann 1984 bestätigte: Es war eine ausgefallene, rheumatische Erkrankung.

1969 – 1970 war ich im Krankenhaus als Hilfspfleger beschäftigt, denn ich wollte mein Studium im Herbst 1970 aufnehmen. In den letzten Wochen meiner Tätigkeit erkrankte ich wieder; als Therapie wurden Spritzen, Massagen und Bestrahlungen verordnet.

1978, ich hatte mein Studium abgeschlossen, war verheiratet und hatte zwei Kinder, hatte ich wieder so massive Probleme, so dass eine Computertomografie (computergesteuertes Röntgenschichtverfahren) und eine Myelographie (Röntgenkontrastdarstellung des Wirbelkanals) gemacht wurden; die Diagnose lautete: Bandscheibenvorfälle in der Lendenwirbelsäule, in mehrer Ebenen (L2/L3; L3/L4; L4/S1); der behandelnde Neurologe sagte: „Kein Wunder, wenn man bei einer solchen Größe (1,95 m.) einen durchhängenden Dackelrücken hat“.
Am 20.07.1978 wurde in der Neurochirurgie Uni Frankfurt die notwendige Operation durchgeführt. 10 Tage Bettruhe folgten; ich wurde gewaschen, durfte nicht aufstehen, auch für die intimsten Bedürfnisse nicht und erlebte im Anschluss eine „schmerzfreie“ Zeit, wie ich sie bisher nicht mehr kannte und erlebt hatte; das bliebt so bis zum 11.11.1983.

Die erneut auftretenden Probleme mit meiner Wirbelsäule führten zu einem ständigen Ausfall im Beruf, nicht für Tage, sondern oft für Wochen. So kam, was kommen musste, das medizinisches Prozedere begann von vorne; das „heftige“ Ergebnis lautete: Rezidiv! Es muss erneut operiert werden, wenn sich etwas ändern soll. Die Operation fand dieses Mal am 27.09.1984 im Klinikum Offenbach statt. Die unterschiedlichen Paresen (rechts besonders stark ausgeprägt) konnten nicht vollständig behoben werden. Ich bekam eine Fußheberschiene, die inzwischen unterschiedlichen Beinlängen wurden durch einen erhöhten Schuhabsatz ausgeglichen und Gehstock zur sicheren Fortbewegung verordnet. Eine verordnete Heilmaßnahme in Bad Peterstal im Schwarzwald umfasste 6 Wochen, und erbrachte für mich erste Hinweise auf Rheuma.

Nun sollte ich nach der zweiten Operation nicht mehr schwer Heben oder Tragen. Das wiederum brachte große und persönliche Probleme im Umgang mit Hilfesuchenden mit sich; Beispiel: Vor meiner Garage stürzte ein älterer Mann; streckte Arme aus und rief: „Helfen sie mir“!

Das Gefühl in mir, nichts tun zu können, nur zu sagen: „Ich kann Ihnen nicht helfen! Ich hole sofort Hilfe“ kann ich nicht beschreiben, denn es war einfach grauenvoll!

1988 hatten die Schmerzen eine solche Stärke erreicht, dass im Rahmen einer Schmerztherapie (bei einem Frankfurter Schmerztherapeuten)über die Implantation eine Schmerzpumpe im Bauchraum nachgedacht wurde. Es folgte ein Aufenthalt in der Uni Gießen. Man versuchte nun über die Periduralanästhesie mit Hilfe eines Katheders im Rückenmark eingeführt, die Schmerzen zu senken. Der so ersehnte Erfolg setzte jedoch nicht ein.

Man wies mich in die Balneologie (eine besondere Rheumaklinik) im nahe gelegenen Bad Nauheim ein. Auch hier stellte sich der erhoffte Erfolg der Therapie nicht ein.

Am 15. März 1989 kam der Zusammenbruch nach einem Telefonat aus einer öffentlichen Telefonzelle mit meiner Nichte. Eine Taxifahrerin hatte das beobachtet und brachte mich zurück in die Klinik. Seit dieser Zeit bin ich auf den Rollstuhl angewiesen.

Schock über das Geschehene war groß und erforderte viel Kraft, Liebe und Zuwendung um überhaupt erst einmal neu über das nun „neue Leben“ nachzudenken.

Dann holte mich der Alltag ein. Unendlich viele Probleme folgten wie ein Rattenschwanz:

- Rückkehr zur Familie im Rollstuhl – gehend hatte ich das Haus verlassen,

„rollend“ kam ich nun zurück -

- Bauliche Veränderungen an meinem Haus wurden notwendig und auch

durchgeführt; eine Rampe musste am Hauseingang gebaut werden, damit

ich mit meinem Elektrorollstuhl problemlos in das Haus, bzw. das Haus

verlassen konnte

- Treppenlift war notwendig, um im Haus in die obere Etage zu gelangen
- Scheidung
- Sorgerechtsstreit um die Kinder
- die Verrentung wurde eingeleitet, da nun auch Erwerbsunfähigkeit vorlag
- gerade in der Anfangszeit war ich im Alltag oft hilflos

Es war an einem Montagmorgen in einem Einkaufsmarkt. Es sind relativ wenige Kunden, die ihren Einkauf tätigen. Wie schon so oft kann ich die gewünschte Ware nicht erreichen, da viele Regale zu hoch und somit aus einem Rollstuhl nicht erreichbar sind. Eine Kundin, sie dürfte Mitte 50 sein, steht etwa einen Meter von mir entfernt.

„Guten Morgen! Können Sie mir bitte helfen?“ Erröten, Erblassen und weg ist sie.

Solche Reaktionen sind nicht ungewöhnlich, leider an vielen Stellen schon Alltag geworden und fast niemand nimmt sie eigentlich wahr.

Solche Erfahrungen tun weh, denn dieses defensive Verhalten ist nicht immer nonverbal, sondern wird gelegentlich auch sehr massiv und fast schon brutal und unmenschlich kommentiert. Ein Beispiel will ich an dieser Stelle näher beschreiben:

Es ist schon einige Zeit her, als ich mit meinem Sohn in Frankfurt/Main zu einem Flohmarktbesuch gewesen war. Wir bummelten so am Main entlang, als wir eine Stelle erreichten, an der wir mit dem Rollstuhl nicht weiter kamen. Wir baten den Aussteller: „Können Sie bitte die Kiste zur Seite schieben, damit wir durch können?“ Die Antwort: „Dieser Durchgang ist nur für Menschen!“ Bis zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar gewesen, dass ich als Behinderter nicht zu den Menschen gehörte. Was ich aus der Sicht dieses Menschen war, sagte er allerdings nicht. Wie verletzend und menschenverachtend solche Sätze sind, brauche ich sicher nicht näher betonen, denn ich glaube, dass der Hinweis darauf, „wie würde sich ein Nichtbehinderter“ fühlen, wenn das zu ihm gesagt würde, völlig ausreicht. Es ist also eigentlich kein Wunder, wenn Behinderte häufig aggressiv reagieren. Das geschieht, wie bei Gesunden Menschen auch zu falschen Zeitpunkten, ist manchmal ungerecht oder trifft den „Falschen“, wenn der Behinderte unfreundlich wird und sagt: „Ich habe es an den Beinen, nicht aber am Kopf!“ Kein Behinderter will Mitleid, will mit dem Kommentar „Es wird schon wieder gut“ getätschelt werden wie ein Hund. Ich möchte auch nicht immer mit geistig Behinderten in einen Topf geworfen werden, nicht weil ich etwas besseres bin, sondern weil ich mich mehr oder weniger gut alleine versorgen kann, in manchen Bereichen Hilfe in Anspruch nehmen muss, aber für mich alleine denken und entscheiden kann, also „Herr meines Lebens und dem was geschieht“ bin.

Ich habe aber nur einen einzigen Wunsch, den wir Behinderte wohl alle gemeinsam haben: Leben, einfach nur leben; ganz normal, aufgenommen in die Gesellschaft, akzeptiert und so selbstständig, wie irgend möglich. Wir brauchen und wollen kein Mitleid, denn dazu zu gehören ist unser Ziel. Aus diesem Grund schreibe ich, engagiere ich mich an allen möglichen Stellen, versuche ich Vorurteile und Berührungsängste auf beiden Seiten abzubauen; ich habe begriffen, dass das Leben weitergeht, mit mir und ohne mich – also habe ich für mich entschieden: Mit mir!

Ich habe die Problematik im Wesentlichen an mir und meinem Leben exemplarisch festgemacht, weil es Erfahrungen sind, die fast alle Behinderten machen, soweit sie noch außer Haus gehen, wohl wissend, dass es auch viele gibt, die mit ihrer Behinderung problemlos umgehen können, deren Leben in klaren Linien verläuft. Es gibt aber noch viele Behinderte, die sich auf Grund der dargestellten Probleme und Erfahrungen isolieren, leiden, an sich selbst fast verzweifeln, unausgeglichen sind und sich selbst aufgeben. Hier gilt es Mut zu machen, Perspektiven aufzuzeigen und den Sinn des Lebens wieder zu entdecken, Lebensfreude neu zu gewinnen und zu leben und umzusetzen, dass behindertes Leben lebenswertes Leben ist! So und nur so steigt die Lebensqualität; wer das begriffen hat, kann auf Behinderte und Nichtbehinderte zugehen, kann Verletzungen leichter wegstecken, weil er weiß, dass er selbst auch Fehler macht oder verletzt. Etwas hat sich aber geändert, denn er wird leben, nicht im stillen Kämmerlein, er wird wieder lachen, nicht alleine am Fernsehen, sondern in Gesellschaft, im Theater oder sonstigen Feiern und Ausflügen. Er wird das Leben wieder genießen, mit allen Höhen und Tiefen, denn „runde Füße“, wie und warum auch immer sie so geworden sind, zerstören die Lebensqualität nicht, wohl aber schränken sie ein, verändern den Bewegungsradius. Damit kann man gut leben, denn ich muss nicht unbedingt auf alle Berge steigen, kilometerlange Wanderungen machen und so gesunde Beine zum non plus ultra machen; ich kann, wenn ich mir meines menschlichen Wertes bewusst bin meinem Leben neue Perspektiven geben, neue Akzente setzen. Ich schreibe zum Beispiel seit der Behinderung; zunächst waren es ausgearbeitete Unterrichtsentwürfe für den Konfirmandenunterricht, später Predigten (Taufe, Trauung, Beerdigung oder auch Sonntagspredigten), später ein eigenes Buch. Ich werde nicht von meiner Krankheit gelebt, sondern ich lebe, könnte auch sagen: „Ich habe eine Krankheit, aber die Krankheit hat nicht mich!“ Einen Eindruck möchte ich aber vermeiden, ihn auch nicht einmal ansatzweise aufkommen lassen: Ich habe aus eigener Kraft etwas erreicht! Alles das, was heute ist, was ich erreicht habe oder zu erreichen versuche, wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht meinen Gott, den lebendigen und erfahrbaren Gott gehabt hätte, der immer Menschen in den Weg stellte die mir Mut machten, in den Talsohlen des Alltages auffingen und so an meiner Seite standen. Es tut gut, wenn man sich bemüht und dann folgende Reaktionen kommen: „Du stinkst ja gar nicht; ich dachte immer, das Behinderte stinken“, sagte der Sohn einer lieben Freundin zu mir, als er etwa 15 Jahre alt war: „Seit ich dich kenne und zum Freund habe, sehe ich alle Schwellen, Kanten und Probleme, die ihr in der Alltagbewältigung zu meistern habt. Ich sehe die Hindernisse und denke dabei an euch und wie man diese Probleme lösen könnte“, erklärte mir eine Freundin aus Bremen, die ich auf einer kirchlichen Tagung in Berlin kennen lernte. Es macht froh, wenn Menschen aus dem Umfeld sagen: „Seit ich dich kenne, kann ich auf Behinderte besser zugehen und sehe sie mit ganz anderen Augen!“

Alle bisher beschriebenen Fragen und Probleme, Sorgen und Ängste sind wie gesagt auch Fragestellungen und Inhalte meines Lebens gewesen. Darum verdeutliche ich einmal an meinem Leben, wie gravierend sich ein Leben verändert, wenn es durch Krankheit eine neue Form bekommt:

Fazit

Wenn ich nun heute, 18 Jahre später ein Fazit ziehe, dann sage ich, dass es sehr schwere, aber lohnende Jahre waren.

Ich hatte in der ganzen Zeit starke Freunde an meiner Seite, die mir Mut machten, in allen möglichen Lebenslagen halfen und zu meinen Kindern standen.

Ganz wichtig ist mir an dieser Stelle, unsere liebe Gertrud, eine Kollegin aus meiner Dienstzeit zu nennen; sie hat in unendlicher Liebe zu uns geholfen, Freiraum geschaffen, Dinge ermöglicht, die sonst nicht umsetzbar gewesen wären, mütterliche Liebe bei meinen Kindern gegeben, in allen schwierigen Lebenslagen hinter, neben und vor uns gestanden, schützend, helfend und lieb; unserer Dank gilt ihr im Besonderen, der Frau, die nie an sich selbst dachte, wenn wir sie brauchten, die sich nichts gönnte um uns zu helfen. Liebe Gertrud, wir werden deine Hilfe, deine begleitende Liebe und dein Tun nicht vergessen, solange wir leben!

Mein ehemaliger Schulleiter, der mir immer Freundschaft und Unterstützung bot, hatte schon zu meiner Dienstzeit immer Verständnis für mein „Ausfallen“ im Schulalltag, blieb auch in dieser Zeit Freund, Begleiter und Stütze für mich.

Ich habe und ich hatte ein stark aktives, sozial eingestelltes Umfeld. So wurde uns von allen Seiten Hilfe angeboten und auch geholfen.

Am wenigsten interessierte sich die Kirche in Form unserer Kirchengemeinde für uns, denn sie bot weder Hilfe noch Unterstützung an; ich wurde zu Vertretungen gerufen, wenn man mich brauchte und in den anderen Bereichen, in denen ich Hilfe gebraucht hätte, sah sie sich damit aus der Pflicht genommen, so sehe ich das jedenfalls, denn niemand kam, fragte oder bot sich an!

Doch das „wir wollen es schaffen“ schweißte uns zusammen, sodass ein verstärktes Helfen meiner Kinder nicht zur Last wurde, sondern zum Erfolg führte. Wir schafften es „ einfach nur zu leben “!

Noch einen Schlussgedanken möchte ich anfügen, der zwar am Ende steht, aber nur auf dem Papier, denn ein unbrechbarer Glaube an den göttlichen Plan, seiner Stärke und der darin ruhenden Gewissheit, dass er niemals etwas zulassen würde, was für meine Kinder und mich nicht gut wäre, waren der Steuermann auf unserem Lebensschiff, das ER sicher um alle Klippen steuerte, uns gelegentlich auch Schrammen verpasste, aber nie SEINE Hilfe und Nähe entzog, und uns so sicher leitete und auch weiterhin leiten wird. Ich möchte also keine meiner Erfahrungen missen, auf keine verzichten, denn was wir heute sind und haben, verdanken wir allein meinem Gott, der Menschenherzen bewegt und zum Handeln geführt hat. Gott hat für mich als Behinderten eine Tür geschlossen, aber tausend andere dafür geöffnet – eine davon haben sie eben mit mir gemeinsam durchschritten -.

02. Gibt es einen Weg aus der Schuld? In Schuld gefangen

Ein ganz normaler Tag. Ich bin auf dem Weg in den Supermarkt um meinen Einkauf zu erledigen, als es plötzlich neben mir einen lauten Knall gibt. Erschrocken blicke ich in die Richtung, in der ich die Ursache des Knalls vermute; ein Unfall, schoss es mir durch den Kopf. Schon nach wenigen Sekunden sah ich, dass meine Vermutung richtig war. Ein aus einer Parklücke ausparkender Autofahrer war gegen ein einparkendes Fahrzeug gefahren. Soweit ich sehen konnte, war keinem etwas körperlich geschehen. Der Fahrer des ausparkenden Fahrzeuges war ausgestiegen und rief dem anderen, noch im Fahrzeug sitzenden Fahrer immer wieder zu: „Ich habe keine Schuld. Ich bin unschuldig. Sie haben nicht aufgepasst!“

Schuld, ein Wort, das wir weder gerne hören, noch gerne haben wollen. In unserem Sprachgebrauch hat das Wort „Schuld“ viele Facetten: Grundsätzlich versteht man unter Schuld in unserem Rechtsverständnis eine nicht erfüllte Verpflichtung; gemeint sind an dieser Stelle finanzielle Verpflichtungen z.B. bei einer Hypothek, einem Darlehen und die draus resultierenden Schulden im Falle eines Zahlungsrückstandes. Der Gläubiger kann dann mit Rechtsmitteln dagegen vorgehen; früher war es zum Beispiel die Beugehaft, heute die Zwangsvollstreckung in Form von Pfändung oder aus Zwangsversteigerung.

Es wäre zu schön, wenn das die einzige Form von Schuld wäre. Wir wissen alle, dass Schuld etwas ist, worunter wir alle leiden. Sei es die Schuld an einem Verkehrsunfall oder auch die Schuld durch leichtsinniges Verhalten jemanden anderen geschadet zu haben.

Der Begriff Schuld taucht immer dann auf, wenn er in objektiver Hinsicht nach dem Kausalitätsprinzip (wenn ich etwas Bestimmtes tue, dann hat es zur Folge, dass ich eintritt, wodurch ich mir Schuld auflade) als Ursache dafür steht - also für ein spezielles Übel angewendet werden kann und wird. Die Imputation (Zurechnung) einer rechtswidrigen Tat als Schuld gründet auf der Frage nach dem Können des Schuldigen, fragt also danach, ob ein rechtskonformes Verhalten hätte stattfinden können. Wir sprechen also von der Schuldfähigkeit. Im Strafrecht versteht sich Schuld immer in der subjektiven Beziehung des Täters zu seiner Tat, die es dann ermöglicht, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Dazu muss allerdings eine psychologische Beziehung des Täters zu seiner Tat bestehen, dem Vorsatz oder auch die Fahrlässigkeit. Natürlich gibt es noch eine andere Perspektive von Schuld, die ich aber nur kurz anreißen möchte: Bis jetzt war nur die Rede von bewusstem schuldig werden; es gibt aber auch eine unbewusste eine Schuld.

Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers stellt unterschiedliche Formen von Schuld dar, indem er eine Differenzierung des Begriffes Schuld in vier unterschiedliche Schwerpunkte vornimmt:

1. die kriminelle Schuld
2. die politische Schuld
3. die moralische Schuld
4. die metaphysische Schuld

Daraus ergibt sich beim Wortverständnis von Schuld, dass es ebenso, wie auch bei dem damit eng verknüpfte Begriff Vergebung (auf den ich an späterer Stelle eingehen möchte) viele Aspekte und Perspektiven, aus der jeweiligen Sicht der unterschiedlichen Betrachters gibt.

Dies möchte ich an einem Beispiel aus dem Unterrichtsgeschehen meines Sohnes verdeutlichen:

Inhalt: Wie gehe ich mit Leid um? Dabei Betrachtung eines Textes eines Behinderten, der sein Leben, Leid und den Umgang beschreibt. Am Ende der Doppelstunde die Frage meines Sohnes: Schreibt in einem Satz auf, was ihr aus der heutigen Stunde mitnehmt. Ergebnis eines Schülers, der seine Antwort freiwillig vortrug: Behinderte Menschen sind sehr verletzlich und dürfen nicht in ihrem Leid noch geärgert (in welcher Form auch immer) werden. Ein anderer Schüler: Ich habe keinen Satz, ich habe nur zwei Worte schlechtes Gewissen! Erkennen von Schuld liegt dieser Aussage zu Grunde.

Hier hatte ein Schüler die Erkenntnis von ganz persönlicher, vielleicht sogar unbewusster Schuld am Mitmenschen gemacht. Ein Erwachsener erkennt möglicherweise, dass er persönliche Schuld an seiner Familie, Frau und Kind hat. Die Erkenntnis von Schuld kann eine ganze Reihe von Fragen nach sich ziehen; so drängt sich buchstäblich die Frage auf, ob

Vertrauen in seinem Leben überhaupt noch eine Rolle, oder gar tragende Rolle spielt. Es kommt schnell an die Problematik des Selbstschutzes, in dem sich entschuldigende und erklärende Gedanken in die Überlegungen einschleichen.

„Ich bin an den anderen doch nur schuldig geworden, weil er mit etwas Bestimmtes angetan hat. Der sollte auch einmal spüren, wie das ist, wenn man leidet. Ich hätte dieses Mobbing nicht mehr ausgehalten“. Es ist also zu überlegen, ob wir Menschen oft nicht sogar so verzweifelt sind, weil wir im Leben so stark und bewusst in dieser Schuld so verhaftet sind, dass wir keinen Weg mehr sehen?

Die Psychologie macht seit Langem deutlich, dass zu dem Begriff und dem persönlichen Schuldbewusstsein auch der Begriff Vergebung gehört. „Ein ruhiges Gewissen ist sein sanftes Ruhekissen“ sagt ein altes Sprichwort.

Welche Rolle spielen Vergebung und Schuld im alltäglichen Leben? Wird unsere Gesellschaft in letzter Konsequenz nicht doch von negativen Gedanken wie Bedrohungen durch andere Mächte und Religionen beherrscht, und so eine Ausweglosigkeit aufgezeigt, die ein bestimmtes Handeln, unabhängig von der Ebene, auf der sich das alles abspielt? Therapeuten kämpfen immer wieder gegen diese Problematik der inneren Zerrissenheit an, denn die Erkenntnis von persönlicher Schuld ohne Vergebung führt häufig zu einer Niedergeschla-genheit, unter der die Menschen dann leiden. Therapeutisch gesehen führt der Weg zu einem Gespräch mit dem Ziel, die Schuld mit dem Betroffenen zu klären, sie auszuräumen. Ganz menschlich gesehen gehen wir von dem Wissen aus, dass sich alle Menschen in irgendeiner Form persönliche Schuld auf ihr Gewissen geladen haben, keine Therapie machen, aber sich dabei sehr der Tatsache bewusst sind, dass sie die Vergebung brauchen; diese Erkenntnis betrifft nicht nur ganz weltlich gesehen den Alltag und das tägliche Geschehen, sondern gilt ebenso in der Glaubensfrage, damit ein ruhiger Schlafen und ein ruhiges Leben wieder möglich werden.

Der Begriff Schuld ist aber nicht nur auf die Religion, bzw. den Glauben beschränkt; er ist vielmehr ein Begriff des alltäglichen Lebens geworden.

Sie, die Schuld gehört zum Dasein des Menschen, aus der sich keiner aus eigener Kraft lösen, also sich selbst befreien kann. Da sie aber immer und bei allen Menschen vorhanden ist, stört sie das dialogische Verhältnis der Menschen untereinander und auch das persönliche Verhältnis des Einzelnen zu Gott. Erst und nur durch die Vergebung wird dieses Verhältnis wieder in Ordnung gebracht.

Im Sprachgebrauch unserer Zeit haben wir eine Formulierung, die so in ihrem Inhalt nicht stimmt, denn wir können nicht „ich entschuldige mich“ sagen; entschuldigen muss immer der andere. Die richtige Formulierung muss also „bitte entschuldigt mich“ lauten.

Auch in der Beziehung zu Gott ist der Mensch auf die Vergebung durch ihn angewiesen. Hier stehen dann die ganz persönliche Fragen im Focus der Besinnung: Ich habe eine persönliche Schuld vor Gott. Kann ich das Vergebungsangebot von Gott für mich annehmen und im Umgang mit anderen Menschen umsetzen?

Wir wissen, dass Vergebung befreit und wieder neuen Lebensmut schenkt.

Vergebung von Schuld schafft die Freiheit die wir brauchen und gibt uns Luft zum befreiten „Atmen“. Ergo sind Schuld und Vergebung Wortpaar, das unzertrennlich ist, denn das Eine bedingt das Andere.

Vergebung und Schuld sind nicht nur Begriffe und Bestandteile des profanen Lebens, sondern sie sind auch ein fester Bestandteil im dogmatischen Denken in der Theologie und somit des Glaubens.

Die Bibel kennt bei dem Begriff Vergebung auch in Form verschiedener anderer Worte; sie spricht dann von

1. aufheben
2. wegnehmen
3. verzeihen
4. abwischen
5. verzeihen
6. tilgen
7. bezahlen
8. abtragen

Der Hintergrund von Vergebung ist in zwei Bereichen/Ebenen zu sehen:

1. akute Schuld des Menschen am Mitmenschen und
2. in der Schuld, in der sich der Menschen dadurch gegen Gott verstrickt hat.

Im christlichen Verständnis findet sich der Begriff Vergebung an zwei ganz besondern Stelle. Leider machen wir uns nur zu selten Gedanken über diese gesprochenen Worte:

1. Im Apostolikum (Glaubensbekenntnis) im 3. Artikel

(dort heißt es: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“)

2. im Vater unser in der 5. Bitte („Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unsern Schuldnern“[1])

Zwei folgenschwere Bitten, denn mit der Vergebung von uns aus auf den anderen Menschen bezogen, ist das so eine Sache; es fällt uns so enorm schwer, zumal dann, wenn wir uns im Recht fühlen, meinen oder glauben. Jesus Christus will uns da ein Vorbild sein, denn er tut nichts anderes, als die Schuld der Menschheit auf sich zu laden und zum Kreuz zu tragen.

Jesus ist eben stärker als die Schuld, denn er ist der Weg zur Vergebung. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, denn durch mich“[2], heißt es dazu im Johannesevangelium, Kapitel 16, im 6. Vers. Es gibt eine wunderschöne, künstlerische, fotografische Darstellung. Ich habe diese Bild von einer lieben Freundin bekommen. Darauf, einem Foto von Hans Kremer aus Aachen, ist Jesus Christus dargestellt, wie er den toten Judas über seine Schultern gelegt trägt. Dieses in Stein geschlagene Bild stammt seinerseits aus dem 12. Jahrhundert und verdeutlicht die unendliche Größe Jesu, die Barmherzigkeit Gottes, indem Jesus Vergebung dokumentiert, nicht Schuldzuweisung. Das sind nicht leere Worthülsen, sondern das ist Vergebung dargestellt, so wie Jesus sie in seinem Leben beschrieben hat. Der Mensch, der ganz menschlich gesehen sein Leiden und Sterben durch einen Kuss ins Rollen gebracht hat, ruht auf seinen Schultern. Wo Menschen Judas bereits in den Fängen des Satans sehen, verurteilt Jesus nicht, sondern zeigt beispielhaft, wie Vergebung auszusehen hat. Das ist göttliche Größe, das ist Barmherzigkeit.

Auf Grund dieses Wissens, also auf Grund seiner Glaubensüberzeugung bittet der Christ den lebendigen Gott wegen sündhaften Verhaltens, also seiner Schuldverhaftetheit, um Vergebung seiner Sünden – seiner Schuld.

Im AT behält sich Gott alleine das Recht zur Vergebung vor. Seine unendliche

Barmherzigkeit ist größer als jede denkbare Schuld; deshalb verzichtet Gott auf Strafe und bedeckt die Schuld der Menschheit. Im Psalm 32, 1 heißt es: „Wohl dem, dessen Übertretungen vergeben und dessen Sünde bedeckt ist“[3] ; Er vergibt jedem Umkehrer und schenkt ihm neues Leben.

Im NT ist mit Jesus Christus ein neuer und anderer Weg dargestellt:

Jesus hat die Vollmacht, auf dieser Erde Sünden zu vergeben Markus 2,5 („Und als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmtem: ‚Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.’“).[4]

Vergebung heißt immer Umkehr und Sündenbekenntnis.

Vergebung wird nur durch das Leiden und Sterben von Jesus Christus möglich. Ohne Blutvergießen ist Vergebung nicht möglich, gibt es keine Vergebung.

Menschen, die sich der Vergebung entziehen, erlangen auch bei Gott keine Vergebung Mt. 6,12 (5. Bitte im Vater unser); das neue Testament macht das sehr klar und drastisch deutlich:

Schuld bezeichnet in unserem Rechtsverständnis eine nicht erfüllte Verpflichtung (Darlehen, Zahlungsrückstand)

Bei nicht rechtzeitiger Ablösung (Erfüllung) erfolgen Rechtsmittel, das heißt Zwangsmittel (früher waren das Zwangshaft, Schuldknechtschaft). In der Bibel,

und somit aus christlicher Sicht, verhält es sich einwenig anders. Im Gleichnis „vom großmütigen König und seinem unbarmherzigen Knecht“ in Mt 18, 23 ff. setzt ein anderes Denken ein und macht damit deutlich, dass dieses rechtliche Denken im Bezug auf Schuld zwischen Gott und Mensch unmöglich ist;

die menschliche Schuld Gott gegenüber ist so groß, dass es für den Menschen keine echte oder reale Möglichkeit gibt, sich davon wieder frei zu machen. Gottes Güte verzichtet auf eine Ablösung und schenkt Leben und Freiheit. Stellt sich der Mensch nun aber gegenüber seinem Mitmenschen menschlich-rechtlich denkend ein und handelt folgedessen dann auch so, dann macht Gott mit diesem Menschen im Blick auf Vergebung dasselbe. Damit bleibt der Mensch dann ewig in der Schuld verhaftet.

Jesus hat durch sein Kreuz den Schuldschein vernichtet. Objektiv ist die Menschheit bereits von der Schuld erlöst (Kol. 2,14 „dadurch, dass er die gegen uns lautende Urkunde austilgte, die durch die Satzungen wider uns war; und er hat sie aus dem Weg geräumt, indem er sie ans Kreuz heftete“[5]) Die Schuld herrscht in unserem Leben aber immer noch in Form von Krieg und unzähligen Formen von gelebten Hass. Der einzelne Mensch kann die Wirkung der Erlösung nur erfahren, wenn Gottes Gnade ihn dazu beruft, er bereit ist, sich von Gott rufen zu lassen.

Vergebung der Schuld bedeutet im religiösen Sinn die Schöpferische Neubegründung und Neugestaltung des Verhältnisses des Menschen zu Gott. Der Prophet Jesaja sagt das in Kapitel 53 Vers 5 so: „Und er war durchbohrt um unserer Sünden, zerschlagen um unserer Verschuldung willen; die Strafe lag auf ihm zu unserem Heil, und durch seine Wunden sind wir genesen“.

Die Vergebung ist also nicht als Übersehen oder auch Ungeschehen machen zu deuten oder gar zu verstehen.

Zur Vergebung gehört aber auch Mut, denn der Mensch braucht nicht nur die Vergebung, sondern er muss auch selbst vergeben, versuchen, sein Leben und seinen Lebensstil zu verändern, um glaubwürdig zu bleiben. Natürlich stellt sich dann die Frage, muss ich eigentlich immer vergeben? Ist nicht das Maß auch einmal voll? Muss ich mir als Christ denn alles gefallen lassen? Die Antwort der Bibel ist eindeutig. Die Antwort ist „Ja, ich muss“, denn Jesus antwortet auf diese Frage ganz klar und eindeutig im Matthäusevangelium, Kapitel 18 in den Versen 21-22: „Da trat Petrus hinzu und sagte zu ihm: Wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern bis 77mal“.[6] Martin Luther übersetzt diese Bibelstelle so: „Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal“ (Die Bibel nach der Übersetzung D. Martin Luthers, Bergische Bibelgesellschaft, Elberfeld, von der Privileg. Württ. Bibelanstalt, Stuttgart, NT Seite 25, Vers 22 in der linken Spalte).Hier geht es nicht um ein Zahlenspiel, nicht um ein ausrechenbares Ergebnis, sondern um das Begreifen, das man Vergebung nicht in Zahlen fassen kann, nicht auf eine Zahl festlegen kann. Es kommt also nicht auf die Anzahl der Vergebungen an, sondern darauf, dass wir etwas Begreifen: Wer von Gott als Mensch für seine vielfältige Schuld Vergebung erwartet – übrigens ein ganzes Leben lang und somit in einer nicht fassbaren Zahl – dann ist es völlig klar, dass dieses Vergeben in gleicher Weise auch zwischen den Menschen so stattfinden muss.

Selbst wenn wir aus diesem Leben ausscheiden ist Vergebung eine wichtige Station im menschlichen Geschehen, denn schon der Volksmund sagt, dass zum Sterben Vergebung gehört: „Der Mensch muss mit seinen Mitmenschen im Reinen sein, sonst kann er nicht sterben!“ Ich erinnere mich an ein Geschehen in der Sterbebegleitung: Eine liebe, alte Dame hatte eine Tochter. Die beiden hatten ständig Streit. Die unterschiedlichsten und kleinsten Dinge konnten schon heftige Diskussionen auslösen. Die Tochter bestimmte, die Mutter folgte. Beide waren vermögend. Die Mutter wohnte zur Miete, die Tochter in einem großen Haus. Auf die Frage, ob sie denn nicht bei der Tochter einziehen wollte, sagte sie klar und strikt: „Niemals!“ Was mit den beiden war, erfuhr ich, als die Mutter infolge zweier Schlaganfälle im Sterben lag. Sie quälte sich und „konnte“ nicht von dieser Welt loslassen, denn das Geschehen mit der Tochter war nicht im Reinen. Mit viel Mühe gelang es, Mutter und Tochter zu einem Gespräch am Sterbebett zu bewegen.

Was sich da alles ereignete gehört nicht hier her, aber das Ergebnis war wunderschön, denn die beiden verabschiedeten mit einem Lächeln voneinander. Alles war ausgesprochen worden, das Verhältnis war im Reinen. Nur wenige Stunden später durfte die Mutter ihre letzte Reise zum lebendigen Gott antreten.

[...]


[1] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, NT Seite 11, rechte Spalte

[2] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, NT Seite 141, rechte Spalte oben

[3] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, AT Seite 576 linke Spalte

[4] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, NT, Seite 49, rechte Spalte

[5] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, NT Seite 261, rechte Spalte

[6] Zürcher Bibel, Württembergische Bibelanstalt Stuttgart, 1967, NT Seite 30, linke Spalte

Fin de l'extrait de 48 pages

Résumé des informations

Titre
Als Christ muss ich mein Leben täglich neu überdenken
Sous-titre
Gedanken, die mich dabei bewegen an unterschiedlichen Texten dargestellt
Auteur
Année
2008
Pages
48
N° de catalogue
V93675
ISBN (ebook)
9783640105632
ISBN (Livre)
9783640113477
Taille d'un fichier
774 KB
Langue
allemand
Mots clés
Sich als Christ im Leben hinterfragen, christliche Verantwortung erkennen und umsetzen, ethische Fragen neu überdenken, Verantwortung als Christ übernehmen, Veränderung christlicher Werte im Laufe der Zeit, sich den Anforderungen Gottes an das eigene Leben stellen, nach den Früchten des Glaubens im eigenen Leben suchen
Citation du texte
Religionspädagoge Günter-Manfred Pracher (Auteur), 2008, Als Christ muss ich mein Leben täglich neu überdenken, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/93675

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