Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemaufriss
1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
1.3 Rechtfertigung vs. moralische Rechtfertigung
2 Tierexperimente und ihr Nutzen
3 Möglichkeiten der philosophischen Rechtfertigung von Tierversuchen
3.1 Pathoinklusive und speziezistische Begründung
3.2 Argumente zur Rechtfertigung von Tierversuchen
3.2.1 Ausschluss von Tieren aus der Vernunftgemeinschaft
3.2.2 Das Kriterium der Leidensfähigkeit
3.2.3 Unterschiedliche Gewichtung von Interessen
4 Möglichkeiten der philosophischen Ablehnung von Tierexperimenten
4.1 Abolitionistische Position: Peter Singer
4.2 Wohlergehen vs. Rechte
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemaufriss
Als im Januar 2018 bekannt wurde, dass Volkswagen in den USA zum Testen von Abgasfiltern in seinen Autos Affen eingesetzt hat, war die Empörung groß. Es war davon die Rede, dass der Automobilhersteller sich mit diesen Tests unethisch verhalten würde, selbst die deutsche Bundeskanzlerin zeigte sich empört (vgl. Gerhard/Fischer 2018, o.S.). Wenn aber Tierversuche, egal welcher Art, als unethisch bezeichnet werden, dann wird dafür ein Wertmaßstab angewendet, der Tiere auf einer Ebene mit Menschen betrachtet. Dies ist insofern erstaunlich, als dass die zum Teil katastrophalen Bedingungen, unter denen Tiere für die Ernährung von Menschen gehalten werden, nur selten kritisiert werden. Auch wenn viele Menschen wissen, dass das Fleisch, welches sie verzehren, aus der Massentierhaltung stammt, nimmt der weltweite Fleischkonsum immer weiter zu (vgl. Wolf 2012, S. 12): Damit liegt bspw. der deutschlandweite Fleischkonsum in 2016 bei mehr als 88 Kilogramm pro Person, wovon rund 60 Kilogramm dem reinen menschlichen Verzehr, ohne Beachtung der industriellen Verwendung) zugeschrieben werden (vgl. Fleischatlas 2016).
Das moralische Verhältnis von Menschen gegenüber Tieren wurde in der Philosophie lange Zeit nicht thematisiert. Einzig im Utilitarismus wurden Tiere von Beginn an mitbedacht. Jeremy Bentham, einer der Gründerväter dieses Ansatzes, hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgende Hoffnung: „Der Tag mag kommen, an dem der Rest der belebten Schöpfung jene Rechte erwerben wird, die ihm nur von der Hand der Tyrannei vorenthalten werden konnten. Die Franzosen haben bereits entdeckt, dass die Schwärze der Haut kein Grund ist, ein menschliches Wesen hilflos der Laune eines Peinigers auszuliefern. Vielleicht wird eines Tages erkannt werden, dass die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die Endung des Kreuzbeins ebenso wenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. Was sonst sollte die unüberschreitbare Linie ausmachen? Ist es die Fähigkeit des Verstandes oder vielleicht die Fähigkeit der Rede? Ein voll ausgewachsenes Pferd aber oder ein Hund ist unvergleichlich verständiger und mitteilsamer als ein einen Tag oder eine Woche alter Säugling oder sogar als ein Säugling von einem Monat. Doch selbst wenn es anders wäre, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht: können sie verständig denken? Oder: können sie sprechen? Sondern: können sie leiden?" (Singer 1982, S. 26f.). Der Utilitarismus nimmt in der moralischen Rechtfertigung von Tierversuchen eine zentrale Rolle ein, weil sich mit ihm v.a. die Ablehnung von Tierversuchen begründen lässt. Sobald aber Tiere in die Moral einbezogen werden, stellt sich die Frage, warum Tierversuche erlaubt und Menschenversuche verboten sein sollen (vgl. Wolf 2012, S. 136).
1.2 Fragestellung und Aufbau der Arbeit
In der vorliegenden Arbeit soll überprüft werden, inwieweit sich Tierversuche moralisch rechtfertigen lassen. Angesichts der Literatur, die sich mit dem Thema befasst, sollte die Frage allerdings eher lauten, inwieweit sich Tierversuche nicht moralisch rechtfertigen lassen, denn es liegt mehr Literatur der Gegner von Tierversuchen vor als von Befürwortern.
Das Tierreich ist unglaublich mannigfaltig und reicht von einfachsten Lebewesen ohne zentrales Nervensystem bis zu hoch entwickelten Menschenaffen, die entwicklungsgeschichtlich sehr nah am Menschen sind. In der vorliegenden Arbeit wird der Tier-Begriff undifferenziert verwendet und es wird nicht explizit zwischen sog. höheren und niederen Tieren unterschieden. Implizit wird v.a. über Tiere gesprochen, die zumindest ein zentrales Nervensystem haben und dadurch Schmerzen empfinden können, weil das Kriterium der Leidensfähigkeit in der Argumentation eine wichtige Rolle spielt. Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Klassen von Tieren würde für die vorliegende Arbeit allerdings zu weit führen und soll deswegen ausgeblendet werden.
Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Vorab wird kurz erklärt, was eine moralische Rechtfertigung ausmacht (Abschnitt 1.3). Im zweiten Abschnitt wird der Nutzen von Tierversuchen v.a. aus medizinischer Sicht beschrieben, außerdem wird an Hand von Zahlen belegt, wie häufig Tierversuche überhaupt eingesetzt werden. Im dritten Abschnitt werden Möglichkeiten vorgestellt, Tierversuche moralisch zu begründen. Weiterhin werden im vierten Teil weitere Ansätze vorgestellt, die zeigen, dass es moralisch geboten ist, Tierversuche nicht durchzuführen.
1.3 Rechtfertigung vs. moralische Rechtfertigung
Wenn die Frage dieser Arbeit lautet, inwieweit sich Tierversuche moralisch rechtfertigen lassen, muss vorab geklärt werden, wie aus einer Rechtfertigung eine moralische Rechtfertigung wird. Grundsätzlich wird zwischen juridischer und moralischer Rechtfertigung unterschieden, was jeweils auf der Basis juridischer bzw. moralischer Rechte geschieht. Juridische Rechte werden vom geltenden Recht abgeleitet, worunter objektiv die normativen Verbindlichkeiten verstanden werden, die in einer Gemeinschaft gelten. Solche Rechtsnormen können in geschriebener oder ungeschriebener Form vorliegen. Im ersten Fall handelt es sich um Gesetze und ihre richterliche Auslegung, im zweiten Fall um Gewohnheitsrecht. Juridisches Recht enthält dabei immer moralische Begriffe, wie z.B. Glauben, gute Sitten, Arglist usw. (vgl. Höffe 1992b, S. 221). Daran zeigt sich, dass der Bereich der Moral dem des Rechts vorgelagert ist. Der deutsche Begriff Moral geht auf den lateinischen Begriff mores zurück, der Sitten oder Charakter bedeutet. Moral und Sitte „stellen den für die Daseinsweise der Menschen konstitutiven […] normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst dar“ (ebd., S. 185f.). Dabei sind Moralprinzipien übersubjektiv verbindlich: „ Moral prinzipien sind, das kennzeichnet die Form der Moral, nicht einfach subjektive Handlungsregeln, sondern soziale Normen, die Verpflichtungen generieren“ (Wolf 2012, S. 14). Moralische Rechtfertigungen haben also immer einen sozialen Bezug. Sie verweisen darauf, warum etwas im Bezug auf die allgemein üblichen Sitten ge- oder verboten ist. Kant sprach in diesem Sinne von einem Sittengesetz, das Menschen in ihrem Handeln achten sollten (vgl. Kant, GMS, AA 400).
Moral und Recht hängen eng zusammen, weil sich aus der Moral überhaupt erst ableiten lässt, welche Gruppe von Individuen Zugang zu bestimmten Rechten hat (vgl. Stemmer 2013, S. 53). Hierfür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Aus der antiken Tradition stammt beispielsweise die Ansicht, die Vernunft stelle die Grundlage der Moral dar, während utilitaristische Denker die Leidensfähigkeit als Grundlage bestimmen (vgl. ebd., S. 175). Aus beiden Ansichten ergibt sich ein unterschiedlich weiter Kreis von Betroffenen. Für die moralische Rechtfertigung von Tierversuchen wird also wesentlich sein, wer als moralisch und damit als Rechtssubjekt definiert wird.
2 Tierexperimente und ihr Nutzen
Tierversuche gelten als eine der wesentlichen Grundlagen der westlichen Medizin (vgl. DFG 2016, S. 4). Die Notwendigkeit der Experimente wird von Seiten der ForscherInnen damit begründet, dass sich über diese Versuche das Wissen über den Menschen erhöht. Beispielsweise können Medikamente oder neue Operationstechniken an Tieren getestet werden und erst, wenn ihre Wirksamkeit nachgewiesen ist, für Menschen eingesetzt werden, wodurch sich die Überlebenschancen für Menschen verbessern lassen (vgl. Wolf 2012, S. 17). Eine moralische Rechtfertigung von Tierversuchen findet innerhalb der Wissenschaften, die solche Versuche nutzen, oft nicht statt, sondern wird meist von außen angestoßen. Innerhalb der anwendenden Wissenschaften werden moralische Bedenken mit Verweis auf das hohe Gut der Forschungsfreiheit ausgeblendet (vgl. ebd., S. 137).
Tierversuche spielen in der Wissenschaft schon lange eine wichtige Rolle. Das deutsche Tierschutzgesetz definiert in § 7 Tierversuche als „ Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken (1) an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder (2) am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können “ (Tierschutzgesetz, Fassung von 2013, S. 8). Nach Zahlen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft wurden im Jahr 2016 zwei Millionen Tiere in Versuchen eingesetzt. Der Großteil davon, nämlich 79 Prozent, waren Nagetiere, vor allem Mäuse und Ratten. Affen und Halbaffen wurden nur in geringer Zahl zu Tests eingesetzt (2462), Menschenaffen werden in Deutschland seit 1991 nicht mehr für wissenschaftliche Tests verwendet (vgl. Marx/Lindner 2018, o.S.). In einigen Bereichen sind Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben, z.B. im Rahmen von Zulassungsverfahren für Medikamente. Hier verringert sich die Anzahl der durchgeführten Tierversuche seit einigen Jahren, weil mit tierversuchsfreien Methoden geforscht wird, etwa Zellkulturen, Gewebeschnitten, computergestützten Rechenmodellen sowie klinischer und epidemiologischer Forschung. In anderen Bereichen aber nimmt die Zahl der Tierversuche zu: etwa bei Genexperimenten oder im Zusammenhang mit der Grundlagenforschung (vgl. Ärzte gegen Tierversuche 2017, o.S.). Im Jahr 2014 wurde eine Neufassung der EU-Tierversuchsrichtlinie erlassen, nach welcher auch der Schweregrad des jeweiligen Tierversuchs erfasst wird. Die Einschätzung, wie schwer ein Tierversuch (für das Tier) ist, wird von den durchführenden ForscherInnen getroffen. Im selben Jahr wurden 5,2% der Versuche vom Grad her als „schwer“, 23% als „mittel“ und 61% als „gering“ eingeschätzt, bei weiteren 10,7% war „keine Wiederherstellung der Lebensfunktion“ möglich, was bedeutet, dass die Tiere unter Narkose getötet wurden.
Die Zahl der schweren Tierversuche hat nach der Statistik gegenüber 2015 um 2.445 Tier zugenommen (vgl. ebd.). Tendenziell nimmt die Zahl der Tierversuche insgesamt zu: im Jahr 2000 wurden in Deutschland 1,8 Millionen Tierversuche durchgeführt, 2010 waren es bereits 2,84 Millionen (vgl. Wolf 2012, S. 12).
Wenn Tiere zu Forschungszwecken genutzt werden und ihnen Leid zugefügt wird, um z.B. neue Medikamente oder Kosmetika zu testen, stellt sich die Frage, ob Tiere eine natürliche Ressource darstellen, derer Menschen sich bedienen dürfen oder ob sie nicht vielmehr auch leidensfähige Wesen sind, denen nicht grundlos Schmerzen zugefügt werden dürfen. Hierbei muss zwischen einer empirischen und einer moralischen Rechtfertigung unterschieden werden. Im empirischen Sinne steht der Nutzen der entsprechenden Versuche im Vordergrund, der allerdings aus Sicht von Menschen beurteilt wird und deswegen kaum bestritten wird (vgl. Sturma/Heinrichs 2015, S. 417). Es sind Ethiker und Philosophen, die die anwendenden Wissenschaften darauf hinweisen, dass „keine Verpflichtung eines Forschers [existiert], die Gesundheit der Gesellschaft zu fördern“ (Wolf 2012, S. 140). Der moralische Blickwinkel bietet die Möglichkeit, Tiere nicht nur als Ressource zu betrachten (wie das aus dem empirischen Blickwinkel implizit geschieht), sondern als Wesen, die ähnliche, wenn nicht sogar die gleichen Rechte haben wie Menschen.
Nach Frey lassen sich in der Ethik der Tierversuche drei unterschiedliche Positionen unterscheiden: Befürworter von Tierversuchen argumentieren, dass der für Menschen entstehende Nutzen das Leid rechtfertigt, welches Tieren durch die Experimente zugefügt wird. Nach der abolitionistischen Position, die Peter Singer, Stephen Clark oder Tom Regan vertreten, lassen sich Tierversuche nicht rechtfertigen und müssen abgeschafft werden. Eine dritte Variante stellt einen Kompromiss dar, nach dem Tierversuche in einigen Fällen gerechtfertigt sind (vgl. Frey 2016, S. 236ff.). Im Folgenden sollen verschiedene philosophische Positionen dargestellt werden, mit denen sich zum einen Tierversuche moralisch rechtfertigen lassen (Abschnitt 3) bzw. nach denen Tierversuche aus moralischen Gründen abgelehnt werden müssen (Abschnitt 4). In Abschnitt 5 wird die Kompromissvariante vorgestellt, in der Argumente aus den beiden anderen Positionen verknüpft werden.
3 Möglichkeiten der philosophischen Rechtfertigung von Tierversuchen
Tierversuche werden im allgemeinen Verständnis oft dadurch gerechtfertigt, dass sie dem Menschen einen Nutzen bringen. Solche Art von Rechtfertigung beruft sich beispielsweise auch auf die kulturelle Verankerung der Tiernutzung (vgl. Wolf 2012, S. 14). Tierversuche wären demnach gerechtfertigt, weil sie üblich sind. Allerdings setzt insbesondere das deutsche Recht hier enge Grenzen. Das deutsche Tierschutzgesetz beispielsweise bestimmt Tiere als Mitgeschöpfe des Menschen (§ 1, Absatz 1). Allerdings wird die menschliche Verantwortung gegenüber Tieren insoweit eingeschränkt, als das Gesetz vorgibt, niemand dürfe Tieren ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen (§ 1, Absatz 2). Wenn Tierversuche aber z.B. aufgrund von höheren Interessen als die eines rein vernünftigen Grundes gelten können, dann wären sie nach dem deutschen Tierschutzgesetz gerechtfertigt (vgl. Wolf 2012, S. 13). Dass Tierversuche überhaupt begründet werden müssen, geht auf den Anspruch zurück, der in § 1, Absatz 1 des deutschen Tierschutzgesetzes formuliert wird: Wenn Tiere Mitgeschöpfe sind, dann sollte ihnen per Definition kein Leid zugefügt werden (vgl. Ferrari 2016, S. 70). Der Schutz von Tieren geht in Deutschland formal sehr weit und wurde 2002 sogar ins Grundgesetz aufgenommen.
3.1 Pathoinklusive und speziezistische Begründung
In der Helsinki-Deklaration zu den ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen von 1964 wurde eine Pflicht zu Tierversuchen festgeschrieben. Diese Deklaration muss im historischen Kontext der nationalsozialistischen medizinischen Forschung an Menschen gesehen werden. Um solche Menschenversuche zu vermeiden, sollte die Forschung an Tieren verpflichtend werden (was nicht gleichbedeutend mit einer Pflicht zum Tierversuch ist; es geht eher um ein Verbot von Menschenversuchen). Nach der Helsinki-Deklaration sind Tierversuche an die Standards der guten Wissenschaft gekoppelt; sie sollten also einem Erkenntnisgewinn dienen (vgl. Ferrari 2016, S. 70).
Wenn Tierversuche solcherart als notwendig für den (menschlichen) Erkenntnisgewinn angesehen werden, dann geschieht das aus einem pathoinklusiven und speziezistischen Blickwinkel heraus. Pathoinklusiv bedeutet, „dass tierisches Leiden als Unwert gelten muss, der nur insoweit in Kauf genommen werden darf, als die Leidenszufügung einerseits geeignet ist, erwartbar höhere Güter bei Menschen und Tieren zu schützen, zu sichern oder zu verwirklichen, und andererseits dafür ,unumgänglich‘ ist“ (Leopoldina 2012, S. 12). Wenn speziezistisch argumentiert wird, dann geschieht dies vom Blickwinkel der eigenen Spezies aus. Der Begriff wurde von Peter Singer geprägt, dessen moralische Ablehnung von Tierversuchen im Abschnitt 4.1 dieser Arbeit vorgestellt wird.1 Aus einem speziezistischen Blickwinkel heraus werden Tierversuche damit gerechtfertigt, dass Tiere weniger Schmerzen empfinden als Menschen und weniger Wissen darum haben, was mit ihnen geschieht (vgl. Singer 1992, S. 401). Tiere werden in dieser Argumentation aus der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen, weshalb Handlungen, die ihnen Schmerz oder Leid zufügen würden, nicht in gleicher Weise abgelehnt werden, wie es der Fall wäre, wenn sie Menschen zugefügt würden (vgl. Frey 2016, S. 237). Widersprüchlich an solcherart Rechtfertigung von Tierversuchen ist, dass der grundsätzliche Versuchsaufbau nur funktioniert, wenn angenommen wird, „dass menschliche und nicht-menschliche Lebewesen in entscheidenden Punkten gleich sind“ (ebd., S. 94), weil die Ergebnisse aus den Tierversuchen ja auf Menschen übertragbar sein müssen. Im entscheidenden Punkt der Schmerzen aber muss von der Gleichheit zwischen Mensch und Tier abstrahiert werden, weil es sonst nicht zu rechtfertigen wäre, den Versuchstieren absichtlich Schmerzen zuzufügen.
3.2 Argumente zur Rechtfertigung von Tierversuchen
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, Tierversuche inhaltlich zu rechtfertigen. Nach der umfangreichen Auffassung ist jegliche Forschung von Menschen an Tieren erlaubt – diese Auffassung wird oft praktiziert; hierzu finden sich jedoch nur wenige explizite Begründungen. Eine größere Gruppe von Begründungen rechtfertigt lediglich die eingeschränkte Forschung an Tieren. Wenn Tierversuche in diesem zweiten Sinne auf der Grundlage ihres Nutzens für den Menschen moralisch gerechtfertigt werden, dann schwingt dabei oftmals das Bedürfnis mit, das Ausnutzen der Tiere zu beschränken. Dies geschieht häufig über das Kriterium der Leidensfähigkeit.
3.2.1 Ausschluss von Tieren aus der Vernunftgemeinschaft
Die im Tierschutz lange Zeit geltenden Begründungsansätze berufen sich u.a. auf Überlegungen von Thomas von Aquin und von Kant. Thomas von Aquin unterscheidet „eine doppelte Zuneigung des Menschen: eine gemäß der Vernunft und eine gemäß der Leidenschaft“ (zit. nach Patzig 2016, S. 253). Nach der Vernunft gilt der Mensch dem Tier gegenüber als höherwertig, was Tierversuche erlauben würde (obwohl das für Aquin selbst überhaupt keine Rolle spielte, weil sich diese Frage in seiner Zeit gar nicht stellte). Lediglich durch die Zuneigung gemäß Leidenschaft sind Tiere „mittelbar geschützt“ (Patzig 2016, S. 254). Ähnlich argumentiert Kant, bei dem es eine strenge Pflicht der gegenseitigen Gleichbehandlung zwischen Menschen gibt. Gegenüber Tieren gilt die Pflicht der Gleichbehandlung nur in abgeleiteter Form, denn „Pflichten können nur Vernunftwesen haben, und diese können auch nur gegenüber Vernunftwesen bestehen“ (ebd., S. 255).2 Nach diesem Muster argumentiert auch die Max-Planck-Gesellschaft, die die Gleichstellung von Mensch und Tier für utopisch hält (vgl. ebd., S. 256) und Tierversuche daher unter bestimmten Voraussetzungen rechtfertigt. Letztlich laufen solcherart Argumentationen darauf hinaus, die Vernunft als Ausschlusskriterium für die Gleichbehandlung zu bestimmen. Wenn Tiere dabei auch aus der moralischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden, muss über das Für und Wider von Tierversuchen gar nicht mehr nachgedacht werden (vgl. Frey 2016, S. 240). Das läuft wiederum auf das paradoxe Ergebnis hinaus, dass aus der Tatsache, dass nur Menschen durch ihre Vernunft moralisch sein können, abgeleitet werden kann, dass Menschen die moralischen Verpflichtungen gegenüber Tieren außer Kraft setzen können (vgl. Patzig 2016, S. 257). Diese Art von Begründung für Tierversuche muss also letztlich unbefriedigend bleiben. Andere Ansätze ziehen deshalb das Kriterium der Leidensfähigkeit heran, um die Möglichkeit von (bestimmten) Tierversuchen zu begründen. Diese Variante ist deswegen bemerkenswert, weil das Kriterium der Leidensfähigkeit v.a. bei der Ablehnung von Tierversuchen eine zentrale Rolle spielt.
3.2.2 Das Kriterium der Leidensfähigkeit
Die Argumentationen von Aquin und Kant hatten zwischen der Zuneigung von Menschen gegenüber Tieren nach der Vernunft und nach der Leidenschaft unterschieden. Nach der Zuneigung durch Vernunft wären Tierversuche nach diesen Auffassungen erlaubt, was aber durchaus ein moralisches Dilemma darstellt. Patzig schlägt deswegen vor, das Kriterium der Leidensfähigkeit hinzuzuziehen. Das Vernunftprinzip, von dem Tiere zwar ausgeschlossen sind, verpflichtet jedoch Menschen dazu, die Leidensfähigkeit von Tieren anzuerkennen. Dies gilt umso stärker für Tiere, die den Menschen besonders nahe stehen, also etwa Haustiere oder Menschenaffen. Wenn also anerkannt wird, dass Tiere Schmerzen empfinden können, gebietet das Vernunftprinzip, dass ihnen möglichst keine Schmerzen zugefügt werden (vgl. Patzig 2016, S. 260f.). Singer und andere leiten aus dieser Tatsache ein absolutes Verbot von Tierversuchen (und sogar von Schlachtungen zum Zweck der menschlichen Ernährung) ab. Nach Patzig lassen sich jedoch aus der Anerkennung der Leidensfähigkeit von Tieren schmerzfreie Tierversuche rechtfertigen. Voraussetzung aber ist dabei ein relevanter Nutzen aus den entsprechenden Experimenten, was z.B. Tierversuche zum Testen von Kosmetika ausschließen würde (vgl. ebd., S. 261f.). Sofern ein relevanter Nutzen als Voraussetzung für die Rechtfertigung von Tierversuchen gilt, dann ist das m.E. letztlich nur eine Spielart der oben genannten speziezistischen Begründung, dass Tierversuche gerechtfertigt sind, da die Tiere weniger Schmerzen empfinden. Wenn Tierversuche trotz der Anerkennung des tierischen Leidens dann gerechtfertigt sind, „wenn die dem Tier zugefügten Leiden im Rahmen von Versuchen stehen, die dem Ziel dienen, Leiden und Krankheit bei Menschen […] besser verhindern und bekämpfen zu können“ (Patzig 2016, S. 261), wird der Mensch mit seinen Bedürfnissen als Maßstab gesetzt, der über den Tieren steht. Wolf weist darauf hin, dass die bedingte Rechtfertigung von Tierversuchen inkonsistent ist, „denn entweder das Leiden der Tiere zählt […] oder es zählt eben nicht wirklich, dann fragt man sich, warum eigentlich nur Tierversuche und nicht auch andere Formen der Tierquälerei akzeptiert werden“ (Wolf 2012, S. 143).
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1 Singer prägt die Begriffe des Speziesismus oder Speziesisten in Anlehnung an die Begriffe Rassismus und Rassisten. Damit meint er eine Denkweise, die bei Interessenskonflikten den Interessen ihrer eigenen Spezies größeres Gewicht beimessen als den Interessen einer anderen Spezies so wie Rassisten ihrer eigenen Rasse mehr Bedeutung zumessen als anderen (vgl. Singer 1992, S. 401).
2 Kant wäre allerdings durchaus ein Gegner von Tierversuchen: er lehnt die grausame Behandlung von Tieren ab – aber nicht um der Tiere willen, sondern aus einer Verpflichtung gegenüber der Menschheit heraus. Die Tiere selbst haben für Kant keinen moralischen Wert, was die Kantische Ablehnung der grausamen Behandlung von Tieren inkonsistent macht (vgl. Wolf 2012, S. 42).