Durée. Stillstand und Dauer in Hiroshi Sugimotos Fotogrammen


Term Paper, 2009

17 Pages, Grade: 1,0


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Inhalt

Inhalt

1. Einleitung

2. Seascapes: Zurück zu den Wurzeln

3. Dioramas und Wax Museums: Erinnerung sichtbar, gemacht und konserviert für die Ewigkeit

4. Theaters: Ein ganzer Film auf einem Bild

5. Time Exposed – Durée: Erlebte Zeit als belichtete Zeit in den Fotografien Hiroshi Sugimotos

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Eine Meeresansicht, exakt mittig geteilt in Wasser und Himmel, die Zwillingstürme des World Trade Center schemenhaft in den Himmel ragend, der Innenraum eines Lichtspieltheaters, der von einer weißen Kinoleinwand erhellt wird – dass das verbindende Element der Fotoarbeiten Hiroshi Sugimotos die Zeit ist, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Der japanische Künstler, der seit 1970 in New York lebt, arbeitet in Fotoserien, die sich meist über Jahre hinstrecken. Seine Bilder sind vorwiegend in Schwarzweiß aufgenommen und zeichnen sich unter anderem durch ihre feine Abstufung der Grautöne aus. Erzielt wird dies durch die Verwendung einer alten Großbildkamera aus dem 19. Jahrhundert, die dem Künstler darüber hinaus noch besondere Möglichkeiten zur Einstellung von Schärfentiefe und Perspektive bietet. Die Themen, mit denen sich Hiroshi Sugimoto befasst, sind sehr unterschiedlich wie beispielsweise „Dioramas“, „Seascapes“ und „Theaters“ oder „ „Architecture“, „Pine Trees“ und „Wax Museums“.

Anhand von vier exemplarisch ausgewählten Fotoserien werde ich versuchen, den Zeitaspekten von Stillstand und Dauer in seinen Werken nachzugehen und mich dabei vorwiegend auf den vom französischen Philosophen Bergson geprägten Begriff „durée“ beziehen.

Laut Gottfried Boehm ist das Medium Bild ein selbstständiges und vom verbalen unabhängiges System der Signaldarstellung mit eigenen Explikationsmöglichkeiten von Erkenntnis.1

Hiroshi Sugimoto selbst gibt als übergeordnetes Thema drei seiner Fotoserien „Time Exposed“ an, also belichtete Zeit. Die Frage, die es zu klären gilt, lautet: Wie kann mittels belichteter Zeit erlebte Zeit erfahrbar gemacht werden?

2. Seascapes: Zurück zu den Wurzeln

Ob das Mittelmeer bei Cassis, die Karibische See bei Jamaika oder das Tote Meer in Israel: Hiroshi Sugimoto hat den gesamten Globus bereist, um Meeresansichten aufzunehmen, und zwar stets mit demselben Bildausschnitt (Abb. 1 und 2). Zu sehen sind ausschließlich Wasser und Himmel, jeweils genau in der Mitte geteilt durch den Horizont. Kein Schiff, kein Fels oder Vogel lenken von den dargestellten Elementen Wasser und Luft ab und ohne den Werktitel ist auch der Ort der Aufnahme nicht zu identifizieren. Einzig durch wechselnde Tageszeiten sowie verschiedene Wind- und Wetterbedingungen unterscheiden sich die Bilder. Mal ist der Himmel düster und wolkenbehangen, mal hell und klar, auf einem Bild ist die See ruhig, auf einem anderen kräuseln sich Wellen.

Der Grundgedanke, der dahinter steckt, ist die Suche nach einem Bild der Welt, so wie sie sich unseren Vorfahren gezeigt hat. Andere Naturlandschaften wie Berge oder Ebenen schienen Hiroshi Sugimoto nicht geeignet, weil sie sich im Laufe der Jahre verändert haben:

„In den Seascapes beschäftige ich mich mit der Idee des allerersten Menschen auf dieser Erde. Er besitzt noch keine Sprache, aber ein Bewusstsein des eigenen Daseins. Er blickt auf den Ozean, und es wird ihm auf einmal bewusst, dass es eine Trennung zwischen ihm und der Außenwelt gibt.“2

Beim Betrachten des Bildes soll es dem Rezipienten nicht nur ermöglicht werden, exakt dasselbe zu sehen, wie es vor Jahrmillionen die urzeitlichen Menschen gesehen haben, sondern darüber hinaus sich in ihre Gefühlswelt ein Stück weit einzufühlen, um so gleichzeitig einen Teil der eigenen menschlichen Geschichte zu begreifen.

Die dem zugrunde liegende Idee von Zeitdauer erstreckt sich von der Urzeit bis heute, die in einem einzigen Bild eingefangen ist. Hierbei handelt es sich nicht um eine quantitative, also messbare Zeiterfahrung, sondern um ein qualitatives Erfassen von Zeit, das nur in einer Art „erweiterter Wahrnehmung“ zu erfahren ist. Der französische Philosoph Henri Bergson hat hierfür den Begriff „ la durée“ eingeführt, mit dem er das Erlebnis einer individuellen Zeiteinheit meint, die weder messbar noch teilbar ist. Im Gegensatz zur deutschen Übersetzung „Dauer“ nennt Bergson sie auch „erlebte Zeit“3: „„Die reine Dauer“, sagt Bergson, „ist die Form, die die Sukzession unserer Bewusstseinszustände annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überlässt, wenn es sich dessen enthält, zwischen den gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.“4

Hiroshi Sugimoto weist über den Zeitaspekt hinaus auf die religiöse Dimension seiner Bilder hin. Er selbst steht dem Zen-Buddhismus nahe. Zen-Erkenntnis ist nicht wie die analytische Erkenntnis durch Zergliederung, Kausalität und zeitliche Dauer im Sinne eines kontinuierlichen Fortschreitens gekennzeichnet, sondern zielt auf einen Sprung des Bewusstseins in eine höhere Ebene. Der Augenblick der Erkenntnis wird als der Übergang von einer unterscheidenden Form des Denkens in eine nichtunterscheidende, nichtanalytische Form des Erkennens verstanden, die nur außersprachlich zu vermitteln ist.5

Nichts anderes, wenn auch in einem anderen Kontext zu sehen, beschreibt Bergson mit seinem Begriff „la durée“.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 Hiroshi Sugimoto: Black Sea, Ozuluce, 1944, in: BROUGHER, Kerry; MÜLLER-TAMM, Pia: Hiroshi Sugimoto. Ostfildern 2007, S. 124.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 Hiroshi Sugimoto: English Channel, Weston Cliff, 1944, in: BROUGHER, Kerry; MÜLLER-TAMM, Pia: Hiroshi Sugimoto. Ostfildern 2007, English Channel, Weston Cliff, 1944, HS S. 135.

3. Dioramas und Wax Museums: Erinnerung sichtbar, gemacht und konserviert für die Ewigkeit

Die zwei 1976 begonnenen Serien „Dioramas“ (Abb. 3 und 4) und „Wax Museums“ (Abb. 5 und 6) haben beide die illusionistischen Schaukästen von Naturkunde- und Wachsmuseen zum Inhalt. Anhand dreidimensionaler Nachbildungen, die vor gemalten Kulissen stehen, wird der lebensnahe Eindruck einer Szene aus der prähistorischen Zeit oder dem Leben einer berühmten Persönlichkeit gezeigt. Als mit Fantasie angereicherte quasi Abbilder der Realität versuchen sie die Welt von Gestern zu neuem Leben zu erwecken. Sie überraschen den Betrachter mit der Authentizität ihrer Fälschung und wirken dennoch wie in Zeitlosigkeit eingefroren, gewissermaßen mumifiziert.

Hiroshi Sugimoto bildete die Inhalte der Dioramas ohne störendes Beiwerk wie Einrahmungen oder Erläuterungstafeln in Schwarzweiß ab. Seine Aufnahmen wirken realistischer als die Schauobjekte selbst. Sugimoto gibt als Erklärung hierfür die fehlende Farbe an. Schwarzweiß ist eine Abstraktion von der realen Welt und vermittelt deshalb einen realistischeren Eindruck. Man projiziert nicht nur die eigene Farbvorstellung auf das Schwarzweiß-Bild, sondern aktiviert gleichzeitig auch die eigene Vorstellungskraft und versetzt sich selbst in den Glauben, dass dies die reale Welt sei:

„Mein Anliegen ist es, mit den Mitteln der Fotografie eine uralte Stufe der menschlichen Erinnerung sichtbar zu machen. Ob individuelle oder kulturelle Erinnerung oder die kollektive Erinnerung der Menschheit insgesamt: Es geht darum, in die Vergangenheit zurückzugehen und sich zu erinnern, woher wir kommen und wie wir entstanden sind.“6

Damit gilt für die Dioramas Ähnliches wie für die Seascapes:

„Die wahre Dauer (la durée) wird als intensive Größe perzipiert – erscheint im Durchdringungsprozess der Bewusstseinsvorgänge. Diesen qualitativen Bewusstseinszustand vermag der Mensch nur durch symbolische Vorstellungen und raum-zeitliche Bilder zum Ausdruck zu bringen.“7

Obwohl im Gegensatz zu Meer und Himmel unbeweglich und künstlich, erstreckt sich die den Bildern zugrunde liegende Idee von Zeitdauer von der Urzeit bis heute. Zu erfahren ist sie nur, wenn der Betrachter sich auf qualitatives Zeiterleben einlässt und versucht, die alltägliche Erfahrung einer quantitativ messbaren Zeit dabei auszuschalten.

Etwas anders liegt der Fokus bei den Wax Museums. Hier spielt die Verdichtung der Zeit und der Ereignisse in einem einzigen Symbol eine Rolle. Jede Figur wurde auf dem Höhepunkt des Lebens, sozusagen in ihrem persönlichen fruchtbaren Moment, in Wachs gegossen, um so für die Nachwelt unsterblich zu bleiben. Laut Hiroshi Sugimoto dokumentiert er mit jeder Wachsfigur das ganze Leben eines Menschen.8

Damit gilt für die Wachsfiguren ein Aspekt desselben Zeit-Prinzips wie für die Theaters, die im folgenden Kapitel behandelt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3 Hiroshi Sugimoto: Cro-Magnon, 1994, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 4.

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Abb. 4 Hiroshi Sugimoto: Neanderthal, 1994, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 3.

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Abb. 5 Hiroshi Sugimoto: Pope John Paul, 1994, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 27.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 6 Hiroshi Sugimoto: The Royal Family, 1994, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 27.

4. Theaters: Ein ganzer Film auf einem Bild

Die leeren Innenräume amerikanischer Lichtspielhäuser der 1920er und 1930er Jahre sind die Motive der „Theaters“-Fotoserie, die Hiroshi Sugimoto 1978 begann. Zu sehen ist jeweils die Leinwand als weißes Rechteck in der Bildmitte, das den oftmals aufwendig gestalteten Kinosaal beleuchtet (Abb. 7 und 8).

Für jede seiner Aufnahmen postierte Sugimoto seine Großbildkamera hinter den Köpfen der Zuschauer etwa in der Höhe des Filmprojektors, sodass er nicht den Blick des Zuschauers auf die Leinwand, sondern den des Filmvorführers auf den Innenraum wiedergab. Den Verschluss der Kamera hielt er während der gesamten Abspielzeit des Filmes geöffnet. Er schloss ihn erst nach Beendigung der Vorstellung. Die offene Blende verwandelt den Film, der sich mit vierundzwanzig Bildern pro Sekunde auf der Leinwand abspult, in ein weißes Feld. Aus den Laufbildern des Films ist ein Standfoto geworden, das den gesamten Film enthält, ohne dass auch nur ein einziges Bild dieses Films sichtbar ist. Oder anders gesagt stellen die Bilder die ruhende Zeit als Gegenbild zu unterbrochener Zeit aus.9

„Filme haben von Hause aus keine physische Existenz. Sie existieren nicht in der Filmrolle, in der sie gespeichert sind, sondern in der ephemeren Projektion, deren Bilder nur im Besucher, aber nicht auf der Leinwand zurückbleiben, weshalb sie der Fotograf nicht einfangen kann.“10

Während die lange Belichtungszeit die Leinwand in ein weißes Rechteck verwandelt, sammelt sich das umgebende Streulicht in der Kamera und lässt den Zuschauerraum langsam sichtbar werden. Durch die Dauer der Aufnahme kristallisiert sich die Innenarchitektur zum Rahmen.11 Damit ist nicht die filmische Projektion, sondern der Ort festgehalten, an dem sie aufgeführt wird. Das steht im Gegensatz zur Wahrnehmung des Kinobesuchers: Er sieht nur den Film auf der Leinwand, während die räumliche Umgebung für ihn im Dunkeln liegt.

Interessanterweise hat Sugimoto diese Fotoserie „Theaters“ genannt. Im Amerikanischen heißen Kinos eigentlich „Movie Theaters“. Film wie Kino werden umgangssprachlich „Movie“ genannt: „Let’s go to the movies“. Mit dem Begriff „Theaters“, der aus dem Griechischen und Lateinischen kommt und Zuschauerraum bedeutet, benennt Sugimoto letztlich das, was vordergründig auf seinen Fotos zu sehen ist. Die Filme sind immer gleich, nur die Lichtspielhäuser unterscheiden sich.

[...]


1 BOEHM, Gottfried: Bild und Zeit, in: PAFLIK-HUBER, Hannelore (Hg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 1-24.

2 KELLEIN, Thomas: Naturverehrung und Totenkult im Werk von Sugimoto, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto, Time Exposed, Basel 1995, S. 52.

3 HOFFMANN, Gabriele: Intuition, durée und simultanéité, in: PAFLIK-HUBER, Hannelore: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, Weinheim 1987, S. 44.

4 BERGSON, Henri: Zeit und Freiheit, Meisenheim am Glan 1949, S. 67.

5 GANSLANDT, Rüdiger: Der Augenblick der Erkenntnis in Zen-Buddhismus und Zen-Kunst, in: THOMSEN, Christian: Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur u. Zeitmetaphorik, Darmstadt 1984. S. 121-142.

6 KELLEIN, Thomas: Interview mit Hiroshi Sugimoto, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 89-91.

7 THOMSEN, Christian: Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur u. Zeitmetaphorik in Kunst u. Wiss., Darmstadt 1984, S. 27-28.

8 KELLEIN, Thomas: Interview mit Hiroshi Sugimoto, in: KELLEIN, Thomas: Hiroshi Sugimoto. Time Exposed, Basel 1995, S. 89-92.

9 BELTING, Hans: Sugimotos Filme, in: HENSEL, Thomas: Das bewegte Bild: Film und Kunst, München 2006, S. 284.

10 BELTING, Hans: Sugimotos Filme, in: HENSEL, Thomas: Das bewegte Bild: Film und Kunst, München 2006, S. 283.

11 BRYSON, Norman: Alles, was wir sehen, ist eine Art Troja, in: SUGIMOTO, Hiroshi: Sugimoto: Portraits, Ostfildern-Ruit 2000, S. 54-65.

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Details

Title
Durée. Stillstand und Dauer in Hiroshi Sugimotos Fotogrammen
College
University of Cologne
Grade
1,0
Author
Year
2009
Pages
17
Catalog Number
V942261
ISBN (eBook)
9783346274373
ISBN (Book)
9783346274380
Language
German
Keywords
Hiroshi Sugimoto, Zeit, la durée, Seascapes, Dioramas, Wax Museums, Theaters, Fotografie, Film, Henri Bergson, Großbildkamera, Schwarzweiß, Kino, Time Exposed, Zeiterfahrung, Erinnerung.
Quote paper
Yvonne Joosten (Author), 2009, Durée. Stillstand und Dauer in Hiroshi Sugimotos Fotogrammen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/942261

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