Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2. Ganztagsschule
2.1 Begriffsannäherung
2.2 Formen der Ganztagsschule
2.3 Ziele der Ganztagsschule
3. Bildungsgerechtigkeit
3.1 Begriffsannäherung
3.2 Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem
3.3 Bildungsgerechtigkeit im Hinblick auf Ganztagsschule
4 „Risikokinder“ in der... Ganztagsschule
4.1 Zum Begriff „Risikokinder“
4.2 Risikofaktoren
4.2.1 Migrationshintergrund
4.2.2 Armut und soziale Benachteiligung
4.2.3 Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität
4.2.4 Schulaversives Verhalten
4.2.5 Lernbeeinträchtigung
4.2.6 Störungen im Bindungsverhalten
5. Chancen und Grenzen der Ganztagsschule zur Förderung von „Risikokindern“
5.1 Chancen der Ganztagsschule
5.2 Grenzen der Ganztagsschule
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
„Bildung hat in der modernen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Sie entscheidet maßgeblich über Lebenschancen und befähigt Menschen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen“ (vgl. Allmendinger 2013). Bildung stellt eine der bedeutsamsten Investitionen für die Entwicklung der Gesellschaft dar. Das Recht auf Bildung ist auch im Grundgesetz verankert. Doch für manche Menschen ist dieses Recht nur ungenügend verwirklicht wie beispielsweise für Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Familien. Die erste PISA-Studie im Jahr 2000 zeigte, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu erkennen ist. In diesem Zuge kam auch immer wieder die Forderung nach Chancengleichheit auf und ging mit der Frage nach Bildungsgerechtigkeit einher. Die Ganztagsschule stellt dabei eine bildungspolitische Maßnahme zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit dar (vgl. Himmelrath 2018).
Aufgrund des größeren zeitlichen Rahmens und des erweiterten Bildungsangebotes wird oft davon ausgegangen, dass eine Ganztagsschule einflussreicher und erfolgreicher im Hinblick auf die Förderung sozial benachteiligter Kinder ist. Das führt zu der Vermutung, dass eine umfangreichere Förderung zu mehr Bildungsgerechtigkeit führt. Nun stellt sich die Frage, ob eine Ganztagsschule automatisch mehr Bildungsgerechtigkeit mit sich bringt und inwiefern Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder von Behinderung bedrohter Kinder erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Rede von sogenannten „Risikokindern“.
Diese Arbeit wird sich mit dem Thema Bildungsgerechtigkeit in der Ganztagsschule im Hinblick auf „Risikokinder“ beschäftigen. Ein Ziel dieser Arbeit ist es, aus den Erkenntnissen des Begriffs der Bildungsgerechtigkeit Handlungsansätze von Ganztagsschule herzuleiten, die zur Förderung von Bildungsgerechtigkeit beitragen. In der folgenden Arbeit wird daher der Frage nachgegangen, ob das Konzept der Ganztagsschule Kinder und Jugendlichen in riskanten Lebenslagen erreicht. Darüber hinaus soll geklärt werden, inwieweit das Konzept der Ganztagsschule insbesondere diese Kinder angemessen fördern kann. Um diese Fragestellungen beantworten zu können, ist die Arbeit folgendermaßen gegliedert: Zunächst wird als Grundlage für den weiteren Verlauf der Arbeit, einen Blick auf die Ganztagsschule geworfen. Es wird eine Begriffsbestimmung durchgeführt, da die öffentliche als auch wissenschaftliche Verwendung des Begriffs in ihrer Bedeutung sehr breit gefächert ist. Daran anschließend erfolgt eine kurze Darstellung der Formen der Ganztagsschule. Ebenso werden die daraus entstehenden Ziele näher erläutert.
Im darauffolgenden Kapitel wird das Thema Bildungsgerechtigkeit genauer beleuchtet, indem Begriffsbestimmungen vorgenommen werden. Danach wird auf die Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem eingegangen. Die Bildungsgerechtigkeit im Hinblick auf Ganztagsschule wird ebenfalls Gegenstand des Kapitels sein.
Kapitel vier wird zunächst aufzeigen, was unter den sogenannten „Risikokindern“ zu verstehen ist. Im Zuge dessen wird kurz auf die Risikofaktoren eingegangen, bevor danach eine Beschreibung dieser unter Einbezug des schulischen Kontextes folgt.
Im wesentlichen Fokus der Arbeit werden im fünften Kapitel Chancen der Ganztagsschule zur Förderung von „Risikokindern“ aufgezeigt. In diesem Kapitel soll geklärt werden, inwieweit „Risikokinder“ von der Ganztagsschule profitieren können. Darüber hinaus wird dargestellt, welche Möglichkeiten die Ganztagsschule mit sich bringt, „Risikokinder“ mit unterschiedlichen Bedürfnissen zu fördern. Es stellt sich die Frage, ob die Ganztagsschule den sogenannten „Risikokindern“ überhaupt gerecht werden kann. Aufgrund dessen werden die Grenzen der Ganztagsschule aufgezeigt. Dabei wird auch auf die Grenzen bezüglich der Umsetzung innerhalb der Ganztagsschule Bezug genommen.
Abschließend folgt das Fazit, in welchem die zuvor erarbeiteten Punkte noch einmal zusammengetragen werden. Die bis dahin dargestellten Argumente werden zusammengeführt und in einer Diskussion abgewogen und reflektiert. Dabei soll die zentrale Fragestellung beantwortet werden, inwiefern Bildungsgerechtigkeit in der Ganztagsschule unter Berücksichtigung von „Risikokindern“ gegeben ist.
2 Ganztagsschule
In den vergangenen Jahren hat die Ganztagsschule zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der Ausbau der Ganztagsschulen stellt bislang eine der größten Entwicklungen des Schulsystems in Deutschland dar. Betrachtet man die Entwicklung von Ganztagsschulen, so kann festgestellt werden, dass die Zahl der Ganztagsschulen in Deutschland im Primarbe- reich und in der Sekundarstufe I von 4951 im Schuljahr 2002/2003 auf 18686 Ganztagsschulen im Schuljahr 2017/2018 gestiegen ist (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2019). Zu einem besseren Verständnis soll nun geklärt werden, was genau mit dem Begriff Ganztagsschule gemeint ist. Dazu werden die grundlegenden Aspekte der Ganztagsschule dargestellt.
2.1 Begriffsannäherung
Eine einheitliche Begriffsdefinition der Ganztagsschule ist aufgrund von verschiedenen Entwicklungen nur schwer möglich. Es kommt immer wieder vor, dass der Begriff der Ganztagsschule definitorische Probleme mit sich bringt. Hinter dem Begriff verbergen sich vielfältige Schulkonzepte, die von gebundenen und offenen Ganztagsschulen, ganztägig geführten Gesamtschulen, Tagesheimschulen bis hin zu Internatsschulen reichen. Im Hinblick auf die Vielzahl der Konzepte und ihren Mischformen scheint es nur schwer möglich, eine allgemeingültige Begriffsbestimmung zu finden. Aufgrund dessen wird sich die Arbeit auf die wichtigsten Definitionsversuche beschränken.
Das UNESCO-Institut für Pädagogik in Hamburg lieferte im Jahr 1961 einen ersten, einheitlichen Definitionsansatz. Dieser umfasst alle ganztätigen Schulformen. Dabei wird eine organisatorische Unterscheidung in drei Modelle vorgenommen (Radisch 2009: 12).
Nach der ersten Form, der „Offenen Schule“, gibt es eine am Vormittag stattfindende Unterrichtszeit, welche durch Nachmittagsbetreuung ergänzt wird. Mittagessen, Hausaufgabenbetreuung, verschiedene Kurse und Arbeitsgemeinschaft sind nach diesem Modell gegeben. Demnach handelt es sich bei dieser Form also „explizit um eine freiwillige Erweiterung der unveränderten halbtägigen Schulzeit in Form von fakultativen Betreuungsangeboten“ (Radisch 2009: 13). Eine Trennung zwischen Unterricht und Freizeitgestaltung ist daher nur schwer möglich.
Die zweite Form „Ganztagsschule im engeren Sinne“ erweitert den Ansatz der Offenen Schule. Unterrichtselemente werden nach diesem Modell mit betreuten Freizeitaktivitäten gemischt. Diese werden in einem kindgerechtem Lernrhythmus über den Tag verteilt (vgl. Radisch 2009: 13). Die Unterscheidung zur „Offenen Schule“ besteht darin, dass das schulische Angebot nun für die Schüler*innen verpflichtend ist.
Die „Tagesheimschule“ stellt die dritte Form dar und entspricht im Wesentlichen der zuvor dargestellten Form. Zusätzlich weist diese Form ein gesteigertes Betreuungsangebot vor und nach der Schulzeit und während der Mittagspause auf. Die Art und der Umfang des zusätzlichen Betreuungsangebotes richten sich dabei jeweils nach dem Bedarf der Eltern (vgl. Radisch 2009: 14).
Eine einheitliche Definition liefert die Kultusministerkonferenz (KMK) für den aktuellen Diskurs. Während sich das UNESCO-Institut für Pädagogik auf konzeptionelle Gesichtspunkte fokussiert, richtet die Definition der KMK den Schwerpunkt der Begriffsbestimmung auf den organisatorischen Aspekt. Diese Begriffsbestimmung ist in der Bildungspolitik als auch in der Erziehungswissenschaft weit verbreitet (vgl. Nerowski et al. 2015: 15). Die KMK definiert eine Ganztagsschule folgendermaßen:
„Unter Ganztagsschulen werden Schulen verstanden, bei denen im Primar- oder Sekundarbereich I:
- an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztätiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst.
- an allen Tagen des Ganztagsbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereitgestellt wird.
- die Ganztagsangebote unter Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert, in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden und in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2020).
Diese Begriffsbestimmung wird durch folgende Kriterien bestimmt: Der Begriff der Ganztagsschulen schließt nur den Primar- und Sekundarbereich I mit ein. Somit bezieht sich der Begriff nur bis zur 10. Klasse. An drei oder mehreren Tagen gibt es ein Angebot von mindestens sieben Stunden. Des Weiteren gibt es ein Mittagessen, das an den Tagen mit Nachmittagsangeboten bereitgestellt wird. Ein weiteres Kriterium dieser Begriffsdefinition ist, dass die Schulleitung für die Ganztagsangebote verantwortlich ist. Die Schulverwaltung gibt zwar Rahmenbedingungen vor, jedoch liegt die konkrete Gestaltung bei der jeweiligen Schule. Ein weiteres Merkmal dieser Definition ist die enge Verknüpfung des Unterrichts mit dem Nachmittagsangebot, da sich das Ganztagsangebot an den jeweiligen Unterrichtsinhalten orientieren soll (vgl. Nerowski et al. 2015: 16).
Eine Verknüpfung des Unterrichts am Morgen und am Nachmittag ist von großer Relevanz, denn „allein der Nachmittagsunterricht macht eine Schule noch nicht zur Ganztags- schule“ (Nerowski et. al. 2015: 16). Daher müssen Konzepte aufeinander abgestimmt werden und an die Gegebenheiten angepasst werden. An dieser Stelle lässt sich die formale Präzision des Begriffs der KMK positiv anmerken, da er genau festhält, was unter einer Ganztagsschule zu verstehen ist und was nicht. Es muss angemerkt werden, dass kaum erwähnt wird, wie der Unterricht oder die Nachmittagsangebote gestaltet werden sollen. Genaueres liefert die Begriffsbestimmung einer Ganztagsschule nach dem Ganztagsschulverband, „einer Initiative zur Förderung des Ausbaus qualitativ hochwertiger Ganztagsschulen“ (Nerowski et. al. 2015: 19).
„Eine Ganztagsschule gewährleistet, dass
- allen Schülerinnen und Schülern ein durchgehend strukturiertes Angebot in der Schule an mindestens vier Wochentagen und mindestens sieben Zeitstunden angeboten wird,
- Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler am Vormittag und am Nachmittag in einem konzeptionellen Zusammenhang stehen,
- erweiterte Lernangebote, individuelle Fördermaßnahmen und Hausaufgaben/ Schulaufgaben in die Konzeption eingebunden sind,
- die gemeinsame und individuelle Freizeitgestaltung der Schülerinnen und Schüler als pädagogische Aufgabe im Konzept enthalten ist,
- ihre Angebote altersgerechte Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen fördernd aufgreifen,
- alternative Unterrichtsformen wie z.B. Projektarbeit ermöglicht werden,
- das soziale Lernen begünstigt wird,
- die Schule den Schülerinnen und Schülern an allen Schultagen ein warmes Mittagessen anbietet,
- eine ausreichende Ausstattung mit zusätzlichem pädagogischem Personal, mit einem erweiterten Raumangebot und mit zusätzlichen Lehr- und Lernmitteln vorhanden ist,
- die Organisation aller Angebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schule steht“ (Nerowski et. al. 2015: 20).
Diese Begriffsbestimmung weist einige Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zur Begriffsdefinition der KMK auf. Gemeinsam haben beide Definitionen, dass ein enger Zusammenhang des Vor- und Nachmittagsunterrichts vorgesehen ist. Die Definitionen unterscheiden sich dahingehend, dass der Ganztagsschulverband das Angebot für vier Tage vorsieht. Des Weiteren soll das Mittagessen an allen Tagen und nicht nur an den Tagen mit Ganztagsangebot bereitgestellt werden. Dabei äußert der Ganztagsschulverband ausführlich, wie sich die Ganztagsschule und der Unterricht gestalten soll. Beispielsweise wird explizit beschrieben, dass sich das Angebot an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren soll. Daneben ist die Rede von Unterrichtsformen wie bei- spielsweise Projektarbeit (vgl. Nerowski et. al. 2015: 21). Somit wird in dieser Begriffsbestimmung äußert genau thematisiert, wie die inhaltliche Gestaltung einer Ganztagsschule aussehen soll. Aufgrund dessen wird sich diese Arbeit an der Definition einer Ganztagsschule vom Grundschulverband orientieren.
2.2 Formen der Ganztagsschule
Im Zuge des Ausbaus von Ganztagsschulen haben sich in Deutschland verschiedene Formen entwickelt. Grundsätzlich lassen sich drei Formen unterscheiden: Die offene, teilweise gebundene und voll gebundene Form der Ganztagsschule. Weiterhin kommen diverse Mischformen hinzu, die aber für die kommenden Ausführungen nicht relevant sind. Die unterschiedlichen Formen der Ganztagsschule unterscheiden sich hinsichtlich des Verpflichtungsgrades.
Die offene Form der Ganztagsschule ist dadurch gekennzeichnet, dass die Schüler*innen selbst entscheiden können, an welchen Nachmittagsangeboten sie teilnehmen (vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2020). Während der Pflichtunterricht am Vormittag stattfindet, können am Nachmittag freiwillig Angebote genutzt werden (vgl. Burow/Pauli 2006: 69 f.). Diese Form der Ganztagsschule schafft kaum Veränderung bezüglich der Unterrichtsgestaltung und Organisation. Die offene Form wird lediglich als Möglichkeit genutzt, um in die Ganztagsschularbeit einzusteigen (vgl. Kortas et al. 2006: 44).
Die teilweise gebundene Form zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Schüler*innen bei einer Anmeldung zur Ganztagsbetreuung verpflichtet, daran teilzunehmen (vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2020). Durch Einbezug von außerschulischen Einrichtungen soll eine „bessere Balance zwischen Anspannung und Entspannung erreicht werden“ (Kor- tas et al. 2006: 45). Dies soll anhand von Kursen, Arbeitsgemeinschaften sowie Hausaufgabenbetreuung gelingen (vgl. Kortas et al. 2006: 45).
In der voll gebundenen Form sind alle Schüler*innen verpflichtet, am Ganztagesprogramm teilzunehmen (vgl. Sekretariat der Kultusministerkonferenz 2020). Der Alltag ist rhythmisiert und es findet eine „Verzahnung von Unterricht und Arbeitsgemeinschaften, Projekten und Förderung, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangeboten“ statt (Holtappels et. al. 2008: 39).
Die offene und teilweise gebundene Form werden dabei als Übergangsformen betrachtet, da sie „den Übergang in eine gebundene Form erleichtern“ (vgl. Kortas et. al. 2006: 44). Alle drei Formen bieten im Vergleich zur Halbtagsschule mehr schulische Zeit mit sich. Der gesamte Schultag wird unter erzieherischen und pädagogischen Aspekten durchstruk- turiert. Dadurch, dass die Kinder mehr gemeinsame Zeit in der Schule auch unabhängig vom Unterricht verbringen, kann sich dies positiv auf die Beziehung zwischen Lehrer*in und Schüler*in auswirken. Sie lernen nun auch außerhalb des Unterrichts miteinander umzugehen, was sich wiederum positiv auf das Klassenklima auswirken kann. Durch die voll gebundene Form verbringen alle Schüler*innen einer Klasse denselben Zeitumfang in der Schule, wodurch sozialer Selektion entgegengewirkt werden kann. Da in der offenen Form nicht alle Kinder teilnehmen, gestaltet es sich schwieriger, Chancengleichheit herzustellen (vgl. Burow/ Pauli 2006: 83). Welche Ziele mit der Einführung der Ganztagsschule erreicht werden sollen, wird im kommenden Abschnitt näher erläutert.
2.3 Ziele der Ganztagsschule
Die Ganztagsschule ist von sozial- und familienpolitischen Zielsetzungen geprägt. Für viele Eltern lag zu Beginn der 1990er Jahre das Hauptaugenmerk auf der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Grund hierfür war vor allem der soziokulturelle Wandel der Familien (vgl. Stötzel/Wagener 2014: 55). Auch heute ist dieser Wunsch noch immer präsent, da ein Großteil der Elternteile berufstätig ist. Oft gehen beide Elternteile arbeiten, um ihrer Familie einen gewissen Lebensstandard zu bieten. Alleinerziehende haben beispielsweise meist keine andere Möglichkeit als einer Arbeit nachzugehen. Daraus wird es unter anderem notwendig, die Familien zu unterstützen, sodass sie ihrer Erwerbstätigkeit nachkommen können. Darüber hinaus zeigte sich anhand der StEG, einer Studie zur wissenschaftlichen Begleitung offener Ganztagsschulen im Primarbereich, dass vor allem Mütter durch die Ganztagsschule eine Entlastung in ihrem Alltag empfinden (vgl. Stötzel/Wagener: 2014). Somit wird deutlich, dass die Unterstützung der Eltern in ihrer Erziehungsarbeit eine wichtige Rolle einnimmt.
Ferner haben sich die Ziele in den letzten Jahren verändert, die mit dem Besuch einer Ganztagsschule erreicht werden sollen. Den Eltern ist es nun immer wichtiger, „dass ihren Kindern Gemeinschaftserfahrung ermöglicht, das soziale Lernen gefördert und die Leistung durch Förderung gesteigert wird“ (Wagener 2013: 55). Daran wird deutlich, dass die Begründungen für Ganztagsschulen nun mehr dem Kind zugewandt sind. Das Ziel, Familie und Beruf zu vereinbaren, wurde durch weitere Zielorientierungen ergänzt: individuelle Förderung von Schüler*innen, Partizipation sowie mehr Chancengerechtigkeit im Bildungssystem (vgl. Stötzel/Wagener 2014: 55).
Ein Ziel der Ganztagsschule ist die Möglichkeit zur Partizipation und der Teilhabe an der Gesellschaft. Die Schüler*innen sollen darauf vorbereitet werden, Verantwortung zu über- nehmen (vgl. Sauerwein 2017: 65). In einer Ganztagsschule können bessere Partizipationsmöglichkeiten aufgrund des zeitlichen Umfangs und günstigeren Bedingungen geboten werden als in einer Halbtagsschule. Beispielhaft hierfür ist die Kooperation der Schulen mit der Jugendhilfe zu nennen (vgl. Stötzel/Wagener 2014: 60).
Ein weiteres Ziel, das durch eine ganztägige Bildung erreicht werden soll, ist die Förderung von begabten und benachteiligten Schüler*innen. Damit einher gehen die „gestiegenen Ansprüche zur individuellen Förderung und der allgemeinen Verbesserung der Schülerkompetenzen“ (Stötzel/Wagener 2014: 57). Durch die Ganztagsbeschulung soll individuelles Lernen möglich werden. Leistungsstarke und leistungsschwächere Schüler*innen sollen angemessen unterstützt und gefördert werden. Aufgrund des erweiterten Zeitrahmens sollen differenzierte Lernmethoden angeboten werden, die auf die einzelnen Schü- ler*innen abgestimmt sind. Durch gezielte Unterstützung „soll eine qualitative Verbesserung des Lernens erreicht werden“ (Stötzel/Wagener 2014: 57).
Ein weiteres Ziel der Ganztagsschule ist es, mehr Chancengleichheit im Bildungssystem durch die Integration von Schüler*innen mit Migrationshintergrund zu gewährleisten. Seit den Ergebnissen der internationalen Schulleistungsstudie PISA von 2000 rückt die Ganztagsschule in den Fokus der Diskussion um Chancengleichheit. Dass das deutsche Schulsystem immer noch einige Schwächen bezüglich der Chancengleichheit aufweist, zeigt sich daran, dass immer noch eine „Abhängigkeit zwischen der sozialen Herkunft und der Chance, einen qualifizierten Bildungsabschluss zu erlangen“ besteht (Stötzel/Wagener 2014: 62). Durch den Ganztagsschulausbau in Deutschland sollen die bestehenden Bildungsungleichheiten abgebaut werden. Indem Schüler*innen aus benachteiligten Familien besser gefördert werden, sollen Ganztagsschulen „zu einer verbesserten Chancengerechtigkeit beitragen“ (Stötzel/Wagener 2014: 62). Chancen in Schulen und Gesellschaft zu erhöhen und so den Bildungserfolg von Schüler*innen aus benachteiligten Familien zu unterstützen, soll durch die Teilnahme an schulischen Ganztagsangeboten gewährleistet werden (vgl. KMK 2015: 4).
3 Bildungsgerechtigkeit
Im folgenden Kapitel soll nun auf die Bildungsgerechtigkeit eingegangen werden, welche unter anderem den zuvor beschriebenen Zielen der Ganztagsschule zuzuordnen ist. Da es sich um den Bildungsort Schule handelt, wird in diesem Kapitel geklärt, inwiefern Bildungsgerechtigkeit im deutschen Bildungssystem besteht und ob die Ganztagsschule einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten kann.
3.1 Begriffsannäherung
Der Begriff der Bildungsgerechtigkeit findet auf vielfältiger Weise Verwendung und spielt in der Pädagogik und Politik eine wichtige Rolle. Laut Brenner (2010: 13) ist die Debatte um Bildungsgerechtigkeit seit dem 20. Jahrhundert Thema in der öffentlichen Diskussion. Der Begriff der Bildungsgerechtigkeit setzte sich seit der Veröffentlichung der PISAStudien durch und wird in Diskussionen oft als „Herkunftsabhängigkeit von Bildungskarrieren und -leistungen“ bezeichnet (Stojanov 2011: 18). Was dieser Begriff jedoch bedeutet, ist immer noch nicht eindeutig geklärt (vgl. Brenner 2010: 13). Aufgrund der Präsenz des Begriffes scheint es, als gäbe es eine allgemeingültige Definition. Allerdings zeigt sich, dass derzeit keine eindeutige Definition existiert. Fest steht jedoch, dass Fragen von Bildung und Gerechtigkeit heutzutage meist unter dem Begriff der Bildungsgerechtigkeit diskutiert werden (vgl. Wigger 2011: 21). Da es keine allgemeingültige Definition gibt, scheint es an dieser Stelle sinnvoll, das Wort Bildungsgerechtigkeit genauer zu beleuchten. Aufgrund dessen folgt nun eine Annäherung an die Begriffe „Bildung“ und „Gerechtigkeit“.
Im Wesentlichen meint Bildung die Befähigung zur Selbstbestimmung, eine für alle gleich gültige Bildung, die Befähigung zur Teilhabe am Leben und die Herstellung von Gemeinschaftlichkeit und Individualität (vgl. Gudjons/Traub 2016: 208). „Bildung leitet sich vom Begriff der Pädagogik her. Der altgriechische Begriff Pädagogik setzt sich zusammen aus „pais“, was „Kind“ bedeutet und „ago“ was „führen“ heißt“ (Horster 2011: 16). Während ein Pädagoge früher ein gelehrter Sklave war, haben Pädagoginnen und Pädagogen heute unter anderem die Aufgabe, den Kindern Normen und Werte zu vermitteln, sodass sie sich in der Gesellschaft zurechtfinden. Dabei sollen alle Kinder „die gleiche Chance bekommen, in die Gesellschaft eingeführt zu werden“ (Horster 2011: 16). Die Chancengleichheit aller soll somit gewährleistet werden. Dabei kann zwischen „Chancen auf Bildung im Sinne des Zugangs zu Bildungsangeboten und Bildungschancen im Sinne des subjektiven Bil- dungs- und Kompetenzerwerbs“ unterschieden werden (Horster 2011: 16). Daraus resultiert, dass die Fähigkeit, Bildungsangebote in subjektive Bildung umzuwandeln, von großer Bedeutung ist. Diese Fähigkeit kann von Bedingungen wie beispielsweise dem Elternhaus oder der Schule in großem Maße beeinflusst werden. Demnach wird an dieser Stelle deutlich, dass die Begriffe Bildung und Chancengleichheit auch immer wieder im Zusammenhang mit dem Begriff der Bildungsgerechtigkeit fallen. Gerade der Begriff der Chancengleichheit- oder Chancengerechtigkeit wird oft sogar synonym verwendet (vgl. Horster 2011: 16).
Das Alltagsverständnis von Gerechtigkeit darf nicht mit Gleichheit in einer Gesellschaft verwechselt werden (vgl. Aktionsrat Bildung 2007: 19). Der Begriff der Gerechtigkeit wird seit der Antike aus zwei Positionen diskutiert: „Allen das Gleiche“ und „Jedem das Seine“ (Nida-Rümelin/Zierer 2015: 63). Die erste Position geht der Auffassung nach, dass niemand wegen Merkmalen wie beispielsweise der Herkunft benachteiligt werden darf. Diese Position ist im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geregelt und lautet wie folgt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz). Aus diesem Grundsatz geht hervor, dass jedem Menschen der gleiche Zugang zu Bildung gewährt werden muss (vgl. Ni- da-Rümelin/Zierer 2015: 63). Auch wenn dieser Grundsatz rechtlich besteht, haben dennoch Studien wie beispielsweise die PISA-Studie verdeutlicht, dass gerade die soziale Herkunft den Bildungsverlauf und somit die Bildungschancen enorm bestimmen (vgl. Ni- da-Rümelin/Zierer 2015: 65). Nach der zweiten Position hingegen hat jeder Mensch verschiedene Interessen, Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wünsche, die die Individualität eines jeden Menschen ausmachen und wodurch ein Mensch sich von anderen unterscheidet (vgl. Nida-Rümelin/Zierer 2015: 63). In Bezug auf Bildung ist damit gemeint, dass jedes Kind individuell gefördert werden muss und Differenzierung unabdingbar ist. Nach Zierer (2015: 4) ergibt sich dabei folgende Definition von Bildungsgerechtigkeit:
„Bildungsgerechtigkeit meint die optimale Ermöglichung einer wesensgemäßen und seinsgerechten Persönlichkeitsentfaltung erstens für alle - also unabhängig von den unveränderlichen Merkmalen des Menschen allen das Gleiche zu garantieren - und zweitens für jeden Einzelnen - also ausgehend von den veränderlichen Merkmalen des Menschen jeden Einzelnen seinen Möglichkeiten entsprechend zu fördern.“
Nach dieser Definition von Zierer stellt die Persönlichkeitsentfaltung ein Bildungsziel dar. Der Mensch soll dabei im Fokus stehen und als Ausgangspunkt gelten. Des Weiteren wird in dieser Definition deutlich, dass der Zugang zu Bildung unabhängig von den verschiedenen Merkmalen eines Menschen gewährt werden soll und dass jedes Individuum je nach seinen Umständen gefördert werden muss.
Darüber hinaus gibt es in der Erziehungswissenschaft weitere unterschiedliche Konzeptionen, was unter Bildungsgerechtigkeit zu verstehen ist. Einem Verständnis nach kann unter Bildungsgerechtigkeit die gerechte Verteilung von Bildungsgütern und -ressourcen verstanden werden. Nach diesem Verständnis nach ist die Verteilungsgerechtigkeit im Fokus und zielt auf eine Chancengleichheit aller ab (vgl. Wigger 2011: 22). Des Weiteren hat sich der Aktionsrat Bildung in seinem Jahresgutachten 2007 mit dem Thema „Bildungsgerechtigkeit“ beschäftigt und sieht eine Benachteiligung darin „wenn Menschen trotz gleicher kognitiver Ausgangsvoraussetzungen nicht die gleichen Chancen besitzen, ein entsprechend hohes Kompetenzniveau zu erreichen“ (Aktionsrat Bildung 2007: 136). Der Aktionsrat plädiert in diesem Zusammenhang dafür, dass Voraussetzungen geschaffen werden müssen, dass der Zugang zu Bildung allen gleichermaßen gewährt wird (vgl. Aktionsrat Bildung 2007: 136).
Eine zweite Position vertritt Johannes Giesinger und nach seinen Ausführungen bedeutet Bildungsgerechtigkeit, dass möglichst alle an der Gesellschaft teilhaben können (vgl. Wigger 2011: 22). Somit spielt dieses Verständnis auf die Teilhabegerechtigkeit in der Gesellschaft ab. Ein gerechtes Bildungssystem besteht nach dieser Position dann, wenn ein Mensch am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Leben in der Gesellschaft teilnehmen und sein Leben selbständig gestalten kann. Der Zweck von Bildung besteht darin, die Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. Wigger 2011: 22).
Eine weitere Konzeption von Bildungsgerechtigkeit hat Krassimir Stojanov dargelegt. Nach ihm ist Bildungsgerechtigkeit als „Anerkennung der prinzipiellen moralischen Zurechnungsfähigkeit des Einzelnen und als Ermöglichung der Entfaltung ihres Potentials zu individueller Autonomie“ zu verstehen (Wigger 2011: 22). Somit hängt nach dieser Auffassung Bildungsgerechtigkeit eng mit Anerkennungsgerechtigkeit zusammen. Insbesondere die Qualität der pädagogischen Sozialbeziehungen in Bildungseinrichtungen spielt dabei eine große Rolle (vgl. Stojanov 2011: 40). Bildungsgerechtigkeit besteht nach Stojanov darin, jeden Menschen als autonomes Individuum anzuerkennen, indem moralischer Respekt, Empathie und soziale Wertschätzung entgegengebracht werden. Nur so kann die Förderung der Subjektautonomie bei allen Schüler*innen gelingen (vgl. Wigger 2011: 22). Nur wenn die eben genannten Dimensionen der Anerkennung in den Institutionen umgesetzt werden, kann die Rede von einem gerechten Bildungssystem sein (vgl. Stojanov 2013: 65).
Der Begriff Bildungsgerechtigkeit befindet sich demnach in einem Spannungsfeld zwischen Verteilungs-, Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit, die unterschiedliche Sichtweisen auf das Bildungssystem in den Fokus nehmen (vgl. Wigger 2011: 37). Die erste Position, die Bildungsgerechtigkeit im Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit sieht, ist das „Standardverständnis“ (Wigger 2011: 22).
Nach dieser Auseinandersetzung mit dem Begriff Bildungsgerechtigkeit wurde deutlich, dass es sich dabei um einen komplexen und facettenreichen Begriff handelt. Es lässt sich festhalten, dass es auf die Perspektive auf Bildungsgerechtigkeit ankommt, was der Begriff meint und wann Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem hergestellt ist. Für diese Arbeit soll die Definition von Bildungsgerechtigkeit nach Zierer als Grundlage dienen.
[...]
- Arbeit zitieren
- Jessica Huber (Autor), 2020, Bildungsgerechtigkeit in der Ganztagsschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/943966
Kostenlos Autor werden
Kommentare