Europa und die Europäische Union als kollektive Identifikationskategorien im Alltag europäischer Bürger

Relevanz für Studenten während der Corona-Krise


Dossier / Travail, 2020

66 Pages, Note: 1.0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Theoretische Überlegungen
2.1. Identität und kollektive Identität
2.2. Europa und die Europäische Union
2.3. Bisherige Erkenntnisse aus der Empirie

3. Methodik und Stichprobe

4. Narrativanalyse: Welche Relevanz besitzt Europa als Identifikationskategorie während der Corona-Krise?
4.1. Aus welcher Perspektive wird die Corona-Krise betrachtet?
4.2. Weitere Indizien für eine Nicht-Identifikation mit Europa
4.3. Weitere Indizien für eine Identifikation mit Europa

5. Diskussion und Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

7. Anhänge

1. Einführung

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges wird Europa von einem integrativen Prozess erschüttert, der die Vorstellungen von nationalen Entitäten und Identitäten durcheinander zu bringen scheint. Die politische Integration Europas führte zu einer Reihe von drastischen Veränderungen in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen vieler europäischer Länder und damit zu großen Änderungen in dem alltäglichen Leben von Millionen europäischen Bürgern (Meinhof 2003: 885). Doch begrenzen sich die Veränderungen im alltäglichen Leben europäischer Bürger nur auf politische und wirtschaftliche Strukturen? Oder sorgt die politische Integration Europas auch für Veränderungen in der Art und Weise, wie die Menschen in Europa sich begreifen? Führt die politische Integration Europas zu Veränderungen in den kollektiven Identitäten von europäischen Bürgern und so vielleicht auch zu einem Gefühl von transnationaler Zusammengehörigkeit?

Während zur Geburtsstunde der EWG (1957) noch davon ausgegangen wurde, dass mit der Intensivierung der politischen Integration Europas, die Identifikation mit Ethnizitäten und Nationalitäten sinken und mit der Zeit einer europäischen Identität weichen würde, scheint eine Reihe von Studien (vgl. Meinhof 2003, White 2010, Westle 2003) aus den letzten zwanzig Jahren darauf hinzuweisen, dass eine europäische Identität keine große Relevanz im alltäglichen Leben der europäischen Bürger zu haben scheint (Westle 2003: 453f). Viel mehr scheinen regionale und nationale Identifikationen nach wie vor sehr wichtig zu sein (ebd.). Doch sind diese Ergebnisse noch aktuell? Oder können Ausnahmesituationen, wie die Corona-Krise zu anderen Ergebnissen führen?

Um Antworten auf diese Frage zu finden, wird in dieser Arbeit überprüft werden, ob in den Zeiten der einschneidenden globalen Pandemie des Viruserregers SARS-CoV-2, nach wie vor regionale und nationale Identitäten eine hohe Relevanz besitzen oder ob eine Identifikation mit Europa an Relevanz gewonnen haben könnte. Dazu wurde ein qualitatives Gruppeninterview mit drei Studenten durchgeführt, welches möglichst implizite Narrative erzeugen sollte. In der anschließenden Narrativanalyse wurde versucht, die wichtigsten Identifikationskategorien der Interviewteilnehmer herauszuarbeiten, um eine Bilanz über die Wichtigkeit regionaler, nationaler und europäischer Identitäten für die Interviewten ziehen zu können.

Begonnen wird die Untersuchung mit der Einführung in die theoretischen Grundlagen. Dazu werden in dem Kapitel „Theoretische Überlegungen“ die grundlegenden Begriffe der „Identität“ und „kollektiven Identität“ erläutert. Im Anschluss wird historisch aufgearbeitet, aus welchen Merkmalen sich die kollektive europäische Identität zusammensetzt. Darauf folgt eine Zusammenfassung der bisherigen empirischen Erkenntnisse zur Relevanz Europas als Identifikationskategorie. Im dritten Kapitel wird kurz auf die Entwicklung der Methodik und die Stichprobe eingegangen. Anschließend folgt eine Narrativanalyse der Interviewergebnisse und zum Schluss eine Bewertung der Analyseergebnisse sowie eine Zusammenfassung.

2. Theoretische Überlegungen

2.1. Identität und kollektive Identität

Bevor in dieser Arbeit darüber gesprochen werden kann, wie sich die europäische Identität zusammensetzt und ob europäische Identifikationsangebote für europäische Bürger eine relevante Rolle spielen können, müssen die grundlegenden theoretischen Identitätsbegriffe erschlossen werden.

Zuerst lässt sich festhalten, dass Identität ein äußerst heterogenes und komplexes Phänomen ist (Westle 2003: 454). Nach Bettina Westle kann Identität in ein dreischichtiges Modell unterteilt werden, welches aus den folgenden Kategorien besteht: 1. der personalen Identität, 2. der sozialen Identität und 3. der kollektiven Identität. Die personale Identität kann relativ abstrakt als ein Prozess verstanden werden, durch den „[…] das Subjekt Kohärenz und Kontinuität mit sich selbst über verschiedene Lebensbereiche und Lebensphasen hinweg gewinnt.“ (vgl. Westle 2003: 455). Das heißt, es finde eine Selbstdefinition über eigene individuelle Eigenschaften statt (Trunk 2007: 37). Soziale Identitäten entstehen aus gesellschaftlichen Interaktionsprozessen der Selbst- und Fremdkategorisierung. Größere gesellschaftliche Gruppen der sozialen Identität werden als kollektive Identität bezeichnet (Westle 2003: 455). Somit kann die Europäische Identität als eine Form der kollektiven Identität bezeichnet werden (Wiesner 2017: 31).

Kollektive Identitäten sind kollektive Deutungsmuster und somit soziale Konstrukte (Trunk 2007: 35). Sie haben gemein, dass sie aus einer simultanen Gleichsetzung einer Zahl von Individuen mit einer definierten Gruppe bestehen sowie ihre Grundlage ein kulturelles System ist, welches Antworten auf die Frage „Wer sind wir?“ findet und sich aus Denkbildern zusammensetzt, welche die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit strukturieren (ebd.: 37). Außerdem beruhen sie auf geteilten Erinnerungen der Mitglieder eines Kollektivs (ebd.).

Kollektive Identität basiert auf der Wahrnehmung von Kontrasten (Trunk 2007: 39). Dabei lässt sich kollektive Identität zwischen den zwei formierenden Elementen Homogenität und Differenz unterscheiden. Homogenität basiert auf einer tatsächlichen oder einer vorgestellten Gleichheit der Mitglieder eines Kollektivs, während Differenz die reale oder imaginierte Andersartigkeit des Kollektivs im Vergleich zu anderen Gruppen darstellt (ebd.). Kontraste von kollektiven Identitäten treten in den Namen, der Sprache, der Religion und Kultur, den Wertesystemen, den Mythen und den Identifikationen mit gemeinsamen Institutionen sowie Rechts- und Wirtschaftsräumen auf (ebd.:42). Unterschiedliche kollektive Identitäten können neben- oder miteinander existieren. So kann zum Beispiel eine europäische Identität neben nationalen und regionalen Identitäten existieren (ebd.: 40). Ein weiteres wichtiges Charakteristikum ist das dynamische Verhalten von kollektiven Identitäten. Sie sind nicht statisch (ebd.: 47). Identitäten sind auch nicht gegeben und einfach da. Vielmehr muss die Identitätsbildung als ein Prozess der Identifikation gesehen werden (Duschnese 2008: 403). Identitätsbildung als Prozess meint die Entwicklung eines Zusammengehörigkeitsgefühls zu einer Gruppe. (ebd.).

Der Begriff der kollektiven Identität ist politisch besonders relevant, da die Identifikation, also das Vorhandensein eines Zugehörigkeits- beziehungsweise Loyalitätsgefühls zu einem Kollektiv „[…] als grundsätzliche, ideelle und/oder affektive Akzeptanz und Unterstützung der politischen Gemeinschaft verstanden werden […]“ kann (vgl. Westle 2003: 455). Jonathan White hebt dabei hervor, dass solch eine Akzeptanz und Unterstützung der politischen Gemeinschaft auf der europäischen Ebene verlangen würde, dass die Bürger die Entscheidungsfindung auf organisationaler sowie europäischer und nicht nationaler oder globaler Ebene für geeigneter halten, um Probleme, die sie für wichtig erachten, zu behandeln (White 2010: 1016f). In der Tat lässt sich empirisch feststellen, dass die Identifikation mit einem Kollektiv zu Handlungen im Namen der Gruppe führen kann (Landberg 2017: 274). Huddy und Khatib (2007) zeigten, dass junge Amerikaner mit einer starken nationalen Identifikation ein höheres politisches Interesse und eine höhere Wahlbeteiligung zeigten, als Amerikaner mit anderen Identifikationen (Landberg 2017: 274). Wenn sich diese nationalen Befunde auf die Europäische Union übertragen lassen würden, würde eine Identifikation mit Europa mit einem höheren europabezogenen politischen Interesse und einer höheren Wahlbeteiligung einhergehen. Doch bevor zu empirischen Ergebnissen zur Relevanz der kollektiven europäischen Identität im alltäglichen Leben europäischer Bürger übergegangen werden kann, muss die Frage geklärt werden aus welchen Merkmalen sich die kollektive Identität Europas zusammensetzt.

2.2. Europa und die Europäische Union

Um die prägenden Charakteristika der kollektiven Identität Europas herauszukristallisieren, muss der „Europa-Begriff“ geographisch, ideologisch und historisch aufgearbeitet werden.

Europa ist ein chronisch schwer zu beschreibendes Phänomen, welches eine Menge Diskussionspotential mit sich bringt. Während der aktuelle Wissenstand in der Geographie dahin tendiert, sogar den physischen Status von Europa als Kontinent in Frage zu stellen, unterliegen die Vorstellungen darüber, wo die geographischen und politischen Grenzen im Osten Europas liegen, einem stetigen Wandel (Meinhof 2003: 887). Nicht zuletzt durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der Ausdehnung west-europäischer Organisationen in den Osten, wurde die ungelöste Frage hervorgehoben, wo die Grenzen Europas zu Asien tatsächlich liegen würden (ebd.). Doch das Problem existiert nicht nur in den geographischen und politischen Dimensionen. Durch die uneindeutigen Zugehörigkeiten wird das Dilemma des „Europäisch-Sein“ deutlich. Besonders in Europas Übergangsgebieten wie der Türkei, Russland und Großbritannien wird das „Europäisch-Sein“ nur mit Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit assoziiert und somit nicht selten als unvereinbar mit der nationalen Identität betrachtet (ebd.).

Andererseits wurde Europa zu einem politischen und moralischen Ideal, welches im Zeitlauf der Geschichte immer wieder für politische Motive genutzt wurde (Meinhof 2003: 887). Doch woraus setzt sich dieses Ideal zusammen und wie entwickelte es sich? Europa würde durch seine Kultur und seine Zivilisation ausgemacht. Diese Kultur fuße auf Werten, die von drei Quellen geprägt worden seien. Diese seien: Athen, Rom und Jerusalem. Von den Griechen sei die „wissenschaftliche Weltsicht“ gekommen, vom Judentum das „christliche Menschenbild“ und von den Römern die Vorstellungen über das Recht (Trunk 2007: 66). Diese verschiedenen Einflüsse vereinigen sich im Christentum, welches die Grundsteine für die Vision eines modernen Europas darstellen würde. Diese Grundsteine sind: politische Strukturen, die auf den Regeln des Gesetzes, auf universellen Menschenrechten, auf einer repräsentativen Demokratie, auf einem milden Kapitalismus und auf einem sozialen Wohlfahrtssystem basieren (Meinhof 2003: 887).

Diese gemeinsamen Vorstellungen von übereinstimmenden Werten sorgen oftmals für eine Abgrenzung (siehe Kap. 2.1. Differenz und Homogenität als konstituierende Merkmale kollektiver Identitäten) von Nicht-Europäern und ethnischen Minderheiten, die dem europäischen Ideal nicht entsprechen (Meinhof 2003: 887). Solch eine Differenzierung zeigt sich zum Beispiel an der Debatte zur europäischen Zugehörigkeit der Türkei, deren Wertgrundlagen als unvereinbar mit den europäischen Werten angesehen werden (Meinhof 2003: 887).

Die Idee des „Europäisch-Seins“ beziehungsweise eines kollektiven europäischen Wir-Gefühls ist, geschichtlich betrachtet, auch innerhalb Europas noch nicht lange selbstverständlich. Im Jahr 1876 schrieb Reichskanzler Otto von Bismarck in einem Brief: „Whoever speaks of Europe is wrong“ (vgl. Patel 2020: 5). Bismarcks Bemerkung war als Reaktion auf einen russischen Aufruf gedacht, gemeinsam im Namen Europas auf eine Krise zu reagieren. In dieser Bemerkung lässt sich erkennen, dass die Vorstellung einer Solidarität im Namen des Kontinentes unmöglich war. (Patel 2020: 5). Das blieb auch noch eine Weile so, bis nach dem zweiten Weltkrieg an das europäische Ideal appelliert wurde, um die Wunden des Krieges überwinden zu können (Meinhof 2003: 887).

Im Gegensatz dazu wurde nach dem zweiten Weltkrieg der Europabegriff in den ost-europäischen Ländern verdrängt und durch politische und ideologische Strukturen des sowjetischen Kommunismus ersetzt (Meinhof 2003: 888). Deshalb fanden die ersten Integrationsversuche, welche massiv von den USA unterstützt wurden, nur in den westeuropäischen Staaten statt. Diese vorläufigen europäischen Integrationsversuche waren zuerst rein technischer Natur (Patel 2020: 7). Sie wurden vor allem durch geteilte Ängste vor dem sowjetischen Ostblock und wirtschaftlichen sowie nationalen Interessen getragen (ebd.: 7f). Gemeinsame Werte und die Vorstellung vom „Europäisch-Sein“ spielten keine relevante Rolle (Meinhof 2003: 8).

Erst durch den Zerfall der Sowjetunion wurde der Weg für eine supranationale Europäische Union frei (Meinhof 2003: 8). Seit dem Maastricht-Vertrag von 1992 lässt sich erstmals von einer zusammenhängenden europäischen Gemeinschaft sprechen (Patel 2020:7). Mit der Gründung der Europäischen Union und der intensiven politischen Integration Europas gab es einen starken Zuwachs in der Identitätspolitik, welche eine gemeinsame europäische Identität mit gemeinsamen Wertgrundlagen predigt (Meinhof 2003: 8).

Als grundlegende Essenz der europäischen Identität lässt sich festhalten, dass Europa durch eine politische Integration vereinigt wurde und somit als politische Gemeinschaft verstanden werden muss (Duschnese 2008: 403). Das heißt, mit dem Gefühl, Teil einer europäischen Gemeinschaft zu sein, müsste die Vorstellung einhergehen, sich selbst als politisch-handlungsfähigen, europäischen Bürger zu bezeichnen (Duschnese 2008: 403). Aufgrund dessen wird in dieser Arbeit kein analytischer Unterschied zwischen einer Identifikation mit „Europa“ und einer Identifikation mit der „Europäischen Union“ gemacht.

Doch was bedeutet „Europäisch-Sein“ für den Alltag der europäischen Bürger und welche kollektiven Identitäten spielen die wichtigsten Rollen im Alltag von europäischen Menschen? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, wird im nächsten Kapitel auf empirische Ergebnisse zu einer Reihe von Untersuchungen, die sich mit diesen Fragen beschäftigten, eingegangen.

2.3. Bisherige empirische Erkenntnisse zur Relevanz Europas als Identifikationskategorie

Sowohl quantitative als auch qualitative empirische Untersuchungen scheinen zu den gleichen Ergebnissen zu kommen. Europa und die Europäische Union scheinen als Identifikationskategorie keinen hohen Stellenwert im alltäglichen Leben der europäischen Bürger zu haben.

Auswertungen quantitativer Datensätze (vgl. Westle 2003, Wiesner 2017) ergeben relativ einstimmig, dass die politische Integration Europas nicht zwangsläufig mit dem Wachstum einer europäischen Kultur und Identität einhergingen. Die Gründe sind vielfältig. Demnach sei die uneindeutige EU-Politik dafür verantwortlich, dass sich keine stabile EU-Identifikation herausbilden könne (Westle 2003: 474). Die europäische Union müsse eine nicht-konkurrierende Verknüpfung regionaler, nationaler und europäischer Identifikationen ermöglichen. Außerdem sei die nationale und europäische Demokratiezufriedenheit von großer Bedeutung für eine europäische Identifikation (ebd.:475). Ein weiterer wichtiger Aspekt sei die Verschiedenheit der Mitgliedsstaaten (ebd.: 474). Diese Verschiedenheit führe zu einer unterschiedlichen Wahrnehmung der europäischen Charakteristika und Politikinhalte (Wiesner 2017: 38). Somit könne vermutet werden, dass es keine einheitliche Vorstellung einer europäischen Identität gebe.

Für die meisten quantitativen Datenauswertungen werden Daten des Eurobarometers herangezogen. Dabei gibt es jedoch reichlich Kritik an der Methodik des Eurobarometers, da das Fragendesign aufgrund tiefliegender Vorannahmen problematisch scheint (Meinhof 2003: 886). Die qualitative Datenerhebung macht es möglich, die Problematiken des Eurobarometers auszuhebeln, denn es können implizite Erzählungen provoziert werden, aus denen ausgearbeitet werden kann, wie die Befragten ihre Identität konstruieren. Zwei solcher Ansätze wurden von Meinhof (vgl. Meinhof 2002) und White (vgl. White 2010) entwickelt.

Aus der Narrativanalyse Meinhofs ging hervor, dass das das Themenfeld rund um Europa nur eine sehr geringe Resonanz bei den Interviewten hervorbrachte. „Europäisch-Sein“ war nur sehr selten eine selbstgewählte Identifikationskategorie (Meinhof 2003: 888). Doch auch nach direkten Fragen zu Europa, war das Interesse an dem Diskussionsthema nur sehr gering. Selten wurde es weiter ausgeführt (ebd.: 889). Das könnte aber auch daran liegen, dass Europa von den Interviewten weitestgehend als ein abstraktes, schwammiges und nicht greifbares Phänomen beschrieben wurde, zu dem deshalb auch kein nennenswerter Bezug besteht (ebd.: 888f). Die durch direkte Fragen provozierten Europa-Narrative lassen vielmehr auf eine Identifikation mit lokalen und nationalen Identitäten schließen, da europaweite Phänomene weitestgehend aus der lokalen und nationalen Sicht beschrieben wurden. Es ging viel mehr darum, die lokalen Vor- und Nachteile gegenüber Nachbarn zu betonen (ebd.: 889).

Jonathan White stellte in einer Reihe von Diskussionen mit Taxi-Fahrern fest, dass Europa und die Europäische Union in den politischen Vorstellungen der Befragten keine große Rolle spielen (White 2010: 1036). Die politische Legitimität der Europäischen Union ist weitestgehend nicht vorhanden und schwierig aufzubauen, da die EU nicht als die richtige Adresse für die alltäglichen Probleme der Befragten dienen kann. Die politischen Akteure Europas müssten Whites Studie nach neue Interpretationswege für die Probleme des Alltags finden, denn die Auslöser der Probleme dürften nicht mehr nur auf der lokalen oder globalen Ebene lokalisiert werden. Andernfalls würde die EU sich als eine Organisation präsentieren, die zu weit von den sich zu stellenden Herausforderungen entfernt ist (White 2010: 1036).

Zusammenfassend lässt sich aus dem Kapitel mitnehmen, dass sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchungen ergaben, dass „Europa“ keine relevante Identifikationskategorie für die europäischen Bürger darstellen kann. Viel mehr sind regionale und nationale Identifikationen im Alltag europäischer Bürger sehr wichtig. Europa ist etwas abstraktes, weit entferntes zu dem kein Bezug hergestellt werden kann. Daraus resultiert, dass das Interesse und Verständnis für europäische Politik nur sehr gering ist. Falls doch über europäische Thematiken geredet wird, werden sie hauptsächlich aus dem regionalen und nationalen Blickwinkel betrachtet. Doch lassen sich diese Ergebnisse in einer politischen Diskussion mit Studenten reproduzieren? Um diese Frage wird es im zweiten Teil der Ausarbeitung gehen. Doch um Daten für die Analyse erheben zu können, muss eine Strategie für die Datenerhebung entwickelt werden. Wie die methodische Vorgehensweise ausgesehen hat, wird kurz im nachfolgenden Kapitel erklärt.

3. Methodik und Stichprobe

Das Interview (durchgeführt im August 2020) wurde als eine Gruppendiskussion konzipiert, in der der Interviewende eine Moderationsposition erhält. Die Diskussion fand zwischen drei Diskussionsteilnehmern statt, welche allesamt Studenten aus Münster sind und dauerte circa eine Stunde. Dabei ist jeder Interviewteilnehmende ein männlicher Student einer anderen Fachrichtung. Es wurden Studenten ausgewählt, da sie politisches Interesse zeigen und sich über das Weltgeschehen informieren (Knopke 2017: 17). Es wurde vermutet, dass Interesse an Politik und dem Weltgeschehen zu einer differenzierten Diskussion beitragen könnte. Die vertretenen Fachrichtungen sind Agrarwissenschaften, Rechtswissenschaften und Psychologie. Es wurde darauf geachtet, Studenten aus unterschiedlichen Fachrichtungen auszuwählen, um ein „repräsentativeres“ Ergebnis zu erhalten. Das Ziel der Untersuchung war, herauszufinden, welche Relevanz Europa als Identifikationskategorie für Studenten in der Corona-Krise besitzt.

Um die Relevanz Europas und der EU als Identifikationskategorien implizit untersuchen zu können, wurde die Corona-Krise als Gesprächsthema ausgewählt. Die Corona-Krise ist ein globales Phänomen und schließt somit implizit europäische Thematiken mit ein. Es wurde ein Interviewleitfaden (für den Leitfaden: siehe Anhang) entwickelt, welcher eine Moderation der Diskussion vorsieht. Dabei wurden direkte Fragen in die Diskussionsrunde gestellt. Die Diskussion sollte sich im Verlauf immer weiter und expliziter Richtung Europa wenden, sofern das vorher noch nicht geschah. Der Moderator koproduzierte somit die Narrative. Es wurden jedoch bis zum zweiten Teil des Interviews keine direkten Fragen zu Europa oder einer europäischen Identifikation gestellt. Während am Anfang des Interviews die Thematiken zu Corona selbstständig ausgewählt wurden, wurden die Gesprächsthemen im weiteren Verlauf vom Moderator vorgegeben. In den Gesprächsimpulsen des Moderators sind auch eine Reihe von Vorannahmen enthalten. Beispielhaft ist, dass angenommen wurde, dass die Corona-Krise „Probleme“ mit sich bringt, welche auch „bewertbar“ sind. Der Moderator hielt sich in den Diskussionen zurück und brachte nur dann neue Gesprächsimpulse, wenn die Diskussion versiegte oder sich von der Corona-Thematik entfernte.

Aufgrund der Methodik und der kleinen, männlichen Stichprobe sind die Ergebnisse nicht repräsentativ. Trotzdem ließen sich viele interessante Phänomene beobachten. Diese werden jetzt im nächsten Kapitel betrachtet.

4. Narrativanalyse: Welche Relevanz besitzt Europa als Identifikationskategorie während der Corona-Krise?

Bevor in die tiefergehende Analyse der Narrative gegangen wird, lässt sich bilanzieren, dass das Interviewergebnis ambivalent ist. Einerseits ließen sich die Ergebnisse der Studien größtenteils reproduzieren, denn eine europäische Identität scheint bei zwei von drei Studierenden keine große Relevanz im studentischen Alltag während der Corona-Krise zu besitzen. Vielmehr scheinen europäische Thematiken stark mit einer nationalen Identität verbunden zu sein. Beide wiesen explizit darauf hin sich nicht als Teil einer europäischen Gemeinschaft zu sehen. Ihre Narrative scheinen das zu bestätigen und auf eine starke regionale und nationale Identifikation hinzuweisen. Andererseits ließ sich eine Ausnahme beobachten. Ein Teilnehmer erzählte explizit, dass er sich als Teil einer europäischen Gemeinschaft identifiziert. Die Ergebnisse von der Analyse seines Narrative scheinen seine Aussage zu verifizieren.

Diese Analyse erhebt dabei keinen Anspruch, die Identitätskonstruktionen der einzelnen Interviewpartner im vollen Umfang herauszukristallisieren. Es wird sich darauf konzentriert die Narrative der Interviewpartner mit den in der Arbeit genannten Ergebnissen aus der Empirie abzugleichen und nach Merkmalen von kollektiven Identitäten zu suchen. Die genannten Identitäten sind nicht exklusiv und existieren auch neben anderen Identitätskategorien. Auch bei Sprecher 1, welcher sich als Teil einer europäischen Gemeinschaft sieht, finden sich auch Indizien für eine nationale Identifikation. Auf solche Indizien wird jedoch nicht tiefergehend eingegangen. Die Transkriptausschnitte werden aus allen Teilen des Interviews entnommen, basieren jedoch hauptsächlich auf dem zweiten Teil des Interviews, in dem europäische Bezüge explizit angesprochen wurden, da europäische Thematiken im ersten Teil nur selten selbst gewählt und nicht weit ausgeführt wurden.

4.1. Aus welcher Perspektive wird die Corona-Krise betrachtet?

In diesem Kapitel soll untersucht werden, aus welcher Perspektive die Interviewteilnehmer auf Phänomene aus der Corona-Krise schauen. Aus der Identitätsforschung wissen wir, dass kollektive Identitäten kulturelle Systeme sind, welche die Merkmale ihrer Identität erklären können und sich über Homogenität und Differenz definieren. Aus der Empirie wissen wir, dass sich diese Merkmale kollektiver Identität in der Sichtweise einer Person auf bestimmte Phänomene erkennen lassen. Deshalb kann mithilfe der Analyse der Sichtweise einer Person auf die Corona-Krise, Schlüsse über ihre relevantesten Identifikationskategorien gezogen werden.

Sprecher 2 bewertet (internationale) Probleme der Corona-Krise aus nationaler und regionaler Perspektive. Für ihn steht im Vordergrund, regionale sowie nationale Probleme und Erfolge im Vergleich zu anderen internationalen Akteuren zu bewerten, zu vergleichen und zu betonen.

Auszug 1: Justus, Jurastudent (22J) S.10, Sprecher 2 (S2)

S2: […](.) ja es wird auch immer wieder gesagt in deutschland haben wir das GLÜCK dass wir uns als gesellschaft auf die wissenschaft verlassen (.) wir sind anders als die amerikaner die ähh (1) die sich primär von populistischen ähm (.) rhetorischen stilmitteln leiten lassen (.) °hh sondern wir haben einfach ein vertrauen in die wissenschaft das ist halt AUCH unserer historie geschuldet dass einfach viele große wissenschaftlichen enteckungen kommen aus unserem LAND (.) und wir haben da einfach ein gewisses vertrauen hinein (.) ich glaube gerade WEIL so viel auch das robert äh koch-institut ähhh (.) öffentlich ähh an arbeit geleistet hat (.) also mit den leuten in die konversation gestiegen is (1) ähm würde ich sagen dass dahingehend die akzepTANZ auch HÖher war weil man verstanden hat worum es eigentlich GEHT (.) […]

In diesem Auszug wird deutlich, dass Sprecher 2 sich als Teil einer deutschen Gemeinschaft sieht. Das wird einerseits durch die Wahl des Wortes „wir“ deutlich, welches eine Zugehörigkeit impliziert und andererseits liefert er gleichzeitig noch eine (Teil-) Erklärung auf die Frage: „Wer sind wir?“ Für Sprecher 2 ist klar, dass aufgrund der Historie ein Vertrauen in die Wissenschaft besteht. Die deutsche Identität setze sich somit zum Teil aus einem Vertrauen in die Wissenschaft zusammen. Außerdem findet eine Abgrenzung von den „Amerikanern“ statt, welche sich scheinbar von populistischen Stilmitteln leiten lassen. Das heißt, Sprecher 2 betont die Homogenität der Vorstellungen von Wissenschaft in Deutschland und grenzt sie gleichzeitig von anderen Ländern ab. Beides sind Indizien für eine nationale Identifikation. Weitere Indizien für eine Betrachtung der Corona-Krise aus nationaler Sicht finden sich im folgenden Abschnitt.

Auszug 2: Sprecher 2 (S2), S.22-23

In diesem Auszug sind die Aussagen von Sprecher 2 (S2) wichtig.

S2: ne also (1) ICH WÜRde sagen es kommt echt bei so nem land wie schweden (.) KANNST du so eine schiene überhaupt fahren weil du einfach so viele flächen hast wo halt einfach nichts is (.)

S1: ja (.)

S2: genauso äh wie in äh so nem land wie in äh son [asiatisches/]

S1: [asiatisches ne] also die haben nicht viele (.) äh sind nen sehr REICHes land und haben daher nicht so probleme (.) die leute da kann man auch eher mit eher lockeren regeln halten sich die leute trotzdem an gewisse sachen das kannst du in (.) anderen [ländern nicht so handhaben]

S2: [also ost ostrussland] ist möglich aber man sieht ja an dem KURS der amerikaner so von wegen ähm so keinerlei beschränkungen der freiheit (.) da hat man gemerkt bei denen funktionierts halt ÜBERhaupt nicht (. )

S1: ne (.)

S2: und so würde es halt dann auch in deutschland gewesen weil in den großstädten dann einfach plötzlich MASSENgräber ausgehoben werden müssten (.) das ist was das LIEST du und das kannst du ja gar nicht in dem punkto aus unserer generation wirklich erfassen was das bedeutet so ein massengrab (.) wir können da alle was mit assoziieren (.)[aber uns jetzt vorzustellen]

S3: [nen loch buddeln und alle reinschmeißen]

S2: wir laufen WIR laufen hier am kanal entlang und sehen da ein RIEsenloch (.) und da sind/ werden gerade nen HAUfen leichen reingeschmissen (.) das entzieht sich uns als doppelte nachkriegsgeneration (.) ähm entzieht sich das unserer vorstellungskraft was das für ein anblick sein muss (1) und von daher würde ich sagen (.) bei uns wäre das vollkommener humbug gewesen

In dem zweiten Auszug wird deutlich, wie Sprecher 2 den Umgang anderer Länder mit der Corona-Krise aus nationaler Sicht bewertet und einordnet. Ein Ausbleiben von Maßnahmen sei in Schweden aufgrund der Geografie des Landes möglich, führe aber in Deutschland zu einer humanitären Katastrophe, deren Ausmaß man anhand der Probleme in den USA erkennen könnte, da die Gegebenheiten zwischen den USA und Deutschland ähnlicher seien würden. Außerdem wird wieder eine Antwort auf die Zusammensetzung der deutschen Identität gegeben, mit der sich Sprecher 2 identifiziert. Der zweite Weltkrieg scheint nach wie vor in der Identität verankert, gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass sich der Sprecher mit einer jüngeren Generation identifiziert, für die die Auswirkungen von humanitären Katastrophen nicht vorstellbar sein würden. Dieser Abschnitt beinhaltet einmal mehr die gleichen Indizien für eine nationale Identifikation.

Im Gegensatz dazu identifiziert sich Sprecher 3 nach eigener Aussage als „Mensch.“ Sprecher 3 impliziert somit, dass er keine Unterschiede zwischen Menschen auf der gesamten Welt macht und sich mit allen Menschen auf der Welt identifiziert. Deshalb scheint als Oberbegriff für die Analyse „globale Identität“ passend, also ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer weltweiten, menschlichen Gemeinschaft. Das Narrativ von Sprecher 3 scheint dieser Aussage jedoch nicht zu unterstützen. Vielmehr bewertet Sprecher 3 Probleme und Maßnahmen in der Corona-Krise aus nationaler und vor allem regionaler Sicht und im Vergleich mit anderen nationalen und internationalen Akteuren. Es findet keine Bewertung der Probleme aus Sicht einer Weltgemeinschaft statt. Die regionale Identität scheint die wichtigste Identifikationskategorie darzustellen, da oftmals auch nationale Probleme aus der Sicht des regionalen Umfeldes bewertet werden.

Auszug 3: Ben, Sprecher 3 (S3), Psychologiestudent (23J) S.3

S3: °hhh mhh (1) also richtig problematisch finde ich äh tatsächlich (.) WIE irrational gehandelt wurde in vielen punkten (.) sei es jetz hamsterkäufe oder menschen (.) WIE SIE sich schlichtweg geWEIGert haben ne maske beim einkaufen (.) zu tragen (2) DANN (.) inwieweit die (.) inwieweit die politik erst nicht reagiert HAT (.) dann SEHR stark reagiert hat (1) ich habe das von ein paar jüngeren freunden mitbekommen die noch in ne schule gehen (1) erst war gar nix los (1) dann auf einmal waren die schulen zu dann gab es gar keinen unterricht mehr (.) […]

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Sprecher 3 nationale Probleme aus regionaler Sicht bewertet. Bespielhaft ist, wie die Aktionen der Politik auf Grundlage von Erfahrungen aus dem persönlichen Freundeskreis bewertet werden. Es findet eine Differenzierung von „irrationalen Menschen“ in Deutschland statt, welche sich nach der Meinung von Sprecher 3 problematisch verhalten würden. Das heißt, Sprecher 3 sieht sich nicht uneingeschränkt als Teil eines homogenen nationalen Kollektivs. Der Verweis auf den persönlichen Freundeskreis könnte auf eine starke regionale Identifikation schließen.

Andererseits beschränkt sich Sprecher 3 nicht nur auf eine regionale Betrachtungsweise, sondern nimmt auch eine Bewertung europäischer Phänomene aus nationaler Sicht vor.

Auszug 4: Sprecher 3 (S3), S.25

S3: EY <<lachend> das is diskrimiNIERung (.) aber ganz abgesehen davon wo du gerade england erwähnst ne hier brexit und so (.) a/ (1) MAßnahmen WUNderbar wieder da sind die beispiellos vorangegangen (.) krankenhaus in england (.) zum thema MAßnahmen (.) sacht glaub ich zu ner NEUNzehnjährigen die hatte corona positiv (.) sagt sie wird nicht behandelt man hält (.) ihren platz den sie einehmen würde lieber für potenzielle (.) potenziell gefährdetere FREI (.) wurde nach hause geschickt (.) zwei tage später is sie krepiert (1) ich meine das (.) das waren die (.) die MAßnahmen waren in allen ländern so unterschiedlich muss man halt wieder sagen (.) DEUTSCHland steht (2) WIRTschaftlich und GERade auch im geSUNDheitswesen am besten da (.) ich meine der lockdown war am anfang vernünftig (.) UM kapazitäten zu schaffen (.)[…]

In dem vierten Auszug wird deutlich, wie Sprecher 3 die Geschichte eines katastrophalen Versäumnisses in einem Krankenhaus in England erzählt, um zu verdeutlichen, dass Deutschland im Gegensatz zu England sehr gut im Gesundheitssystem sowie der Wirtschaft dastehen würde. Wieder einmal wird das Merkmal der Differenzierung deutlich. Sprecher 3 grenzt die deutsche Gesundheitsversorgung von der englischen ab, um ihre „Stärke“ zu demonstrieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass Sprecher 3 sich mit einem wirtschaftlich und im Gesundheitssystem sehr guten Deutschland identifiziert, welches sich in diesen Punkten von anderen Ländern unterscheidet.

Im Gegensatz zu den beiden anderen Sprechern lässt sich bei Sprecher 1 eine deutlich höhere Relevanz Europas als Identifikationskategorie erkennen. Denn Sprecher 1 betrachtet Probleme auch aus einer europäischen Perspektive.

Auszug 5: Magnus, Sprecher 1 (S1), Agrarwissenschaftsstudent (23J), S.31

S1: was ich jetz auch so befürchten würde is wenn das jetzt so getroffen werden würde (.) und dann äh man sieht ja auch jetzt schon dass die leute sich eben (.) ja auch teilweise dagegen wehren und auf die STRAße gehen (.) DASS sich diese (.) DIEse WUT und so weiter dann eben auch auf (.) auf die EU kanalisiert (.) weil die weil die EU ja schon immer (.) für viele sachen auch hin/ ja herhalten muss (.) ne (.) kritik also von der kritik her (.) und ja (.) insofern hätte das äh bestimmt auch probleme gegeben (3) da bin ich mir sicher (2) ja (4)

Sprecher 1 befürchtet, dass die Wut, welche sich durch Probleme der Corona-Krise entwickelt haben soll, auf die EU kanalisieren könnte. Diese Aussage impliziert, dass die Probleme der Corona-Krise aus europäischer Sicht bewertet werden, da Konsequenzen für die EU und nicht für ein Land oder eine Region befürchtet werden. Außerdem wird deutlich, dass ein „Opfer-Dasein“ für Sprecher 1 einen Bestandteil der Identifikation mit der EU darstellt, da die EU immer für viele Probleme herhalten müsse. Ein weiteres Beispiel für die Betrachtung aus europäischer Sicht findet sich im folgenden Abschnitt.

Auszug 6: Sprecher 1 (S1), S.38

S1: […]äh ein ganz großes problem darin sehe dass in bestimmten ländern einfach SEHR lange SEHR viel nachgesehen wurde und dass da auch irgendwie (.) ähm nicht gehandelt wurde das zum beispiel (.) ähm länder wie irland es ermöglichen dass apple hier zu so einem geringen steuersatz (.) äh genauso niederlande hat da ähnliche sachen gemacht (1) ähmm (1) luxemburg muss ich mal (.) <<lachend> an der stelle is auch eher NEHmerland ne (.) und ähm JA ich finde das sind probleme dass wir (.) dass sich BEstimmte STAAten an der EU wirtschaftlich bereichern (.) ABER dann äh (.) SICH für den REST irgendwie sich nicht interessieren (.) GErade die NIEderlande die ja jetzt gerade die fördergelder (.) ja die coronazahlungen ja mit boykottiert haben (.) aber gleichzeitig aber dafür sorgen dass der EU so viele steuergelder irgendwie ja (.) äh (.) nich bekommen (.) das is für mich son widerspruch (.) und dann äh das was mich auf jeden fall auch bei mir (.) äh ja (2) auch bitter aufstößt auf jeden fall (.) und das ist irgendwie auch für mich auch an europa enttäuscht (.)

Der Abschnitt verdeutlicht den Frust von Sprecher 1 über die Art und Weise wie Länder sich gegenüber der EU und anderen Mitgliedsstaaten verhalten würden. In den einzelnen Mitgliedsstaaten sei zu viel nachgesehen worden, wodurch Schäden für die EU entstanden seien. Somit wird deutlich, wie Sprecher 1 europaweite Problematiken aus europäischer Sicht bewertet. Gleichzeitig wird Europa als etwas anderes als ihre Mitgliedsstaaten charakterisiert, denn Sprecher 1 nimmt eine Differenzierung von den Nationalstaaten vor, um die Sonderrolle der EU zu betonen. Außerdem wird wieder auf das „Opfer-Dasein“ der EU angespielt, da die EU von den einzelnen Staaten schlecht behandelt werden würde.

4.2. Weitere Indizien für eine Nicht-Identifikation mit Europa

Im folgenden Kapitel sollen weitere Indizien vorgestellt werden, die für eine Nicht-Identifikation von Sprecher 2 und Sprecher 3 mit Europa sprechen. Für Sprecher 2 und Sprecher 3 gibt es keine kollektive europäische Identität, da Europa als etwas abstraktes und unnahbares gesehen wird, was nicht in der Lage ist eine Antwort auf die Frage „Wer sind wir?“ zu liefern. Es gäbe keine homogene Gedanken- und Wertebasis. Die Diversität unter den Mitgliedsstaaten in Europa sei viel zu hoch. Außerdem spricht gegen eine Identifikation mit Europa, dass beide Sprecher die politische Gemeinschaft in Europa nicht akzeptieren, da die EU nicht als die richtige Adresse für die Lösungsfindung von Problemen gesehen wird.

Auszug 7: Sprecher 2 (S2), S.38

S2: […] als erstes habe (.) ist zumindest bei mir so (.) habe ich da im kopf die ursprungs/ (.) die URsprünglichen staaten DIE ähm heute EU sind und (.) für mich europa bilden (.) also heißt äh frankreich niederlande belgien (.) die schwe/ schweden norwegen (.) das ganze was halt HOCHentwickelt is (.) im zweiten fällt mir dann aber immer ein dass mittlerweile fast die GANze europäische sowjetunion (.) AUCH jetzt TEIL von äh von europa sein soll (.) und DANN im dritten gedanken WIE anders doch wieder die staaten um deutschland herum sind (.) auch wie die VORstellungen davon voneinander divergieren (.) SO DIE (.) BRIten haben sich VIELmehr dem rechten kurs mittlerweile angeschlossen und da muss ich für mich sagen äh (.) dass ich mich NICHT mit europa an sich identifizieren kann weil das einfach ein ZU GROßer schmelztiegel ist der KEIN schmelztiegel eigentlich sein will (.)[…]

Sprecher 2 verdeutlicht, dass Europa in seinem Verständnis nur aus den „ursprünglichen“ Staaten besteht, zu denen er die westeuropäischen Staaten zählt. Die ehemaligen Staaten der Sowjetunion werden als etwas fremdartiges betrachtet, das zu verschieden sei, um eine gemeinsame Identifikationsbasis schaffen zu können. Außerdem wird hervorgehoben, dass selbst die Staaten um Deutschland herum zu verschieden seien. Beispielhaft sei da Großbritannien, welches sich dem rechten Diskurs angeschlossen haben soll. Sprecher 3 sieht die Problematik ähnlich.

Auszug 8: Sprecher 3 (S3), S.41

S3: so ähm das entscheidene ist natürlich jetzt GEMEINschaft ne (3) is schon das wort GEMEIN also ne gemeinsamkeit mit jemanden haben drin (3) ICH finde (.) das ist sehr SCHWIErig zu beurteilen (.) wie auch eben schon gesagt wurde ist auch völlig klar (.) REgierungen einzelner länder stehen nicht für den europäischen gedanken zum EInen (.) WAS auch völlig klar ist dass in diesem PULK von MENSCHen SO viele unterschiedliche gedanken sind (.) DIE alle irgendwo europäer sind (.) europäer sein WOLLen (.) denen es EGAL ist und leute die GEgen europa sind (.) anti-europäer (1) WÜRde ich nicht sagen dass ich mich wie ein europäer fühle (.) das entscheidende ist doch eigentlich (2) dass äh der europäische grundgedanke is nicht zu sagen okay wir sind alle europäer sondern wir sind alle menschen (.) das ist würde ich sagen ist der eigentliche grundgedanke (.)

Für Sprecher 3 ist die Verschiedenheit und Menge der Gedankengüter in Europa zu groß, als dass sie eine Gemeinschaft bilden könnten. Europa sei seiner Meinung nach etwas, was dem eigenen Grundgedanken widerspricht. Für Sprecher 3 ist der europäische Grundgedanke, dass alle Menschen gleich sind. Eine Identifikationskategorie „Europäer“ würde eine Unterscheidung zu anderen Menschen bedeuten und somit dem Grundgedanken widersprechen.

Ein weiterer Aspekt ist, dass Sprecher 2 und Sprecher 3 mit der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene nicht zufrieden sind. Das bedeutet einerseits ein Defizit in der europäischen Demokratiezufriedenheit und andererseits, dass die Interviewten der Ansicht sind, dass die EU nicht die richtige Adresse ist, um Probleme während und außerhalb der Corona-Krise zu lösen.

Auszug 9: Sprecher 2 (S2), S.27

S2: ähhm (1) insofern würde ich sagen in dem punkto würde ich es dann halt schwierig finden wenn da alle staaten das gleiche mitspracherecht haben weil sich dann das ganze ausbremst verzögert und wieder nicht umgesetzt wird (.) also dass is ja das was generell bei der union passiert (.) WIE lange hat es gedauert bis dieses paket verabschiedet wurde (.) es HÄTTE als STAAT deutlich schneller passieren können aufgrund der EU hat es ein paar/ (.) hat es jetzt schon WENIG ZEIT in anspruch genommen was sonst entscheidungen dauern (.) aber ich würde sagen dass so gesehen europaweite ENTscheidungen (2) ähm einfach nicht äh zeiteffizient genug sind (.) sondern man da vielleicht gewiss/ MAN müsste vielleicht gewisse modelle VORSTELLen und dann müssen die staaten einzeln aussuchen wonach sie sich entscheiden (.) weil man sonst diesen STAAten ja auch irgendwie (1) ja die FREIheit und AUtorität entzieht (1) und das geht halt aufgrund äh von den verfassungen auch der EU-verfassung nich weil wir halt GErade NICHT wie die äh USA (1) ein große vereinigte bundstaaten von euopa sind °hhh (.) sondern halt ein anderes staatsmodell (.) DAS ist meine Ansicht dazu (.)

Laut Sprecher 2 dauert die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene viel zu lang, weshalb sie besser auf nationaler Ebene durchgeführt werden sollte. Ein Grund dafür wäre nach Sprecher 2, dass das Unionsgebilde in Europa immer noch Freiheit und Autorität für die Mitgliedsstaaten vorsähe und somit verpflichtende, schnelle Maßnahmen ausschließen würde. Diese Aussagen lassen eine geringe Akzeptanz politischer Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene erkennen. Ein kurzes, aber prägnantes Beispiel für die Nicht-Akzeptanz der europäischen Entscheidungsfindung ist der folgende Absatz von Sprecher 3.

[...]

Fin de l'extrait de 66 pages

Résumé des informations

Titre
Europa und die Europäische Union als kollektive Identifikationskategorien im Alltag europäischer Bürger
Sous-titre
Relevanz für Studenten während der Corona-Krise
Université
Bielefeld University
Note
1.0
Auteur
Année
2020
Pages
66
N° de catalogue
V953152
ISBN (ebook)
9783346296047
ISBN (Livre)
9783346296054
Langue
allemand
Mots clés
europa, europäische, union, identifikationskategorien, alltag, bürger, relevanz, studenten, corona-krise
Citation du texte
Julian Borchard (Auteur), 2020, Europa und die Europäische Union als kollektive Identifikationskategorien im Alltag europäischer Bürger, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/953152

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