Darstellung der sozialkonstruktivistischen Kriminalitätstheorie am Beispiel des weiblichen Gewalt- und Kriminalitätsverhaltens


Trabajo Escrito, 2020

20 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie im Überblick
2.1. Makro-Ebene: Entstehung der Kategorie der Kriminalität
2.2 Mikro-Ebene: Kriminalität als individuelle Handlung
2.3 Makro-Ebene: Statistiken und Diskurse der Kriminalität

3. Geschlechtsspezifisches Gewalt- und Kriminalitätsverhalten
3.1 Entwicklung der weiblichen Kriminalität und Entstehungsbedingungen gewalttätiger Handlungen:
3.2 Motive gewalttätiger Handlungen bei weiblichen Jugendlichen:

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Handlungsweisen von Männern und Frauen unterscheiden sich zuweilen stark voneinander. Besonders in Konfliktsituationen, in welchen es mitunter zu gewalttätigen und kriminellen Handlungen kommt, kann die Unterschiedlichkeit des männlichen und weiblichen Verhaltens beobachtet werden.

Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, die sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie von Hess und Scheerer zu beschreiben und diese anschließend bei der Darstellung des Gewalt- und Kriminalitätsverhalten von Frauen miteinfließen zu lassen.

Das behandelte Thema ist in den Bereich der Soziologie zu verorten, da es sich, neben dem Bereich der Kriminalsoziologie, auch mit sozialen Lagen und Problemen auseinandersetzt.

Zu Beginn des Kapitels „Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie im Überblick“ soll zunächst geklärt werden, was unter den verschiedenen Begriffsbestandteilen der Theorie Hess und Scheerers zu verstehen ist. Zudem wird skizziert, wie sich die Konstruktion von Kriminalität vollzieht.

Anschließend wird in den Unterpunkten, welche in die verschiedenen Ebenen des Makro-Mikro-Makro-Modells unterteilt sind, genauer auf die einzelnen Ebenen des Modells eingegangen.

Im Unterpunkt 2.1 wird nachgezeichnet, wie es dazu kam, dass sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die Kategorie der Kriminalität herausbildete.

Im nachfolgenden Unterpunkt, welcher die Mikro-Ebene behandelt, wird darauf eingegangen, wie die individuellen Handlungen des Akteurs die Entstehung und den Fortlauf seiner kriminellen Karriere beeinflussen.

Der Unterpunkt 2.3 beschreibt, wie die Kriminalstatistiken und Kriminalitätsraten Einfluss auf die gesellschaftlichen Diskurse nehmen.

Im Oberpunkt „ Geschlechtsspezifisches Gewalt- und Kriminalitätsverhalten“ wird auf die soziale Ungleichheit der Geschlechter hingewiesen und zudem behandelt, wie Männer und Frauen im Rahmen ihres kriminellen und aggressiven Verhaltens eingeschätzt werden können. Im Zuge dessen werden die elementaren Vorgänge und Begrifflichkeiten des „doing gender“, der geschlechtsspezifischen Sozialisation und der sozialen Kontrollinstanzen erklärt.

Im Unterpunkt 3.1 wird die Ausprägung des weiblichen Kriminalitätsverhalten erläutert und dargestellt, wie gesellschaftliche Rollenzuschreibungen das weibliche Gewaltverhalten beeinflussen.

Abschließend wird im Unterpunkt 3.2 die Frage behandelt, was die Beweggründe Jugendlicher sind, gewalttätige Handlungen zu begehen. Außerdem wird untersucht, ob die Motivationen des aggressiven Verhaltens geschlechtsspezifisch sind.

Das methodische Vorgehen ist hermeneutisch. Die Bearbeitung des Themas erfolgt durch fachgebundene Literatur.

2. Sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie im Überblick

Im Folgenden wird definiert, was unter einer allgemeinen Kriminalitätstheorie zu verstehen ist und das Modell Hess und Scheerers zusammenfassend dargestellt.

Unter „allgemein“ ist zu verstehen, dass sich die Theorie nicht ausschließlich auf einen Teilbereich der Kriminalität bezieht, sondern eine umfassende Erklärung aller Kriminalitätsphänomene anstrebt (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 89). Dadurch werden nicht nur die Begehung von Delikten auf der Mikro-Ebene oder Vorgänge auf der Makro-Ebene analysiert, sondern die Voraussetzungen und Folgen von Kriminalität als Handlung insgesamt (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 69). Von der gängigen Abgrenzung zwischen makro- und mikroperspektivischen Kriminalitätstheorien wendet man sich ab. Zwar separiert die allgemeine Theorie Erscheinungen der Makro-Ebene von individuellen Vorgängen auf der Mikro-Ebene, sie erkennt allerdings auch die Verbindung der beiden Ebenen zueinander an und überträgt Geschehnisse von der einen auf die andere Ebene (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 92).

Die Beschreibung von Aspekten des Gegenstandsbereichs und die Darstellung ihrer Beziehungsverhältnisse untereinander definieren Hess und Scheerer als „Theorie“. Dabei werden auch die Charaktere und die Auswirkungen dieser Beziehungen, ihre Entstehungs- und Bestehensvoraussetzungen sowie ihre Entwicklungsverläufe untersucht. „Kriminalität“ wird gesellschaftlich als das angesehen, was das Gesetz als strafbare Handlung bestimmt. Die davon ausgehende theoretische, strafrechtliche Definition sieht Kriminalität als die Gesamtheit der strafbedrohten Handlungsweisen an. Die moralunternehmerische Perspektive dagegen bezeichnet das als Kriminalität, was laut Auffassung der sprechenden Person derartig anrüchig ist, dass es dadurch kriminell wird. Die Gesamtheit der Handlungen, welche zur theoretischen Kriminalität zählen, jedoch nicht von den dazu zuständigen Behörden erfasst wurde, wird als informelle Kriminalität bezeichnet. Demgegenüber gehören jene strafbaren Handlungen dem Bereich der formell definierten Kriminalität an, die von den Kontrollinstanzen bearbeitet und in die Kriminalstatistik einfließen (vgl. ebd., S. 89f.). Die Aufgabe der allgemeinen Kriminalitätstheorie ist, zum einen aufzuzeigen, weshalb Handlungen, die von maßgebenden Instanzen als Risiken eingestuft werden, strafbedroht sind. Zum anderen soll erklärt werden, warum die Erzeugung von Risiken genauso wie deren selektive Kriminalisierung geschichtlich und räumlich so unterschiedlich ist. Des Weiteren hat die allgemeine Theorie zum Ziel zu begründen, weshalb gesetzeswidrige Handlungen obgleich der Androhung von Strafe verübt werden. Zuletzt wird aufgeführt, wie es dazu kommt, dass diese Taten teilweise entdeckt, verfolgt und bestraft werden und was die gesamtgesellschaftlichen Folgen sind, welche aus der so entstandenen Kriminalität resultieren (vgl. ebd., S. 86).

Die sozialkonstruktivistische Kriminalitätstheorie sieht Kriminalität damit nicht als Naturphänomen, sondern als gesellschaftliches Konstrukt an. Der Sozialkonstruktivismus betrachtet Ereignisse als Ergebnis einer sozialen Rahmung und untersucht, wie dieser Vorgang abläuft. Dabei geht es darum, ein Verständnis der Handlungsweisen zu erlangen und die gesellschaftlichen Abläufe zu ergründen, durch welche der Sinnbereich der Kriminalität begründet wird. Im Folgenden wird versucht, die Voraussetzungen und Hintergründe zu beschreiben, unter welchen Handlungen als kriminell definiert werden (vgl. ebd., S. 87f.). Nachdem es keine einheitliche Ursache für Kriminalität gibt, darf man keine Erklärung erwarten, die auf einzelne Ursachen zurückgeht. Die Theorie beschreibt weder monokausale noch rein multi-faktorielle Ursachen, sondern prozesshafte Sequenzen, welche versuchen die kriminellen Karrieren darzustellen (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 86f.) Das Modell Hess und Scheerers soll eine große Spannweite aufweisen, in welcher die gesamte Sinnprovinz und viele anerkannte Theorien vereinigt werden (vgl. ebd., S. 94).

Das Konzept zur Erklärung der Entstehung von Kriminalität basiert auf dem Makro-Mikro-Makro-Modell, welches sich auf drei Ebenen aufbaut. Diese bestehen jedoch nicht für sich allein, sondern bilden einen ineinandergreifenden, permanent neu hervorbringenden Ablauf (vgl. ebd., S. 94).

Die Makro-Ebene bestimmt die strukturellen Vorgaben für das soziale Handeln, wie z. B. die soziale Schichtung, soziokulturelle Strukturen und Leitbilder (vgl. ebd., S. 93). Widersprüche in der Gesellschaft führen, aufgrund von Interessensgegensätzen, zu Gefährdungen der sozialen Ordnung, welche wiederum als Kriminalität klassifiziert werden (vgl. ebd., S. 92). Um die Ordnung, angesichts solcher Bedrohungen durch Kriminalität, zu bewahren, werden kriminelle Taten mit Kontrollmaßnahmen, z. B. durch das Strafrecht, begegnet (vgl. ebd., S. 95).

Die gesellschaftlichen Konditionen der Makro-Ebene werden anschließend in Kriminalität als individuelle Handlung und situative Begebenheit auf der Mikro-Ebene umgewandelt (vgl. ebd., S. 92f.). Damit finden soziale Handlungen im Bezug zu den gesamtgesellschaftlichen Bedingungen statt, welche den Ausgangspunkt aller Handlungen bilden. Jeder Mensch interpretiert die Bedingungen der Makro-Ebene auf eine persönliche Art und Weise, die unter anderem von den eigenen Vorlieben, der Weltanschauung und den Sozialisationserfahrungen abhängig ist (vgl. ebd., S. 93). Die prozessartig ablaufende Karriere vollzieht sich folgendermaßen: Nach der Beurteilung der sich ihnen bietenden Handlungsoptionen und dem Ausschalten von Kontrollen, entschließen sich der Kriminalität zugeneigte Individuen in gewissen Situationen dazu, eine kriminelle Tat zu begehen. Insofern die Tat jedoch vor den zuständigen Kontrollinstanzen nicht verheimlicht werden kann, erfolgt die Etikettierung als kriminelle Person (vgl. ebd., S. 95). Die gesellschaftlichen Bedingungen der Makro-Ebene werden mit dem sozialen Handeln der Akteure auf der Mikro-Ebene verbunden, indem Menschen die von ihnen vorgefundenen Situationen individuell interpretieren.

Durch die massenhafte Aggregation der Handlungsweisen und Ereignisse der Mikro-Ebene entstehen neue überindividuelle Phänomene auf der zweiten Makro-Ebene. Kollektive Phänomene, wie z. B. Kriminalitätsraten, bilden die Basis der zweiten Makro-Ebene (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 70). Auf dieser Ebene wird Kriminalität als Institution angesehen. Indem kriminelle Akteure zusammen operieren sowie mit Kontrollinstanzen interagieren, entstehen spezielle Organisationsformen. Die Auslese von Delikten und Delinquenten geschieht durch Kontroll-Akteure, wodurch die Kriminalstatistik und die Institution des Strafvollzugs entstehen. Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Abläufe und kriminellen Handlungen bilden sich in Kriminalitätsdiskursen aus. Die Gesellschaftsordnung wird durch den Alltagsmythos von Kriminalität gesichert (vgl. Hess, Scheerer 1997 S. 95). Da in diesem Modell in einem zeitlichen Prozess stets neue Konditionen für die weitere Entwicklung gebildet werden, ist jedes Phänomen das Ergebnis eines fortschreitenden Ablaufes. Ebendiese Ergebnisse sind dafür verantwortlich, dass sich die gesellschaftliche Praxis ständig evolviert und damit auch die Ausgangssituationen künftig Handelnder verändert (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 71).

2.1. Makro-Ebene: Entstehung der Kategorie der Kriminalität

Eine der ersten Aufgaben der allgemeinen Kriminalitätstheorie besteht darin aufzuzeigen zu welchem Zeitpunkt, auf welche Art und Weise und weshalb die Kategorie Kriminalität in Erscheinung trat (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 96). Dabei soll auch der Prozess der gesellschaftlichen Erfindung des Verbrechens miteinbezogen werden (vgl. ebd., S. 99). Dies wird im Folgenden anhand der Ausführungen zur Makro-Ebene dargestellt (vgl. ebd., S. 96).

Die Kategorie der Kriminalität entsteht ursprünglich aus dem Herrschaftswiderspruch und dem Widerspruch zwischen der einzelnen Person und der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 99). Mit sozialer Ordnung ist das sich im Laufe der Geschichte verändernde Menschenwerk gemeint, dessen Strukturen sich durch die Ergebnisse menschlichen Handelns ergeben und durch diese auch weiterhin bestehen (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 71).

Die soziale Ordnung ist in zweifacher Weise in ihrem Bestehen bedroht. Zum einen durch den Widerspruch zwischen dem Individuum und der Gesellschaft: Der Mensch gefährdet die soziale Ordnung, da ihm eigene Willensfreiheit ermöglicht, sich über die soziale Ordnung hinwegzusetzen (vgl. ebd., S. 72). Zum anderen durch den Widerspruch zwischen Herrschenden und Beherrschten: dieser entstand, als im Laufe der Zeit einige Menschen privilegierte Stellungen erlangten. Herrschaft bildete sich fortan politisch als Regierungsgewalt und ökonomisch als Herrschaft über zentrale Wirtschaftsmittel aus, woraus die Phänomene des Rechts, der Verbrechen und ihrer Sanktionen entstanden. Risiken für die soziale Ordnung werden damit Handlungen, welche sich gegen die vorgezogene Position der herrschenden Personen richten. So ist die soziale Ordnung an sich für die Entstehung von sie selbst gefährdeten Interessensgegensätze verantwortlich (vgl. ebd., S. 72). Bestimmte bedrohte Interessen stiegen zu Rechtsgütern auf. Damit werden Handlungen als Kriminalität definiert und mit Aktionen sozialer Kontrolle begegnet, welche die soziale Ordnung oder Rechtsgüter gefährden (vgl. ebd., S. 73). Eine Methode der sozialen Kontrolle ist ordnungsgefährdende Handlungen zu abstrahieren und in verschiedene Gruppen einzuordnen. Die Ordnung bedrohende Handlungen werden so je nach Kontext entsprechend etikettiert, z. B. als Kriminalität, und den darauf festgelegten Organisationen, in diesem Fall der Polizei und Justiz, überantwortet (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 99). Da die sich an der Macht befindende Spitze über das Recht verfügt, die Gesetze aufzustellen und Sanktionen zu bestimmen, kann sie damit auch bestimmen, welche Handlungen gesetzeswidrig sind und Verstöße bestrafen, was der weiteren Sicherung ihrer Herrschaft dient (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 72). Wenn Staaten das alleinige Recht zur Ausübung von Gewalt innehaben, ist, abgesehen von staatlicher Gewaltanwendung, nur die vom Staat in begrenztem Umfang gestattete Gewalt, z. B. Notwehr, legal (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 101).

Um Bedrohungen der sozialen Ordnung von vorneherein abzuwenden, wird versucht durch Strategien sozialer Kontrolle, wie z. B. das Ausweisen einer Handlungskategorie als Straftatbestand, diesen vorzubeugen. Insofern diese Handlungen dennoch durchgeführt werden, können sie damit auch strafrechtlich verfolgt werden (Hess, Scheerer 2003, S. 73). Allerdings führt schon die Androhung von Strafe dazu, dass das Aufkommen verbotener Handlungen unwahrscheinlicher wird. Ein größerer Druck zur Geheimhaltung der strafbedrohten Handlungen führt bei den Akteuren dazu, dass diese ihr Verhalten erheblich verändern. Durch die Verheimlichung der Tat entsteht zudem zwangsläufig Folge-, Deckungs- und Beschaffungskriminalität sowie infolgedessen viele weitere Verhaltensveränderungen (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 102).

2.2 Mikro-Ebene: Kriminalität als individuelle Handlung

Die Bildung von Kriminalitätsraten und illegalen Märkten als Phänomene der zweiten Makro-Ebene stellen Konsequenzen vorangegangener Phänomene der ersten Makro-Ebene dar. Das Handeln der kriminellen Akteure und ihrer Gegenspieler, der sozialen Kontrollinstanzen, auf der Mikro-Ebene ermöglichen diese Entwicklung allerdings erst (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 75).

Handlungen und Handlungsabläufe werden als prozessartige Entwicklungen betrachtet. Dabei wandeln sich fortlaufend sowohl die Individuen als auch die Gegebenheiten ab, in welchen gehandelt wird. So kreieren allein und gemeinsam durchgeführte Handlungen stets neue Ausgangsbedingungen mit neuen Handlungsmöglichkeiten und -pflichten (vgl. ebd., S. 76).

Obwohl viele Individuen häufig motiviert sind kriminelle Taten zu begehen und sich günstige Situationen zur Tatbegehung ergeben, wird nur in vereinzelten Fällen die Tat begangen, was von soziologischen Kontrolltheorien aufgezeigt wird (vgl. ebd., S. 77). Gleichzeitig stellen diese dar, wie die Umstände, z. B. die Kontakte sowie die Szenen- und Subkulturzugehörigkeit des Akteurs, dazu beitragen können, dass sich der Karriere-Prozess in eine kriminelle Richtung weiterentwickelt (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 108). Um die Entstehung von Kriminalität beim Einzelnen zu verhindern, nehmen besonders die äußeren Kontrollen, wie z. B. die situativen Begleitumstände sowie die sozialen Kontakte, einen wichtigen Part ein. Die Sorge, dass sich durch die Tat und deren Folgen nahestehende Personen vom Akteur distanzieren könnten, hält diesen davon ab, die Tat zu begehen. Die inneren Kontrollen, wie z. B. durch die Sozialisation übernommene Moralvorstellungen, haben dagegen nicht die gleiche präventive Wirkung (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 77).

Selbst bei der, für die Ausführung der Straftat, günstigsten Voraussetzungen, ist der Mensch in seinen Handlungen nicht determiniert und kann sich immer noch gegen diese entscheiden, obwohl er durchaus durch die Gegebenheiten der Makro-Ebene in seiner Biographie und Lebenssituation geformt wird (vgl. ebd., S. 78). Häufig geraten Straftäter in die Kriminalität unbewusst hinein, indem sie eine Reihe marginaler Entschlüsse treffen, von welchen jede aber ein kleines Stück mehr in die Kriminalität hineinführt. Z. B. dadurch, dass bestimmte Handlungsalternativen nicht mehr möglich werden, erscheint dem Individuum nur noch eine Option verfügbar (vgl. ebd., S. 78f.). Die zukünftigen Handlungspläne und Methodenwahl hängen davon ab, wie der Akteur die Tat erlebt. Insofern während der Ausübung der Tat positive Gefühle empfunden werden oder sich durch die kriminelle Handlung erfreuliche Folgen ergeben, wie z. B. aussichtsreiche Bekanntschaften schließen zu können, werden günstige Voraussetzungen geschaffen, erneut kriminell tätig zu werden (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 80). Des Weiteren begünstigt es den Fortlauf der kriminellen Karriere, wenn sich das Individuum mit anderen delinquenten Akteuren verbündet, z. B. in Organisationen wie Jugendbanden, und deren Weltanschauungen und Normvorstellungen übernimmt (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 121).

Solange das soziale Umfeld des Täters diesen nicht als kriminell ansieht, bleibt das Selbstbild des Akteurs, trotz mehrfacher krimineller Handlungen, intakt. Insofern jedoch Außenstehende, z. B. nach Bekanntwerden seiner Taten, ihr Bild vom Akteur wandeln und dessen Handlungen als kriminell kategorisieren, beginnt sich auch das Individuum an deren Einschätzungen über sich selbst anzupassen und selbst neu zu definieren. Mit der Kategorisierung der Handlung als kriminell, wird auch der Akteur als Individuum der Personenkategorie „Krimineller“ zugeordnet, wobei diese Kategorie einen „master status“ einnimmt. Im Rahmen dieses Labeling Prozesses wird der Täter stigmatisiert. Die Auswirkung solcher bestrafenden Maßnahmen und der neu entstandenen Identität als Krimineller ist, dass sich die zukünftigen Handlungsoptionen einschränken: die Aussichten weiterhin konforme Rollen einzunehmen nehmen ab, während es wahrscheinlicher wird, sich zukünftig dem kriminellen Image entsprechend zu verhalten (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 81).

Eine kennzeichnende Eigenschaft von Gewaltkarrieren ist der Anstieg der Häufigkeit von gewalttätigen Handlungen in bestimmten Lebensphasen der Akteure (vgl. Equit 2012, S. 230f.) Die meisten kriminellen Handlungen bleiben episodisch und führen nicht zu einem Identitätswandel und einem „master status“ als Krimineller (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 121f.).

2.3 Makro-Ebene: Statistiken und Diskurse der Kriminalität

Szenen, Banden und Märkte sind Makro-Phänomene, welche sich aus der Interaktion von Kriminellen und Kontrollinstanzen auf der Mikro-Ebene entwickeln (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 82). Auf der einen Seite können spezielle Szenen und Märkte die Stabilität des gesellschaftlichen Systems beeinträchtigen, auf der anderen Seite können sie allerdings auch den sozialen Zusammenhalt festigen, indem sie öffentlich diskutiert werden (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 139).

Soziale Tatsachen, wie die Kriminalstatistik und Kriminalitätsraten, entwickeln sich aus den massenhaften sozialen Interaktionen auf der Handlungsebene und erlangen schließlich auf der Makro-Ebene eine eigene Relevanz. Es existieren unterschiedliche Kriminalitätsraten, die für den öffentlichen Diskurs eine Rolle spielen: zum einen solche, die in den Dunkelfelduntersuchungen erhoben werden, zum anderen jene, die in der offiziellen Kriminalitätsstatistik aufgezeigt werden. Die polizeilich registrierte Kriminalität und damit auch deren Kriminalstatistik zeigt nur einen verkürzten, selektierten Auszug krimineller Handlungen, während die von Dunkelfelduntersuchungen aufgestellten Kriminalitätsraten der Messung der tatsächlich stattfindenden Kriminalität näherkommt (vgl. Hess, Scheerer 2003, S. 84). Somit differieren die kriminellen Akteure und Straftaten des Hellfeldes stark von denen des Dunkelfeldes. Welche Anteile der Kriminalität von den offiziellen Statistiken erfasst werden und welche im Dunkelfeld verharren, ergeben sich aus den systematischen Verzerrungen, welche die Individuen je nach ihrem gesellschaftlichen Status unterschiedlich treffen (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 132). Die unteren sozialen Schichten werden gegenüber den besser gestellten Gesellschaftsmitgliedern strukturell diskriminiert: Angehörige höherer Schichten haben ihnen gegenüber mehr Vorteile, da sie z. B. über bessere Strafverteidiger verfügen, damit seltener verurteilt werden und dadurch letztendlich in den Kriminalstatistiken und in den Kriminalitätsdiskursen unterrepräsentiert sind (vgl. ebd., S. 133).

Die in der Allgemeinheit vorhandenen Kenntnisse über Kriminalität stammen teilweise aus Mediendiskursen, wobei die Kriminalitätsdarstellung der Massenmedien von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung als die tatsächlich existierende Kriminalität angenommen wird. Ergebnisse der journalistischen Selektion zum Thema Kriminalität sind spezifische Behauptungen über die Häufigkeit, Art und Ursprünge der Kriminalität sowie Klischees über delinquente Akteure und Kontrolleure. Meist folgt darauf eine Verallgemeinerung vieler einzelner Fälle zu einem öffentlichkeitswirksamen, demagogisch einsetzbaren Begriff, wie z. B. „der Kriminalität“ (Hess, Scheerer 2003, S. 85).

Unter Kontrolldiskursen werden Diskussionen unter Politikern, Behörden und Kontrollinstanzen verstanden, welche sich damit befassen, wie Bedrohungen der sozialen Ordnung unter Kontrolle gebracht werden können. Zu diesen Kontrolldiskursen zählen ebenfalls Aktionen von außenstehenden Moralunternehmern. Häufig möchten diese mehr Kontrollen durchsetzen und stellen Kriminalität dafür als besondere Bedrohung dar. Um ihre Ziele zu erreichen, werden diese Diskurse den Medien übergeben und damit Gegenstand der Mediendiskurse. Wenn dies der Fall ist, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sich der jeweilige Kontrolldiskurs zu einer moralischen Panik entwickelt (vgl. ebd., S. 86).

Andere mögliche Auswirkungen der Aufstellung von Kriminalstatistiken und den sich darauf beziehenden Kriminalitätsdiskursen sind, dass es nach einem reihenweisen Verstoß gegen einen Bestandteil der sozialen Ordnung zur Abschaffung des Straftatbestandes kommen kann. Damit kann Kriminalität auch Elemente von Gesellschaftskritik beinhalten und ein Anstoß für gesellschaftliche Veränderungen sein (vgl. ebd., S. 88).

Durch die Stilisierung der Kriminalität als ein Mysterium, wird diese zum „Opium des Volkes“ (vgl. Hess, Scheerer 1997, S. 143). In der kollektiven Reaktion auf deviante Individuen wird die Solidarität der regeltreuen Gesellschaftsmitglieder sowie deren Bereitschaft, sich auch künftig angepasst zu verhalten, erhalten. Normverletzungen und deren Bestrafung führen dazu, dass der innere Zusammenhalt der Bevölkerung gefördert und soziale Normen gewahrt werden, da den Menschen so immer wieder gezeigt wird, welche Verhaltensweisen gesellschaftlich nicht gestattet sind. Somit tragen sich kriminell verhaltende Personen zum Fortbestand der aktuellen politischen Herrschaft bei, indem sie von den Kontrollinstanzen als Verräter gebrandmarkt werden. Die Verarbeitung von, die soziale Ordnung bedrohenden, Handlungen führt letztendlich zur weiteren Stabilisierung ebendieser Ordnung (Hess, Scheerer 2003, S. 89).

[...]

Final del extracto de 20 páginas

Detalles

Título
Darstellung der sozialkonstruktivistischen Kriminalitätstheorie am Beispiel des weiblichen Gewalt- und Kriminalitätsverhaltens
Universidad
University of Augsburg
Calificación
1,0
Autor
Año
2020
Páginas
20
No. de catálogo
V953245
ISBN (Ebook)
9783346296870
ISBN (Libro)
9783346296887
Idioma
Alemán
Palabras clave
Makro-Mikro-Makro-Modell, Henner Hess, Sebastian Scheerer, Theorie der Kriminalität, Gender, Sozialkonstruktivismus, Allgemeine Kriminalitätstheorie, Gewalt, Gewalt bei Frauen, Motive gewalttätiger Handlungen, Entstehungsbedingungen von Gewalt, geschlechtsspezifisches Gewaltverhalten, Sozialisation, Geschlechtsrollen, Aggressivität, Kriminalitätsraten, Kriminalstatistiken, Hegemonie, doing gender, doing masculinity, Konkurrenzgesellschaft
Citar trabajo
Myrthe Prell (Autor), 2020, Darstellung der sozialkonstruktivistischen Kriminalitätstheorie am Beispiel des weiblichen Gewalt- und Kriminalitätsverhaltens, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/953245

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