Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Flucht
2.1 Was ist Flucht?
2.2 Fluchtmotive
2.3 Geflüchteter sein
2.4 Migration
3. Heimat
3.1 Was ist Heimat?
3.2 Lebenssituation
3.3 Fremdheit
4. Trauma in Bezug auf Flucht
4.1 Was ist Trauma?
4.2 Posttraumatische Belastungsstörung
4.3 Jugend und Fluchterfahrung
4.4 Umgang mit Trauma
5. Somatische und seelische Symptomerscheinungen in der Schule
5.1 Intrusion
5.2 Erstarren und Verstummen
5.3 Körperliche und seelische Anspannung sowie psychosomatische Störungen
5.4 Angst und Aggression
5.5 Lernblockaden
6. Handlungsmöglichkeiten beim pädagogischen Umgang mit traumatisierten SchülerInnen
6.1 Was brauchen traumatisierte SchülerInnen? Schule als sicherer Ort
6.2 Wie kann geholfen werden? Pädagogische Arbeit in der Schule
6.3 Medienbezogene Projekte
6.4 Trauer- und Traumabewältigung
6.5 Kooperation mit außerschulischen Institutionen
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Weltweit leben Millionen Menschen in Gefahrensituationen von katastrophalem Ausmaß. So haben im Jahr 2016 über 65 Millionen Vertriebene ihr Heimatland verlassen müssen. Nach den Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind darunter 20 Millionen Kinder und Jugendliche, vielen davon sogenannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie fliehen vor Gewalt, Krieg, Folter sowie Verfolgung, um in Frieden und Sicherheit zu leben. Allerdings bezahlen viele dieser Menschen mit dem Leben, da die Flucht oft zahllose Gefahren birgt (vgl. Flory 2017: 11). Jene Geflüchtete, die es schaffen, ein Aufnahmeland zu erreichen, müssen sich weiteren Herausforderungen wie u.a. der Phase in Notunterkünften, der unsicheren Phase des Asylrechts sowie den Vorurteilen der Aufnahmegesellschaft stellen. Aufgrund der Heterogenität der Geflüchteten werden Aspekte der Fremdheit und Othering involviert, was die Integration zusätzlich erschwert. Hierbei kann die Schule als Integrationsort helfen, die Sprache zu lernen, um die Alltagsbewältigung im fremden Land sowie die Integration in die Aufnahmegesellschaft zu ermöglichen.
Das Ministerium für Schule und Bildung Nordrhein- Westfalen begleitet diverse Projekte, die sich mit schulischer Integration und der Förderung von neu zugewanderten SchülerInnen befassen. Hierbei steht der Erwerb von alltagssprachlichen Deutschkenntnissen im Vordergrund. Derzeit erhalten rund 85.000 zugewanderte SchülerInnen eine Deutschförderung, wodurch Bildungsgleichheit und Integration begünstigt werden. Für die Sprachförderung in Schulen werden Organisationsformen wie Willkommensklassen, kleinere Lerngruppen oder Regelklassen sowie auch internationale Förderklassen zur Berufsausbildung angeboten (vgl. MSB NRW). Während die Sprachentwicklung der SchülerInnen mit Fluchterfahrung im Fokus steht, wird die psychosoziale Gesundheit hingegen kaum beachtet oder gar unterstützt. Denn Lehrende der heterogenen Klassen mit traumatisierten SchülerInnen scheinen oftmals über kein spezifisch traumapädagogisches Wissen beziehungsweise Kompetenzen zu verfügen. So erwähnen SchülerInnen mit Fluchterfahrung:
Wir sind hilflos, weil uns das passiert ist, und unsere Gegenüber sind hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen können. Das ist wie eine Wand, die dazwischen steht. Und wir verstehen die anderen nicht und sie uns nicht (Shah / Weber 2015: 13).
Diese zahlreichen Aspekte sollen im Rahmen der vorliegenden Arbeit als traumatisierende Faktoren auf die psychosoziale Lebenssituation der SchülerInnen mit Fluchterfahrung dargestellt werden.
PädagogInnen aus unterschiedlichen Disziplinen fragen danach, welche Ressourcen traumatisierte Geflüchtete benötigen, um sich trotz ungünstiger Lebenssituationen und Erfahrungen positiv zu entfalten. Geflüchtete, die sich trotz belastender Erlebnisse gesund entwickeln, gelten als vergleichsweise resilient. Daraus ergibt sich die Frage, was genau Traumata sind und was diese ausmacht. Der Blick auf ihre Auswirkungen und Folgen wird unter dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst.
Zukünftig sollte daher an den Traumafolgestörungen und Symptomerscheinungen der traumatisierten Geflüchteten angesetzt werden, um deren Ausprägungen zu mindern, heilen sowie zu vermeiden. Hierbei spielt die Schule und deren Lehrende, damit verbunden deren pädagogische Kompetenzen sowie Erkenntnisfähigkeiten eine große Rolle. Da Schule als erste Integrationsmöglichkeit in dem Aufnahmeland gilt, sollte sich die pädagogische Arbeit der Lehrenden an die Interaktion zwischen Lehrenden und der belastenden SchülerInnen orientieren und versuchen das Widerfahren traumatischer Erlebnisse, die auf die psychische Gesundheit einwirken, abzuwehren bzw. sie darin zu unterstützen, diese erfolgreich bewältigen zu können.
Die vorliegende Bachelorarbeit m it dem Titel: „Die pädagogischen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit (neu) ausgewanderten SchülerInnen unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen von traumatisierenden Erfahrungen“ beschäftigt nimmt sich dieser Thematik an. Dabei liegt der Fokus auf der Gestaltung der pädagogischen Herangehensweise hinsichtlich traumatisch-belasteter SchülerInnen. Zugleich soll die Arbeit als pragmatische Handreichung für Lehrende dienen, weshalb nicht zuletzt auch Ansätze zur Verbesserung der psychosozialen Lebenssituationen gegeben werden. Da diverse Interventionskonzepte die individuellen Lebenserfahrungen der zugewanderten SchülerInnen nicht berücksichtigen, werden traumatisierende Lebensbedingungen vor, während und nach der Flucht dargestellt, die auch künftig als traumatisierende Belastungen wirken können. Das Beobachten traumatisierender Lebenssituationen stellt hierbei die Notwendigkeit einer pädagogischen Unterstützung und Reflexion von Verhaltensauffälligkeiten bzw. Symptomerscheinungen der SchülerInnen mit Fluchterfahrung im Schulalltag dar.
In der vorliegenden Arbeit richtet sich der Fokus insbesondere auf SchülerInnen der Sekundarstufe I, da diese dem Jahresalter der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen am ehesten entsprechen. Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Rahmen dieser Arbeit zur Bezeichnung der Geschlechtsidentitäten das Binnen-I verwendet. Selbstverständlich sind damit auch diverse SchülerInnen eingeschlossen.
Im ersten Kapitel wird zunächst das Phänomen der Flucht beschrieben und die daraus resultierenden Konsequenzen für die psychische Entwicklung der Betroffenen dargestellt. Um ein einheitliches Verständnis zu schaffen, wird der Begriff Flucht, dessen Motive und Merkmale sowie auch der Begriff der Migration definiert. Weiterhin werden relevante Aspekte, wie die Integration angeschnitten. Der Begriff Heimat bildet den nächsten Schwerpunkt der Arbeit und wird ebenso auf die Bedeutung von Heimatlosigkeit bezogen. Aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz aktueller Lebenssituationen wie dem Aufenthalt in Notunterkünften oder der empfundenen Fremdheit wird ein weiterer Fokus auf die Auswirkung dieser Umstände gerichtet. Weiterhin ist die Entwicklung von Traumata sowie der Posttraumatischen Belastungsstörung infolge der Flucht von Bedeutung, wobei die Resilienz von Individuen nicht außer Acht gelassen wird. Darüber hinaus wird der Umgang mit Traumata erläutert.
Zudem werden zahlreiche Symptomerscheinungen der Traumafolgestörung dargelegt. Mithilfe dieser soll die traumatische Betroffenheit der SchülerInnen mit Fluchterfahrung im Klassenraum wahrgenommen werden, um diese kooperativ und mit professionellen Fachkräften zu unterstützen. Die Symptomerscheinungen sollen anhand ressourcenorientierter Hilfe diagnostiziert werden. Dies bildet den Schwerpunkt des fünften Kapitels. In den jeweiligen Teilkapiteln werden hierbei aggressive Verhaltensauffälligkeiten, seelische sowie psychische Anspannungen der traumatisierten SchülerInnen ausgeführt.
Das sechste Kapitel stellt demnach Handlungsalternativen vor, indem die Bedürfnisse der SchülerInnen mit Fluchterfahrung sowie diesbezügliche Unterstützungsmöglichkeiten - u.a. durch medienbezogene Projekte - erläutert werden. Im Anschluss werden Vorteile sowie die Relevanz einer Kooperation mit außerschulischen Institutionen im Rahmen der pädagogischen Unterstützung erläutert.
Die grundlegenden Ergebnisse werden in einem abschließenden Fazit zusammengefasst und reflektiert.
2. Flucht
„Die Geschichte der Wanderungen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte; denn der Homo sapiens hat sich als homo migrans über die Welt ausgebreitet“ (Nesterko et al. 2016: 270, zitiert nach Bade 2004). So gibt es auch heute noch Fluchtbewegungen in alle(r) Welt. In den letzten fünf Jahren hat die Flüchtlingswelle aufgrund der steigenden Vertreibungsrate enorm zugenommen. Im Jahr 2015 haben weltweit erstmals 60 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen müssen (vgl. Maywald 2018: 21). Darunter sind rund 40,8 Millionen Menschen, die nicht nur die Heimatstadt, sondern gleich das Herkunftsland verlassen mussten (vgl. ebd.). Das Bundesamt registrierte zu dieser Zeit circa 1,1 Millionen Geflüchtete. Darunter stellten 500.000 Menschen einen Asylantrag (vgl. Graef-Calliess / Schouler-Ocak 2017: 98). Statistische Angaben zeigen, dass nach dem Krieg in Syrien die Anzahl der Asylanträge auf 643.211 anstieg (vgl. Hehnke 2017: 15). Um die zunehmende Anzahl der Geflüchteten zu verstehen, werden infolge des folgenden Teilkapitels häufige Gründe und Ursachen der Flucht dargestellt. Zudem wird die Bedeutung der Flucht sowie die Lebenssituation der Geflüchteten erläutert.
2.1 Was ist Flucht?
Der Begriff „Flucht“ leitet sich vom griechischen Wort „fuga“ ab und beschreibt das Verlassen eines Ortes (vgl. ebd.: 23). In der Wissenschaft gibt es Unstimmigkeiten darüber, ob die Flucht als eigenständiges Phänomen oder als Unterordnung der Migration Geltung findet (vgl. ebd.: 24).
Das Fluchtverhalten indes ist eine spontane Handlung, die unfreiwillig und ungeplant verlaufen kann. Hierbei reagieren Geflüchtete auf eine lebensbedrohliche Situation, welche aus unterschiedlichen Gründen entstehen kann (vgl. Hargasser 2014: 17).
Die Flucht kann dabei in drei Sequenzen unterteilt werden: Erstens die Phase der prekären Lebensumstände im Herkunftsland, zweitens der Fluchtweg selbst und drittens die Ankunft im Aufnahmeland. Die Phase des Krieges, der Verfolgung sowie weitere traumatisierende Belastungen machen das Zurücklassen des Heimatlandes dabei notwendig. Bedrohte Menschen müssen ihre Familien, Freunde und ihre Arbeit verlassen, um nach Schutz zu suchen (vgl. Spiegel 2017: 17). In den meisten Fällen können sie sich nicht von ihren Familien und Freunden verabschieden, sodass im späteren Verlauf Trauer- und Angstgefühle entwickelt werden. Diese werden jedoch oft vorübergehend unterdrückt und treten dann nach der Flucht als umso gravierendere Traumafolgeerscheinungen auf (vgl. Hehnke 2017: 34). Die Geflüchteten sind dazu gezwungen, ihre Herkunft und ihr ganzes Leben zurückzulassen, um in Sicherheit zu sein. Dies bedeutet oft Trauer, Leid und Ungewissheit hinsichtlich der eigenen Zukunft. Außerdem erhöhen Gefühle von Unsicherheit, Angstzustände, Hunger, Durst sowie Müdigkeit die psychische Belastung zusätzlich (vgl. Spiegel 2017: 19).
Während die meisten Geflüchteten Schutz in Nachbarländern suchen, schaffen es vergleichsweise wenige, in europäische Länder zu fliehen (vgl. Flory 2017: 11). Denn bei der Flucht müssen Meere oder lebensbedrohliche Grenzen überquert werden, wobei das Leben der Geflüchteten an sogenannte „Schlepper“ anvertraut werden muss (vgl. Mogk 2016: 44). Zudem begeben sie sich in Gefahrensituationen, wenn sie abgezäunte und m ilitärisch überwachte Grenzen überschreiten oder Zwischenstopps in Lagern einlegen müssen (vgl. Baer / Frick-Baer 2016: 60). Dabei sind sie ständig von Grenzkontrollen oder der Polizei umgeben, sodass sie sich häufig verstecken müssen. Viele geflohene Menschen erleiden Unglücke, insbesondere, während sie Meere überqueren, und finden nicht selten den Tod (vgl. Flory 2017: 11).
Geflüchtete erleben sowohl in ihrer Heimat als auch auf dem Fluchtweg traumatisierende Ereignisse, die ihre seelische Gesundheit beeinflussen und psychische Belastungen auslösen (vgl. Graef-Calliess / Schouler-Ocak 2017 :270). Doch ändert sich im Aufnahmeland diese Situation anfangs kaum. Denn auch dort werden sie durch Umstände wie dem Abwarten des Asylrechts, der Gefahr vor Abschiebung oder unsicheren Wohnheimsituationen geprägt (vgl. Spiegel 2017: 18). Im weiteren Verlauf der Arbeit wird ersichtlich, dass die Bedingungen nach der Flucht ebenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Traumatisierungen der Geflüchteten nehmen können (vgl. Gitschier / Gingelmaier 2017: 81). In diesem Kontext werden zunächst die Gründe, die zur Flucht geführt haben, dargestellt. Zusätzlich werden Erfahrungen der Geflüchteten in Zusammenhang von Flucht und Migration aus Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Irak in Verbindung gebracht (vgl. Hehnke 2017: 15).
2.2 Fluchtmotive
Die Lebenssituation der Geflüchteten kann durch unterschiedliche Gründe geprägt werden. Darunter ist zu verstehen, dass jedes Individuum seine eigene Lebensgeschichte trägt (vgl. Hargasser 2014: 88 f.). Diese unterscheiden sich zudem hinsichtlich von Geschlechte, Alter sowie Kultur. Eine Gemeinsamkeit stellt hierbei allerdings dar, prekäre Belastungen und Katastrophen in ihren Heimatländern zu erleben und sich davor in Sicherheit zu bringen (vgl. ebd.: 86).
Geflüchtete sind oftmals betroffen von stressauslösenden Bedrohungen, prekären Lebensumständen und Gefahren, welche mit Erlebnissen von Gewalt, Folter, Verfolgung sowie Menschenrechtsverletzungen einhergehen können (vgl. Flory 2017: 11). Verfolgungen sind vor allem bei ethnischen oder religiösen Gruppen wie beispielsweise den Tibetern, Tamilen oder Molukken der Fall, die in erster Linie aufgrund ihrer Minderheit oder Religionszugehörigkeit unterdrückt werden. Demnach basiert die Fluchtentscheidung auf externen Einflüssen, in der Regel wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Aspekte (vgl. Hargasser 2014: 88 f.). Außerdem werden viele Menschen aufgrund von Diktaturen ins Exil getrieben (vgl. Henkel 2018: 205). Diese Erfahrungen zwingen Betroffene wiederum, ihr Leben durch Flucht zu verändern (vgl. Hehnke 2017: 24). Sie suchen nach Schutz, verabschieden sich von ihren Heimatländern und planen einen Neuanfang in einem anderen Land, in dem sie frei von Bedrohungen zu sein hoffen (vgl. Henkel, 2018: 205).
Zwar sind Geflüchtete dabei oft von ähnlich prekären Aspekten wie in ihren Herkunftsländern betroffen, doch sind ihre Erlebnisse sowie vor allem die Intensivität dieser individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Sie sehen zum Teil, wie Bekannte unter Misshandlung, Vergewaltigung oder gar Mord leiden. Doch prägen selbst diese Belastungssituationen die psychosoziale Gesundheit der Geflüchteten unterschiedlich stark. Während Einige das „Glück“ hatten, vor politischen und gesellschaftlichen Krisen zu fliehen, bevor es zu Kriegssituationen kam, konnten Andere nicht rechtzeitig fliehen (vgl. Hargasser 2014: 86).
Um den Umgang mit ausgewanderten SchülerInnen pädagogisch sensibel gestalten zu können, sollten Lehrende wissen, aus welchen Gründen Menschen fliehen. Hierzu sollten Lehrende ebenfalls vergegenwärtigen können, welche Erfahrungen und lebensbedrohliche Situationen Geflüchtete erleben. Somit können sie individuelle Erkenntnisse zur pädagogischen Unterrichtsgestaltung für Geflüchtete gewinnen.
Im Allgemeinen sind Geflüchtete Menschen, die eine Berufstätigkeit ausgeübt und Familien haben. Sie sind nicht humaner oder inhumaner als alle anderen Menschen, nur weil sie sich in Not befinden und Zuflucht suchen (vgl. Witte 2018: 18). Um den Menschen in Unsicherheit gerecht zu werden, soll demnach in der Arbeit statt der Bezeichnung als „Flüchtling“ der Terminus „Geflüchtete“ sowie im zweiten Teil der Arbeit „Schülerinnen mit Fluchterfahrung“ Anwendung finden. Im nächsten Teilkapitel werden die dazugehörigen Charakteristika beschrieben.
2.3 Geflüchtete sein
Eine internationale Vereinbarung der Genfer Flüchtlingskonvention definiert nach Art 1A. Abs. 2 i.V.m.Art. 1 Abs. 2 im Jahre 1967, dass die Bezeichnung „Flüchtling“ auf Menschen angewendet werden kann, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlos infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will (Ehring 2008: 7).
Allerdings schließt diese Definition nicht jene Geflüchtete ein, die aufgrund von Menschenrechtsverletzung oder Freiheitsberaubung fliehen müssen (vgl. Adam / Bistritzky 2017: 27).
Eine für die Arbeit besonders relevante, heterogene Gruppe sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF). Die UMF, also jene, die nach § 2 des Bürgerlichen Gesetzes der Bundesrepublik Deutschland (BGB) mindestens 16 Jahre alt sind, fliehen ohne Begleitung der Eltern aus ihren Heimatländern oder verlieren sie auf dem Fluchtweg aus Todesgründen (vgl. Hehnke 2017: 36). Diese werden entweder während der Flucht von ihren Eltern getrennt oder aber ihre Eltern sind vorher verstorben. Diese Waisen sollen demnach ihren Bekannten anvertraut und „in Sicherheit“ gebracht werden (Hargasser 2014: 8). Für UMF sind Fluchtrouten besonders lebensbedrohlich, da beispielsweise in Griechenland eine Inhaftierung droht und (vgl. ebd.: 92). Sie sind ebenso von Verlusterfahrungen der Heimat, Eltern oder FreundInnen geprägt und kennen das Gefühl von Unsicherheit (vgl. ebd.: 86). Laut einer niederländischen Studie aus dem Jahre 2007 haben UMF doppelt so viele Lebenserfahrungen gemacht wie Immigrierende, die von ihren Eltern begleitet wurden. Demnach sei das Auftreten einer psychischen Erkrankung bei UMF häufiger als bei minderjährigen Geflüchteten, die mit ihren Familien leben (vgl. Zito 2015: 34).
Während SozialwissenschaftlerInnen die Bezeichnung als sogenannte „Flüchtlinge“ bei Menschen in Stress, Gefahr, Verbannung oder Traumata anwenden, setzen PolitikerInnen den Terminus mit sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“ gleich. Zudem werden dem negativ konnotierten Wort des „Flüchtlings“ Charakteristika wie Straffälligkeit oder Fremdartigkeit zugeschrieben (vgl. Hargasser 2014: 50). Ausdruck findet dies außerdem an Menschen, deren Asylantrag noch nicht bewilligt wurde. Hinzukommend werden AsylbewerberInnen, deren Antrag abgelehnt wurde, ebenfalls als „Flüchtlinge“ betitelt. Hier kann die Bundesregierung infolge der unsicheren Situation in den entsprechenden Herkunftsländern einen sogenannten subsidiären „Flüchtlingsschutz“ aussprechen, sodass die betroffenen Geflüchteten zumindest für eine Zeit in Deutschland bleiben dürfen (vgl. Hehnke 2017: 30).
Nach Kleist sind sogenannte „Flüchtlinge“ „[...] per Definition und vom Ursachenverständnis der Vertreibung her immer auch MigrantInnen [. ]“ (Althans et al. 2019: 10, zitiert nach Kleist 2015). Allerdings unterscheiden sie sich darin, dass sie infolge der fehlenden Sicherheit fliehen (vgl. Althans et al. 2019: 10). Die Bezeichnung „Flüchtling“ sollte dennoch nicht mit dem Terminus „Migrantinnen“ gleichgesetzt und als Synonym verwendet werden. Denn „Flüchtlinge“ sind diejenigen, die durch äußere Einflussfaktoren wie Verfolgung, Gewalt oder Krieg zur Flucht angetrieben werden, wohingegen MigrantInnen, die aus eigenem Willen ihre Heimat verlassen, sich häufig einen besseren Lebenszustand in vor allem wirtschaftlicher Hinsicht erhoffen (vgl. Jäggi 2016: 19). Der Terminus „Migrantinnen“ findet wiederum bei „Personen mit Migrationshintergrund“ Anwendung, die in Deutschland als AusländerInnen oder Deutsche geboren sind und mindestens ein als AusländerIn in Deutschland geborenen oder ausgewanderten Erziehungsberechtigten haben (vgl. Nesterko et al. 2016: 271). In Anbetracht dieser Differenzierung soll im folgenden Teilkapitel der Migrationsbegriff ausdifferenziert werden.
2.4 Migration
Während die Entscheidung zur Flucht durch Spontaneität und Planlosigkeit bedingt ist, kennzeichnet sich die Migrationsbewegung durch individuelle Ansprüche, Bewusstheit sowie planmäßiger Handlung (vgl. ebd.). Nach dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge handelt es sich um eine Migration, „[...] wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt [...]“ (bpb).
Die allgemeine Bezeichnung von Migration kommt vom Lateinischen „migrare“, was „wandern“ bedeutet. Die Wanderungsbewegung erfasst hierbei das Auswandern infolge der politischen oder ökonomischen Umstände in den jeweiligen Herkunftsländern (vgl. Hargasser 2014: 17).
Über den Zusammenhang von Flucht und Migration wurden bereits Diskussionen im wissenschaftlichen Kontext geführt, wobei strittig blieb, ob die Flucht als Unterkategorie der Migration verstanden werden kann. Im Rahmen dieser ist die Migration als Fachterminus für das Verlassen des Herkunftslandes und das zeitlich unbeschränkte Leben in einem anderen Land zu verstehen (vgl. Hehnke 2017: 24). Jedoch leben Geflüchtete häufig illegal, woraus eine inkludierende Belastung offenkundig wird (vgl. Hargasser 2014: 16). Die häufige Anwendung von „illegaler Migration“ sollte inzwischen durch die „irreguläre Migration“ ersetzt werden, damit keine kriminelle Tat assoziiert wird. So würde lediglich die illegale Grenzüberschreitung sowie der Aufenthalt im Aufnahmeland, was nicht nach gesetzlichen Grundregeln ablaufen muss, beschrieben werden (vgl. Nuscheler 1995: 30). Hinzu kommt die Gruppe der zwangsmigrierten Menschen, die Bedenken vor der Abschiebung haben. Sie sind von Arbeitslosigkeit bedroht, weshalb sich der innerpsychische Druck noch weiterhin erhöhen kann (vgl. Zimmermann 2016b: 21). Im Gegensatz dazu haben sie sich durch die Migration eine „[...] sichere Gegenwarts- und Zukunftsperspektive, verbunden mit dem Gefühl des Erwünscht- und Akzeptiertseins [...]“ gewünscht und erträumt (Zimmermann 2016b: 21, zitiert nach Egger, 2003). Doch wird die Möglichkeit der Integration von Geflüchteten in Frage gestellt. Die Integration in die Gesellschaft ruft Prozesse der Akkulturation hervor, in dem Geflüchtete sich in die Aufnahmekultur etablieren. Das Übernehmen einer fremden Kultur und das Leben in der Fremde werden im nächsten Kapitel annähernd beschrieben (vgl. Hargasser 2014: 16).
Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, wird in Anbetracht der Gültigkeit für die wissenschaftliche Ausführung auf die „internationale Migration“ eingegangen. Während eine Migration die räumliche Verlagerung des Individuums beschreibt, wird mit der internationalen Migration eher die Auswanderung über die Staatsgrenzen hinweg erfasst. Die Binnenmigration wird dagegen nicht aufgezeichnet (BAMF 2013: 9). Die Arbeitsdefinition der internationalen Migration umfasst demnach die Auswanderung der Geflüchteten aus anderen Ländern nach Deutschland. Um die Bedeutung von Migration sowie die Lebensumstände der Geflüchteten vergegenwärtigen zu können, werden im nächsten Kapitel die Aspekte der Heimatlosigkeit, die akuten Belastungen im Aufnahmeland sowie die traumatisierende Auswirkung dargestellt. Hierfür werden Prozesse wie das Leben im Wohnheim, Fremdheit und Othering in der Aufnahmegesellschaft und nicht zuletzt die Heterogenität der Geflüchteten selbst erläutert.
3. Heimat
Der Heimatbegriff schien bis vor kurzem eher ungebräuchlich, da dieser bisher ausschließlich im politischen und historischen Zusammenhang assoziiert wurde. Insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus entwürdigte die Gesellschaft den Terminus, denn dieser wurde mit dem Herkunftsland oder dem Geburtsort des Volkes gleichgestellt und verlor seinen Sinngehalt (vgl. Kim 2019: 209). Allerdings hat dieser mit der Flüchtlingsbewegung erneut an Wert gewonnen und nimmt aktuell vielseitige Bedeutungen für Geflüchtete ein (vgl. ebd.: 210). Der Horizont des Heimatbegriffs hat für Menschen mit Fluchterfahrungen viele Bedeutungen. Entsprechend werden in diesem Kapitel die individuellen Assoziationen aufgefasst, um darauffolgend die aktuelle Gefühlssituation und Lebenslage der Geflüchteten anzuknüpfen. Dies ist für Lehrende von Relevanz, um die prekäre Situation der SchülerInnen mit Fluchterfahrung nachempfinden zu können und diese beim pädagogischen Umgang ebenfalls zu berücksichtigen.
3.1 Was ist Heimat?
Nach dem Verlassen des Heimatlandes verspüren Geflüchtete den Verlust des Landes, denn Heimat ist „[...] erst in der Fremde erkennbar [...]“ (ebd.: 212). Die Bedeutung der Heimat wird erst ersichtlich, wenn diese von Verlust betroffen ist. Denn solange sie verfügbar ist, denken BewohnerInnen nicht über sie nach und sehen sie als Selbstverständlichkeit an (vgl. Hoanzl 2017: 41). Der Begriff beschreibt den „Zeitraum sozialer Integration“ in einer Gesellschaft (ebd.: 44). Außerdem ist es ein sogenannter „[...] Ort des Geborenwerdens und Heranwachsens [...]“ und eine Abgrenzung zum Fremdheitsgefühl, worauf im Laufe des Kapitels eingegangen wird (Hoanzl 2017: 41, zitiert nach Kaufmann, 2015: 23). Das Symbol für „Heim“ wird verknüpft mit dem „Haus“ und steht für das Zuhause-Sein (vgl. ebd.).
Dennoch ist die Definition von Heimat für jeden Geflüchteten individuell, sodass eine konkrete Begriffsdefinition kritisch zu betrachten ist. Derzeit hat der Heimatbegriff vor dem Hintergrund von Flucht und Migration vielseitige Dimensionen angenommen, welche unterschiedlich verstanden werden können (vgl. ebd.: 212).
Nichtdestotrotz sollte vermerkt werden, dass Menschen mit Fluchterfahrung mehrere Länder, in denen sie gelebt haben, als Heimat ansehen und zwischen einer „Wahlheimat“, „alte“ oder „neue“ Heimat konkretisieren (vgl. ebd.: 212). Andererseits können geflüchtete Menschen Heimweh haben, doch den Wunsch nach Heimkehr aus lebensbedrohlichen Gründen nicht verwirklichen (vgl. ebd.: 210). Weiterhin kann die Heimat zur Enkulturation beitragen, wobei die kulturellen Ansichten und Verhaltensweisen der Individuen geprägt werden. Infolgedessen wachsen sie in die gesellschaftlichen Normen und Werte hinein (vgl. ebd.: 212). Orte, an denen Individuen aufwachsen, ihre Kindheit verbringen und Familie gründen, können das Gefühl von Akzeptanz und Geborgenheit geben (vgl. ebd.: 217), wobei das vertraute Umfeld die Identitätsentwicklung zugleich unterstützen kann (vgl. ebd.: 216). Darüber hinaus kann das Gefühl von Zusammenhalt und Zugehörigkeit gelernt werden (vgl. Hoanzl 2017: 41). Das Heimatgefühl kann durch Elemente wie Dialekte, Esskultur, kulturelle Musik, Familie und Freunde verkörpert werden (vgl. ebd.: 210). Demgegenüber beinhaltet der Heimatbegriff neben der Verwurzelung und dem Aufwachsen in einem Kulturgebiet jegliche diskriminierende Aspekte, welche das Zusammenleben in Frieden behindern können, beispielsweise das Ausgeschlossen-Werden aufgrund der abweichenden Ethnie oder Heterogenität (vgl. Kim 2019: 212).
Das Verlassen und der Verlust des Herkunftslandes wird für Geflüchtete als ein Prozess von Leid und Kummer beschrieben (vgl. ebd.: 210). Denn die Heimatlosigkeit löst Gefühle von Einsamkeit und Isolation aus (vgl. ebd.: 213). Geflüchtete Menschen sahen ihr Herkunftsland zuvor als Ort der Hoffnung, in dem sie Zukunftsaussichten hatten, die jedoch aufgrund von Kriegen durch Perspektivlosigkeit ersetzt worden ist. So haben sie keine Heimat mehr, in der sie ihre Zukunft gestalten, eine Familie gründen und Frieden finden können (vgl. ebd.: 216). Aus diesem Grund müssen sie einen neuen Ort als Heimat wahrnehmen und daran glauben, „[...] dass sich ihr Leben zum Guten wenden wird [...]“ (Kim 2019: 216).
3.2 Lebenssituation
Angekommen in einem Aufnahmeland, sind Geflüchtete erleichtert und hoffnungsvoll, dass sie überlebt haben, in Obhut sind und zukünftig ein besseres Leben aufbauen können. Dies scheint allerdings schwierig zu sein. Denn sie begegnen prekären Lebensbedingungen, welche weitere psychische Folgen mitsichtragen und als weitere traumatisierende Aspekt auf die Geflüchteten einwirken können (vgl. Zito / Martin 2016: 13).
Nach Hans Keilson kommt der Phase nach der Ankunft im Aufnahmeland eine enorme Bedeutung zu, da Menschen ihre Belastungen je nach Lebenszustände unterschiedlich bewältigen können. Es wurde bewiesen, dass Geflüchtete mit angemessenen Lebensbedingungen ihre traumatisierenden Erfahrungen besser verarbeiten konnten als jene, die weiteren Stressfaktoren ausgesetzt waren (vgl. ebd.: 49).
Als Stressfaktor lässt sich u.a. der Aufenthalt in Flüchtlingsunterkünften nennen, welcher als weitere traumatisierende Belastung wirken kann. Der Aufenthalt geflüchteter Menschen folgt zuerst in Wohnheimen oder Notunterkünften, welche aus engen Fluren und kleinen Räumen bestehen, die wiederum „[...] wie Zellen [...]“ aufgebaut sind und den Eindruck von einem Gefängnis vermitteln (Zimmermann 2016b: 58). Oftmals leben viele Menschen unterschiedlicher Religionen und Herkünften auf engem Raum, in dem keinerlei Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeit vorherrscht (vgl. Shah 2015: 14). Das Leben in Notunterkünften verschafft keinen Raum für das Verarbeiten von Belastungen, sondern beeinträchtigt und prägt Geflüchtete in ihrer psychischen Gesundheit weiterhin (vgl. Zimmermann 2016b: 58). Das Be- und Verarbeiten von traumatisierenden Erfahrungen ist unter den Umständen im Wohnheim nicht zugelassen (vgl. ebd.: 10). Zumal sind sie umgeben von einer Unruhe, welche durch Streitereien oder täglich zunehmende Menschenanzahl in den Unterkünften verursacht werden kann (vgl. Witte 2018: 22). Das Leben in Notunterkünften kann neben dem Gefühl von Einsamkeit und Heimweh als weitere psychische Belastung empfunden werden und den seelischen Zustand verschlechtern (vgl. Flory 2016: 51). Dies bestätigt sich durch die Aussage über eine sexuelle Misshandlung in Flüchtlingsunterkünften folgendermaßen:
Das Problem sexueller Gewalt gegen Kinder sei in Flüchtlingsunterkünften traurige Realität. Seinem Büro würden >>fast jede Woche<< Fälle von Übergriffen in Flüchtlingsunterkünften gemeldet, berichtet Rörig. Täter seien sowohl Helfer[Innen] und Wachpersonal als auch [Geflüchtete] (Yacoub 2017: 240, zitiert nach Seisselberg, 2016).
Weiterhin kann chronischer Stress aufgrund der belastenden Umstände in Massenunterkünften ausgelöst werden (vgl. Hopf 2019: 121). Dies hebt die Bedeutung von Lebenssituationen im Aufnahmeland und die daraus resultierenden psychischen Beeinträchtigungen hervor (vgl. Rickmeyer et al. 2019: 103). Untersuchungen von Laban zeigen, dass die Phase im Asylverfahren enorm auf die psychische Gesundheit des Asylsuchenden wirkt. Das Abwarten auf einen Asylbescheid soll daher stärkere Auswirkungen haben als die Erfahrungen der Flucht selbst (vgl. Graef-Calliess / Schouler- Ocak 2017: 101). Die Zeit des Asylverfahrens läuft während der ersten 15 Monate des Aufenthalts (vgl. Zito / Martin 2016: 52). Der ungeklärte Status, die Schutzlosigkeit, die Gefahr von Verbannung und Angstgefühle sind zusätzliche Aspekte der traumatisierenden Belastung (vgl. Spiegel 2017: 16). Darüber hinaus forcieren Verlusterfahrungen und die traumatisierende Situation die Geflüchteten, da diese ihre Eltern, Freunde oder ihr Zuhause auf dem Weg ins Aufnahmeland verloren haben oder von diesen getrennt wurden. Der Verlust von Geborgenheit, Schutz oder Beziehungen erschwert die psychische Gesundheit sowie den Lebenszustand der Geflüchteten weiterhin (vgl. Hargasser 2014: 86).
Außerdem stehen Geflüchtete vor weiteren Herausforderungen und Hindernissen: Das Erlernen der Sprache, das Erkunden eines neuen Ortes sowie das Orientieren und Einfinden in einer neuen Kultur werden erwartet. Zugleich sind die Geflüchteten gezwungen, ihre Traumata und Verlusterfahrungen zu bewältigen. Parallel zu den traumatisierenden Belastungen der Erfahrungen kommen weitere neue traumatisierende Erfahrungen im Aufnahmeland wie beispielsweise die gesellschaftliche Benachteiligung und Vorurteile hinzu (vgl. ebd.: 112). Der Zugang zur Gesellschaft ist aufgrund der Stigmatisierung erschwert, sodass Geflüchtete sich in erster Linie als nicht akzeptiert fühlen. Da Vorurteile und Abwertungen gegen sie bestehen, kann dies zu Minderwertigkeitsgefühlen führen (vgl. Shah 2015: 15). Nichtdestotrotz brauchen Geflüchtete das Gefühl von Akzeptanz, um sich eine Zukunft vorzustellen und ihren innerpsychischen Druck zu regulieren (vgl. Zimmermann 2016b: 21). Allgemein kann die Konfrontation mit einer neuen Kultur einen Kulturschock herbeiführen. Zudem begegnen sie fremden Normen sowie Werten, Sprache oder Gesellschaftsstrukturen, welche im nächsten Teilkapitel thematisiert werden (vgl. Henkel 2018: 205).
3.3 Fremdheit
Nach der Ankunft im Aufnahmeland begegnen Geflüchtete einer vollkommen fremden Welt, in der sie sich unsicher fühlen (vgl. Shah 2015: 8). Einerseits gibt es das Gefühl von Erleichterung, am Leben zu sein, andererseits jedoch stoßen Unsicherheiten aufeinander. Diesen Zustand beschreibt eines der geflüchteten Menschen folgendermaßen: „[...] Ich war sehr dankbar, und gleichzeitig war ich unsicher, und ich wusste nicht, wo ich bin und wie ich bin und wer ich bin [...]“ (Baer / Frick-Baer 2016: 61).
Umgeben in einem fremden Land, müssen sie sich mehreren Herausforderungen stellen, da sie weder die Sprache noch das neue Umfeld kennen. Alles scheint fremd zu sein. Dem Erfolg und der Entspannung, das Aufnahmeland erreicht zu haben, folgt die Empörung, das Hindernisse zu bewältigen sind und gegen gesellschaftliche Abneigungen vorgegangen werden muss: Die Begegnung mit fremden Normen und Werten der Gesellschaft, die neue Sprache oder die fremde Kultur verschärfen das Fremdheitsgefühl und die Verbannung (vgl. Hargasser 2014: 112 f.). Die daraus resultierende innere Verunsicherung der Geflüchteten kann demnach als weitere psychische und seelische Belastung wirken und den psychosozialen Zustand zusätzlich strapazieren (vgl. Jütte 2017: 45).
Darüber hinaus können äußere Einflüsse als zusätzliche Stressfaktoren fungieren. Zuschreibungen, Vorurteile und Abwertungen seitens der Aufnahmegesellschaft verhindern die gesellschaftliche und kulturelle Anpassung. Stattdessen werden Geflüchtete aufgrund ihrer Heterogenität ausgeschlossen (vgl. Wiesinger 2018: 263). Die Ausgrenzung von heterogenen Gruppen stellen Prozesse wie Othering, welche beständig in Migrationsgesellschaften zu beobachten sind, dar (vgl. Mikura 2013: 8). Geflüchtete gehören hierbei zur „Outgroup“ und werden von der „Ingroup“ aufgrund der variierenden Sprache, Kultur sowie Nationalität ausgegrenzt (vgl. ebd.: 10). Dies kann wiederum zu einer weiteren Stresssituation der Geflüchteten führen und körperliche Beschwerden verursachen (vgl. Wiesinger 2018: 263). Dies kann bedeuten, dass sie aufgrund der Diskriminierung und dem damit einhergehende Fremdheitsgefühl weder in der Gesellschaft integriert werden noch ihre Traumata verarbeiten können (vgl. Hargasser 2014: 10). Des Öfteren werden Geflüchtete mit negativen Aspekten wie die Demütigung, Abneigung oder die Fremdenfeindlichkeit konfrontiert (vgl. Baer / Frick-Baer 2016: 37). Forschungen über Rassismus und Diskriminierung beweisen, dass solche Erfahrungen enorme körperliche und seelische Auswirkungen auf die Psyche, Gesundheit sowie dem Selbstwertgefühl nehmen können. Derartige Erfahrungen führen zur Beeinträchtigung und können traumatisch belasten (vgl. ebd.: 113). Denn sie sind eingeschränkt und zwischen zwei Kulturen hin- und hergerissen. Ein Teil der Geflüchteten versucht infolge der Diskriminierung, ihre eigene Kultur in ihrem Gesellschaftskreis beizubehalten und auszuleben, wobei der Rest versucht, sich zu integrieren (vgl. Baer / Frick-Baer 2016: 37).
[...]