Erzählstruktur in "Römischer Carneval" von Johann Wolfgang von Goethe

Eine Analyse


Dossier / Travail de Séminaire, 2018

31 Pages, Note: 2,0


Extrait


Vorwort

„Das Carneval in Rom muss man gesehen haben, um den Wunsch völlig loszuwerden, es je wieder zu sehen“ (S. 547).1

Goethe kam am 29. Oktober 1786 auf seiner Inspirationsreise nach Italien in Rom - der Hauptstadt der Welt - an und ist gleich in die Wohnung des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein am Corso gezogen. Tischbein - aus einer hessischen Künstlerfamilie gebürtig - hatte die wichtigsten Anregungen für seine Künstlerlaufbahn im Umkreis Johann Jakob Bodmers und Johann Caspar Lavaters in Zürich gewonnen.2 Im gleichen Haus wohnten noch zwei deutsche Maler, Johann Georg Schütz und Friedrich Bury.

Auf seiner Reise nach Italien legte sich Goethe ein Inkognito zu und wurde unterwegs zu einem Kaufmann unter falschem Namen: Sein angenommener Name war Jean Philippe Möller, Kaufmann aus Leipzig.3 Schon in Deutschland wurde er erkannt, hatte jedoch Freude an dem Identitätswechsel. Rom hatte für ihn schon in seiner Kindheit eine große Bedeutung. Man kann Rom als Kontrast zu seiner Zeit in Weimar sehen, denn dort war eine höfische Etikette angesagt, während die Zeit in Italien die Freiheit für ihn bedeutete. Schon in Weimar frischte er sein Italienisch für seine Reise auf, um mit den Einheimischen reden zu können.

In diesem Jahr begann er am Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein zu schreiben. Die ersten kleineren Aufsätze über Italien wurden schon unmittelbar nach seiner Reise veröffentlicht (Auszüge aus einem Reisejournal im Teutschen Merkur und mit 20 Radierungen versehen, Das Römische Carneval 1789). Zu Beginn der Reise hatte Goethe Charlotte von Stein drei Monate lang nicht mehr geschrieben. Diese wollte die Beziehung deswegen zunächst beenden, was sie dann auch tat. Vermutlich bändelte Goethe einige Wochen nach seiner Ankunft mit Constanza Roesler an, der Tochter eines römischen Gastwirts. Goethe wollte in Italien niemandem vorgestellt werden, weil er die zum Auftritt in der Gesellschaft nötige Garderobe nicht mitgebracht hatte. Die einzige Gesellschaft, in der er verkehrte, war der Salon Angelika Kaufmanns. Kaufmann war eine Malerin, mit der sich Goethe schnell anfreundete. Nach zwei gesellschaftlichen Anlässen, wollte kein Literat mehr Kontakt zu ihm und die Gelehrten, Adligen und Kardinäle nahmen keine Notiz mehr von ihm.

Herder besuchte ihn in Rom, jedoch verkehrte dieser in der Gesellschaft, mit der Goethe nichts zu tun haben wollte. Stattdessen lernte er Karl Philipp Moritz kennen. Goethe und Moritz machten viele gemeinsame Spaziergänge durch Rom. Nach Moritz‘ Unfall organisierte Goethe den Freundeskreis von Künstlern so, dass alle reihum Moritz Gesellschaft leisteten. Somit kümmerte er sich um den Zeitgenossen, der für ihn wie ein kleiner Bruder war.

Goethe selbst war vom nordischen Protestantismus geprägt. Erst in Neapel hatte er sich mit der anderen, ihm fremden Lebensart des Südens ganz ausgesöhnt. Er kam zu der Einsicht, dass in den Bräuchen und Gewohnheiten des Volkes sowie in der Landschaft weiterdauert, was in den Resten der antiken Architektur und Kunst nur in toten Ruinen stehengeblieben ist. Anfangs zaudernd und mit wiederkehrenden Skrupeln, die vor allem auf den ersten Seiten deutlich ausgesprochen werden, dann aber mit zunehmendem Feuer, so dass die späteren Abschnitte zu den glänzendsten Beispielen seiner Schilderung überhaupt gehören (Vgl. S. 548).4 Er neigte dem katholischen Glauben keineswegs voll und ganz zu, vielmehr gebrauchte er ihn als Mittel, um den ihm fremden Menschen nahe zu kommen, also zur Erweiterung seines Menschen- und Weltbildes. Kunst und Natur, Schönheit und Wahrheit gehören zu den Begriffen, aus denen sich Goethes Vorstellung von Ästhetik speist. In Italien nun gewinnen diese für Goethe an Anschaulichkeit, in ihrer Erfahrung reift er zum klassischen Dichter heran.

In dieser Abhandlung soll der Frage- beziehungsweise Problemstellung nachgegangen werden, wie und mit welchen Stilmitteln hier erzählt und somit eine Struktur aufgebaut wird. Es werden historische, teils biografische und textimmanente Methoden angewandt, das bedeutet, dass anhand konkreter Textstellen Goethes Erzählweise genauer analysiert wird. Es findet jedoch eine Beschränkung auf die wichtigsten tableaux statt, da Goethe teilweise minimalistisch arbeitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf literaturwissenschaftlichen Vorgehensweisen, wie der Konstruktion von Figuren, der Allegorese, der Wiederholung, dem fiktionalem und faktualem Erzählen, den Raumdarstellungen und insbesondere auf dem szenischen und situativem Erzählen im Hinblick auf den späteren Film: „Eine so große, lebendige Masse sinnlicher Gegenstände sollte sich unmittelbar vor dem Auge bewegen“ (S. 218). Im zweiten Kapitel wird hauptsächlich auf die Aufsätze von Georg R. Kaiser (Ordnung im Chaos?) und von Susanne Lüdemann (Massendarstellungen) eingegangen, bevor dann im dritten Kapitel die Erzähltheorie auf den Primärtext angewendet wird.

1 Der Aufbau und historische Kontext des Römischen Carnevals von Goethe

1788 wurde Goethe vom Weimarer Wochenblatt Journal des Luxus und der Moden beauftragt, Material über den Carneval zu liefern. Goethe wiederum beauftragte den Maler Johann Georg Schütz mit der Anfertigung der Bilder. Die Veröffentlichung beziehungsweise der Erstdruck fand im Januar 1789 – im Jahre der Französischen Revolution – statt.

Es ist hier eine Interaktion zwischen Chaos und Ordnung vorhanden und eine konstant wechselnde erzählerische Perspektive. Goethe lässt gekonnt die commedia dell‘arte in die klassische Struktur miteinfließen. Es gibt ebenfalls formale Gemeinsamkeiten der klassischen Tragödie und ihrem Gegenteil der commedia.

Goethe gibt eine klar gegliederte, im vorab durch die Stichworte der späteren Zwischenüberschriften durchorganisierte Chronisten-Haltung zu der aufgeregten Hast des Augenblicks der Vorgänge. Er beschreibt die Eigentümlichkeiten des Volkslebens und hinterlässt eine widerwärtig empfundene Impression des Spektakels – wie in den Charakterisierungen des neapolitanischen oder sizilianischen Pöbels. Er vermeidet es, während er mit langem Atem die innere Entwicklung des Römischen Carneval s vom Tagesablauf über die Steigerung der Karnevalswoche hin zum krönenden Doppelereignis des Berber-Rennens und des nächtlichen Moccoli -Festes schildert, seinen Erzählvorgang dramatisch zuzuspitzen. Moccoli sind kleine Lichtkerzen oder Lichtstümpfe (vgl. S. 556).5 Er hebt Masken und Figurengruppen hervor, gibt Hinweise auf die Programmfolge oder auf einzelne Geschehnisse. Er tut das mit einer Gelassenheit des Künstlers, der in der Sprache nach dem gleichen plastischen Relief trachtet, das nach seiner eigenen Intention auch die Bildtafeln auszeichnen sollte. Die außerordentliche Dichte des Berichts gewinnt Goethe durch den engen Wechsel von Darstellung und Reflexion, durch die unerwarteten Stimmungsumschläge, in denen er die Stille dem Lärm, die Mondnacht dem tobenden Bemühen der Menge um einen nicht enden Tag kontrastiert. In An- und Abspannung schreitet so die genau arrangierte Darstellung zu jenem sinnbildlichen Nachtstück vor, in dem sich für Goethe das Innerste dieser Karnevalstradition spiegelt: in dem Moccoli -Fest, in dem jeder jedem, ohne Ansehung des Standes, der Verwandtschaft, der gegenseitigen Achtung, das Lebenslicht auszublasen versucht. Das Licht bedeutet das Leben und dies wird dann symbolisch gesehen zunichte gemacht und endet im Tod. Von daher gewinnt er für den Leser den Einblick in die gefährliche, mit der Allmacht des Lebens unmittelbar verbundenen Unordnung, in die jede gewährte Freiheit aus dem Augenblick heraus führen kann (Vgl. S. 551f.).6

Diesen mit nüchternem Enthusiasmus geschriebenen Text fügte Goethe schließlich bei der Redaktion des dritten Bandes der Italienischen Reise in den Zweiten Römischen Aufenthalt ein (Vgl. S. 552f.).7 Betont wird jedoch mit einer negierenden anaphorischen Aufzählung („hier ist nicht/kein“) mit Semikolon/ Komma bis zu Auflösung („hier ist vielmehr“) am Anfang Folgendes:

„Hier ist nicht ein Fest, das wie die vielen geistlichen Feste Roms die Augen der Zuschauer blendete; hier ist kein Feuerwerk, das von dem Castell Sanct Angelo einen einzigen überraschenden Blick gewährte; hier ist keine Erleuchtung der Peters-Kirche und Kuppel, welche so viel Fremde aus allen Landen herbeilockt und befriedigt, hier ist keine glänzende Prozession, bei deren Annäherung das Volk beten und staunen soll; hier ist vielmehr nur ein Zeichen gegeben: dass jeder töricht und toll sein dürfe als er wolle, und dass außer Schlägen und Messerstichen fast alles erlaubt sei“ (S. 218).

2 Die Beschreibung und Erzählstruktur der einzelnen tableaux

Bei Annette Graczyk wird das tableau - insbesondere das Kultur tableau - zum „Medium der symbolischen Weltdeutung bei Johann Wolfgang Goethe“8 , der mit „künstlerischer Überlegenheit“9 punkten kann. Das bedeutet, dass sich Goethe selbst auch als Maler betätigt hat und sich mit Kunstgeschichte auskannte. Er selbst hat seine Karnevalsschrift „tableau mouvant“10 bezeichnet.

Goethe, so Graczyk, setze das tableau sowohl als Hilfsmittel wie als Resultat seines Denkens in Metamorphosen ein, mit dem er Handlungsprozesse in der Natur und Kultur als folgerichtige Entwicklungsprozesse deute und vereinheitliche.11 Metamorphose bedeutet nichts anderes als Gestaltwandel.

Die räumliche und zeitliche Gliederung lasse das wirkliche Karnevalstreiben zu einer meist geordneten Veranstaltung werden. Durch die Kostümbilder verliere es den Charakter einer massenhaften Unordnung, auch wenn der Text die Kostümschau in ein lebendiges Miteinander und Gedränge einbette. Das tableau unterdrücke die politischen Wirren, stelle das Leben weitgehend ruhig und integriere den Carneval in das klassizistische Schreibprogramm. Es lasse sich sogar sagen, dass der Autor die Unordnungs- und Übersichtsfunktion seines tableau als Widerstand gegen die potentielle Ansteckung durch das närrische Treiben einsetze. Gedränge und Unordnung werden nur abwehrend als Ursache möglicher Unfälle und körperlicher Gefährdungen beschworen und kaum als Chance neuer, entgrenzender Erfahrung wahrgenommen.12

Der Römische Carneval finde laut Gerhard R. Kaiser in einem festen zeitlichen und einem überschaubaren örtlichen Rahmen statt. Die Massenhaftigkeit, die Bewegungsintensität und das sinnlich Bedrängende des Geschehens ebenso wie die temporäre Befreiung von den Gesetzen und Regeln des alltäglichen Lebens stellen zusätzliche Herausforderungen des darstellerischen Vermögens dar.13 Goethe war sich ihrer nur allzu bewusst und lenkte auch den Blick des Lesers auf sie, indem er den Prozess schrittweiser, letztlich aber prekär bleibenden Bewältigung der Italienischen Reise ausdrücklich zu Papier brachte.

Dem Unangenehmen des empfangenen Eindrucks gebe er mit den Formulierungen „toller Spektakel“, „unglaublicher Lärm“ und „Possen“ (S. 547) Ausdruck, und er berühre die psychosoziale Dimension des eher erlittenen als erlebten Festes, wenn er den Geldmangel erwähne, der die meisten Römer daran hindere, „das bisschen Lust was sie noch haben mögen, auszulassen“ (S. 547), ja, weitergehend noch, das Fehlen „innerer Fröhlichkeit“ und „Herzensfreude“ (S. 547) beklage. Schon diese frühe Thematisierung des Römischen Carnevals , der am 19. Februar der Eintrag „mit Schmerzen unter den Narren“14 vorausgegangen war, sprach außer den irritierenden Eindrücken auch die Schwierigkeit, gar Unmöglichkeit, davon zu schreiben, an. Bei einer mündlichen Darstellung könne man mit besonderen expressiven und mimisch-gestischen Möglichkeiten mündlicher Rede das Spektakel dem Publikum nahebringen.15

Unter dem Zweiten Römischen Aufenthalt berichte Goethe entgegen der zuvor geweckten Erwartung dann doch vom Römischen Carneval. Charakteristischerweise aber gehen der Darstellung neuerliche Reflexionen über die Darstellbarkeit voraus. Sie setzen, schon im ersten Satz, mit dem hypothetischen Einwurf ein, „dass eine solche Feierlichkeit eigentlich nicht beschrieben werden könne“ (S. 218). Die sich anschließende Frage, „ob uns die Beschreibung selbst rechtfertigt“ (S. 218), werde zwar im weiteren Verlauf anscheinend positiv beantwortet.16 Gleichzeitig aber halte Goethe das Prekäre dieser Beschreibung des entsetzlichen Gedränges, „das wir unseren Lesern so viel als möglich zu vergegenwärtigen gesucht haben“ (S. 238), bis zum Ende des Römischen Carneval bewusst.17

Diese auffälligen Reflexionen, zumal die Spannung zwischen zunächst behaupteter Nichtdarstellbarkeit und dann doch erfolgender Beschreibung, lenken unausdrücklich den Blick auf die Form des römischen Carneval und damit besonders auch auf die ungewöhnliche Gliederung als deren hervorstechendes Charakteristikum: So teile Goethe den Carneval seinerseits in eine Folge von tableaux auf, denen er allerdings einen ungleich bewegteren Charakter verleihe.18

Goethe nun knüpfe eine Folge einzelner tableaux an, verändere aber deren äußere und innere Form wie auch die Regeln ihrer Abfolge in Richtung einer Darstellung, die dem bewegten Geschehen, von dem es handle, beziehungsweise der Regel, die es antreibe, in einer bewegteren Schreibart zu entsprechen suche.19

Goethe arbeite oft extrem minimalistisch. Am stärksten sehe man dies in dem aus nur zwei kurzen Sätzen bestehenden Eintrag Nacht: Auch die durch Umfangsminimierung beschleunigte Abfolge wechselnder Aspekte finde sich zumal in der Reihung mehrerer kurz gehaltener tableaux wie in der Sequenz Festine, Tanz, Morgen, Letzter Tag: Kaum habe der Leser eine neue Facette des Carneval s erblickt, so werde er schon durch harte Schritte, wie sie später den Film kennzeichnen werden, auf den nächsten gestoßen. Zur Beweglichkeit der Darstellung trage aber auch der Wechsel unterschiedlich langer tableaux bei: Kaum wurde der Leser in einem der längeren – ihrerseits gelegentlich als Facettenfolge angelegten – tableaux sich eine Verschnaufpause gönne, so treffe ihn ein rhythmisch beschleunigender Stoß. Offenkundig seien derartige Effekte an ein schmaleres Textvolumen wie das Römische Carneval gebunden.20

Auch innerhalb der einzelnen tableaux macht sich eine gegenstandsaffine bewegtere Darstellung geltend.

Überall im Römischen Carneval zeige sich das Bemühen, die dargestellte Bewegung in syntaktisch bewegter Darstellung erfahrbar zu machen. Das könne in Form untergeordneter und gespannter Satzbögen geschehen, aber auch, wie in der Darstellung der Quacqueri, durch die anaphorisch wie antithetisch beschleunigte Abfolge nebenordnender, zum Teil verbloser Konstruktionen in Verbindung mit origineller, expressiver Metaphorik.21

Die stark rhetorische Prägung der Sprache im Römischen Carneval stehe nicht im Dienst bestimmter Überzeugungsabsichten, sondern sei Funktion derselben Darstellungshaltung, das in der variablen Syntax Ausdruck finde. Bevorzugt eingesetztes Mittel sei die Klimax: „einförmig“ (Bewegung) , „betäubend“ (Lärm) und „unbefriedigend“ (Ende der Tage) (S. 218).22

Auch Antithese und Parallele werden in den Dienst einer bewegten Darstellung genommen: Es wird beschrieben, dass einer mit zwei Gesichtern im Gedränge stecke und dass man nicht wisse, welches sein Vorderteil, welches sein Hinterteil sei, ob er komme, ob er gehe (vgl. S. 229). Zusätzlich zu Parallelismus, Antithese und Klimax verhelfen Anapher und Polyptoton dem bewegten Geschehen in bewegter Darstellung zum Ausdruck. Bemerkenswert auch der leitmotivische Einsatz des Verbs „drängen“ und seiner Ableitungen. Und auffällig schließlich der sparsame, doch originell erneuerte Einsatz des traditionellen Metaphernkomplexes Meer/ Wasser/ (Schmelzen), der die sachliche Mitteilung des Geschehens durch bildintensive Vorstellungsinterferenzen dynamisiere.23

Goethe halte an einer Geschehnisabfolge durch die zeitliche Ordnung der verschiedenen Facetten des Carnevals fest und verleihe auch so seiner Darstellung ungleich bewegtere Züge. In einigen Fällen geschehe dies im Wechsel der Frequenz von sich wiederholendem und einmaligem Erzählen, wodurch das als typisch und regelmäßig wiederkehrende Ausgegebene auf das ereignishaft Einmalige geöffnet, dieses seinerseits auf das sich ihm zeigende Allgemeine hin perspektiviert werde und beide zusammen einen zeitlichen Verlauf als Eindruck gewinnen.24

Auffälliger noch ist der ungewöhnlich häufige Einsatz dynamisierender Adverbien der Zeit innerhalb sich wiederholender Sequenzen, die sich dadurch immer wieder einer einmaligen Darstellung nähern, ja im Grenzfall gleitend in sie übergehen: schon, früher, aufs baldigste, endlich.

Konjunktionen der Zeit betonen, auffällig häufig am Kapiteleinsatz eingesetzt, die Gleichzeitigkeit des Berichteten und dynamisieren die Darstellung durch einen schnellen Wechsel des Fokus: Indessen.

Überhaupt sind die Zeitangaben ungewöhnlich häufig und folgen gelegentlich wie in der Schilderung der Pferderennen aufeinander: kaum, indem, spät, manchmal, bald, wieder, schon.

Innerhalb dieses äußeren erstrecke sich ein innerer Rahmen vom ersten überschriebenen Eintrag, Corso, bis zum vorletzten, Moccoli. Zwischen diesen äußeren Enden lassen schon die Titel Erste Zeit, Vorbereitungen auf die letzten Tage, Abend, Vorbereitung zum Wettrennen, Nacht, Morgen und Letzter Tag eine qualitative Zeitfolge hervortreten, deren Spannung auf den doppelten Höhepunkt des Pferderennens und des Ausblasens der Moccoli mit dem begleitenden Ausruf „sia ammazzato (a)“ (S. 247) zulaufe, der die Aschermittwochs -Reflexion über die Nähe von Lust und Gefahr improvisiere. Die zeitliche Organisation der einzelnen Einträge verleihe der Darstellung einen bewegten Charakter. Es werde zwischen „iterativem und singulativem Erzählen“25 gewechselt. Dies folge nach Gerhard R. Kaiser auf ein ruhigeres Geschehen. Zwischen Abrennen und Moccoli werde der Abschnitt Theater (traditionell begann die Saison des Karnevals, und damit auch die Spielzeit in den Theatern, am Stefanstag, dem 26. Dezember (vgl. S. 554))26 eingefügt, dann folgen Festine und Tanz.27

Von rhetorisch expressiven Formulierungen über die zwischen einfacher Nebenordnung, nebengeordneter Reihung und Unterordnung wechselnde Syntax, die Verbindung „iterativen und singulativen Erzählens“28 und die Häufung temporaler Adverbien beziehunsgweise Konjunktionen bis zum Spannungsbogen, der die einzelnen Abschnitte im Sinne qualitativ erfüllter Zeit verklammere – überall zeige sich, dass Goethe darum bemüht war, ein tableau mouvant (Augenblick und das Flüchtige) zu kreieren, als welches er selbst das Römische Carneval ja denn auch im Rückblick zutreffend bezeichnete.29

2.1 Die Menschenmenge des Corsos und die Darstellung der Masse

Jede italienische Stadt hatte ihren Corso (von lateinisch cursus = Lauf) für Wettrennen der Pferde, Spaziergänge und Fahrten, denn jeder Carnevals -Abend schließt damit ab. Es handelt sich hier um eine Straße, in der sich der Römische Carneval versammelt. Er bestimmt und beschränkt diese öffentliche Feierlichkeit. Goethe beschreibt den architektonischen Aufbau am Anfang, was man als Vorbedingung der Wahrnehmung desselben ansehen kann. Die Straße geht von der Piazza del Popolo gerade bis an den venezianischen Palast. Der Corso verändert seine Gestalt bei Beginn der Feierlichkeiten. Der Obelisk ist die Grenze der Straße. Sobald der Corso belebter wird, versammelt sich das Militär vor der Porta del Popolo und „übernimmt die Sorge für die Ordnung der ganzen Anstalt“ (S. 224 (Wache)).

So bestehe nach Gerhard R. Kaiser der Abschnitt Der Corso, der einleitend den Ort des karnevalistischen Geschehens beschreibe, sowohl aus zwei einfachen untergeordneten Satzgefügen, der häufiger eingesetzten Konnektoren „ und“ als auch aus einer trockenen Abfolge einfacher Sätze.30

Der Abschnitt unter dem Titel Spazierfahrt im Corso lasse auf die vorbereitende Darstellung des Raumes die eines bewegten Geschehens folgen und mache diesen inhaltlichen Wechsel in der Umkehrung des Verhältnisses einfachster parataktischer und nebengeordneter verbundener beziehungsweise mäßig nebengeordnet hierarchisierter Sätze in der Darstellung selbst rhythmisch sinnfällig.31

Auch das Römische Carneval biete sich - so Susanne Lüdemann - Goethes Auge zunächst als Gewühle ohne Zucht und sonderliche Ordnung dar: „Die lange und schmale Straße, in welcher sich unzählige Menschen hin und wieder wälzen, ist nicht zu übersehen; kaum unterscheidet man etwas in dem Bezirk des Getümmels, den das Auge fassen kann“ (S. 218). Das Geschehen gebe „weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck“ (S. 218), sodass der Einwurf zu befürchten sei, es könne eigentlich gar nicht beschrieben werden. Dabei sei es durchaus das Unstrukturierte der rottierenden Massen, das ihrer Beschreibung entgegenstehe: Weder könne der Betrachter sich an Standesunterschieden orientieren, da „der Unterschied zwischen Hohen und Niederen (…) aufgehoben scheint“ (S. 218f.) und durch die Masken verhüllt werde, noch werde die kollektive Bewegung durch ordnungspolitische Maßnahmen in geregelte Bahnen gelenkt: Das Römische Carneval sei laut Goethe ein Fest, das dem Volke eigentlich nicht gegeben werde (Passiv), sondern das das Volk sich selbst gebe (Aktiv). Der Staat mache wenige Anstalten, wenig Aufwand dazu. Der Kreis der Freuden bewege sich von selbst, und die Polizei regiere ihn nur mit gelinder Hand (Vgl. S. 218).32

Wenn Goethe sich dennoch anschicke, das Ganze in seinem Zusammenhang vor „Einbildungskraft und Verstand“ (S. 249) der Leser zu bringen, so bedürfe es dazu besonderer ästhetischer und literarischer Strategien. Der Darstellung sei es aufgegeben, am Gegenstand eine Struktur herauszupräparieren, die dem Beobachter erster Ordnung - jenem „fremden Zuschauer“ (S. 218) nämlich, der, wie Goethe schreibe, das Carneval „zum ersten Mal sieht und nur sehen will und kann“ (S. 218) - verborgen bleiben müsse. Es müsse, mit anderen Worten, zum bloßen Sehen des Sehenden etwas hinzukommen, das erlaube, Gestalt und Gesetzmäßigkeit dort wahrzunehmen, wo vorher nur eine unüberschaubare Masse sinnlicher Gegenstände war. Dieses Hinzukommende sei mit Goethes eigenem Begriff die Kunstauffassung, von der er im Februar 1788 nach Weimar schreibe, dass sie ihm „auch mitten unter dem Gewühl der Fastnachtstorheiten und Absurditäten zu Gunsten“33 gekommen sei.34

Paradoxerweise sei es also gerade die „Kunstanschauung“35 , die es Goethe erlaube, das „Nationalereignis“ als „Naturerzeugnis“36 anzusehen, dessen Form und entscheidender Verlauf nun plötzlich dem Leser als strukturiertes Ganzes vor Einbildungskraft und Verstand gestellt werden könne. Es sei Goethe selbst, der das ganze Carneval im Prozess des Schreibens einer planvollen Ordnung unterwerfe.37 Wie Heinz Brüggemann zutreffend bemerkt, bietet Goethe „gegen das Unübersehbare, Betäubende und Überwältigende der entfesselten Masse (…) eine Technik der Darstellung“ auf, „die ihr Modell (…) an zeitgenössischen Techniken des Sehens, genauer: der optischen Fixierung von Gegenständen hat. Goethe ordnet das turbulente Geschehen zu einer bewusst und planvoll gereihten Abfolge von Bildern, die jeweils Schauplätze, einzelne Figuren, Figurengruppen und Ereignisse in genau begrenzten Umrissen wiedergegeben und so gleichsam in einen Rahmen versetzen. Karl Philipp Moritz hat in seinen Reisen eines Deutschen in Italien (…) auf Goethes, meisterhafte Darstellung‘ verwiesen, ,welche das Ganze so täuschend und so wahr, wie die Bilder in einem optischen Kasten, dem Leser vors Auge bringt.‘“38

[...]


1 Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Goethe, Johann Wolfgang von: Das römische Carneval. Italien und Weimar 1786-1790, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe Band 3.2, Herausgeber: unter anderem Karl Richter, München 1990.

2 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise, herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller, in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Band 15, Carl Hanser Verlag, München, S. 889 (Kommentar).

3 Vgl. ebd., S. 901 (Kommentar).

4 Vgl. Kommentar.

5 Vgl. Kommentar.

6 Vgl. Kommentar.

7 Vgl. Kommentar.

8 Kaiser 2010, S.184.

9 Kaiser 2010,S. 186.

10 Kaiser 2010, S. 184.

11 Vgl. Graczyk 2004, S. 159.

12 Vgl. Graczyk 2004, S. 220.

13 Vgl. Kaiser 2010, S. 194.

14 Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise, herausgegeben von Andreas Beyer und Norbert Miller, in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Band 15, Carl Hanser Verlag, München, S. 209.

15 Vgl. Kaiser 2010, S. 195.

16 Vgl. ebd.

17 Vgl. Kaiser 2010, S. 195f..

18 Vgl. Kaiser 2010, S. 196.

19 Vgl. Kaiser 2010, S. 197.

20 Vgl. Kaiser 2010, S. 198.

21 Vgl. Kaiser 2010, S. 199.

22 Vgl. ebd..

23 Vgl. Kaiser 2010, S. 200.

24 Vgl. Kaiser 2010, S. 200f..

25 Martinez 2007, S. 45f..

26 Vgl. Kommentar.

27 Vgl. Kaiser 2010, S. 202.

28 Martinez 2007, S. 45f..

29 Vgl. Kaiser 2010, S. 202.

30 Vgl. Kaiser 2010, S. 198.

31 Vgl. ebd..

32 Vgl. Lüdemann 2010, S. 111.

33 Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. Mit zeitgenössischen Illustrationen, Nikol Verlag, Hamburg 2017, S. 692f..

34 Vgl. Lüdemann 2010, S. 111.

35 Goethe, Johann Wolfgang: Italienische Reise. Mit zeitgenössischen Illustrationen, Nikol Verlag, Hamburg 2017, S. 692.

36 Ebd.., S. 693.

37 Vgl. Lüdemann, S. 112.

38 Brüggemann 1981, S. 203.

Fin de l'extrait de 31 pages

Résumé des informations

Titre
Erzählstruktur in "Römischer Carneval" von Johann Wolfgang von Goethe
Sous-titre
Eine Analyse
Université
University of Constance  (Literaturwissenschaft)
Cours
Rom in der deutschen Literatur
Note
2,0
Auteur
Année
2018
Pages
31
N° de catalogue
V963369
ISBN (ebook)
9783346315328
ISBN (Livre)
9783346315335
Langue
allemand
Mots clés
Goethes Römischer Carneval
Citation du texte
Elisabeth Monika Hartmann (Auteur), 2018, Erzählstruktur in "Römischer Carneval" von Johann Wolfgang von Goethe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/963369

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Erzählstruktur in "Römischer Carneval" von Johann Wolfgang von Goethe



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur