Entscheidungsfindung nach frühem Schwangerschaftsverlust. Abwägen, Planen und Handeln


Term Paper, 2019

34 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Schwangerschaftsverlust im Ersten Trimester
2.1.1 Verlauf nach der Diagnose Früher Schwangerschaftsverlust
2.1.2 Mögliche Managements bei frühem Schwangerschaftsverlust
2.1.3 Informierte Entscheidung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Betreuung
2.2 Motivationspsychologische Grundlagen
2.2.1 Situationsbezogene Definition grundlegender Begriffe der Motivationspsychologie
2.2.2 Intrinsische Motivation, Selbstbestimmung und erlebte Kompetenz bei frühem Schwangerschaftsverlust
2.2.3 Handlungsphasen im Kontext des frühen Schwangerschaftsverlustes nach dem Rubikon -Modell

3. Methodisches Vorgehen
3.1 Methodik
3.2 Gütekriterien

4. Ergebnisse
4.1 Motivation bzw. Zielsetzung zu einem Vorgehen bei frühem Schwangerschaftsverlust
4.2 Widerstände, die Volition bzw. Zielstreben erfordern
4.3 Bedürfnisse von Nutzerinnen und ihre Wünsche an die Beratungspraxis

5. Diskussion
5.1 Zusammenfassung der Ergebnisse und Interpretation
5.2 Handlungsempfehlung und weiterer Forschungsbedarf
5.3 Gesundheitsorientierter Ausblick

6. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung

Etwa 10 - 25 % aller Frauen1 sind im Laufe ihrer reproduktiven Phase von einem frühen Schwangerschaftsverlust betroffen (vgl. Pildner von Steinburg, Marzusch, 2011, S. 22). Per Definition handelt es sich beim frühen Schwangerschaftsverlust um einen Abbruch der Schwangerschaftsentwicklung ohne lebensfähiges Kind in den ersten 12-14 Wochen (vgl. Pschyrembel, Dudenhausen, 1994, S. 548f., Maurer, 2017, S. 14) der Schwangerschaft. Genaue Zahlen existieren im deutschen Gesundheitssystem nicht, da sie statistisch nicht zusammengeführt werden. So tauchen frühe Schwangerschaftsverluste mit anschließender operativer Behandlung in den Statistiken von Kliniken im stationären Leistungsbereich auf. Nicht erfasst werden jedoch die in ambulanten Praxen operativ betreuten Frauen sowie diejenigen, die nach der Diagnose eines frühen Schwangerschaftsverlustes keine weitere medizinische Versorgung in Anspruch nehmen oder das Verlustgeschehen ohne jeglichen Kontakt mit dem Gesundheitssystem zuhause erleben (vgl. Maurer, 2017, S. 14).

Die Begrifflichkeit „früher Schwangerschaftsverlust“ lehnt sich an die englische Bezeichnung early pregnancy failure oder early pregnancy loss an (vgl. ACOG, 2015) und benennt dabei den „Verlust“. Während der Begriff „Fehlgeburt“ eher negativ und auch mit dem Vorliegen eines Fehlers verknüpft sein kann, merkt Maurer (2017, S. 12) gleichzeitig an, dass auch „das Fehlen eines Kindes“ ausgedrückt werden könnte, wenn der geläufige Terminus verwendet wird.

Wird ein früher Schwangerschaftsverlust diagnostiziert, entsteht für die betroffene Frau eine plötzliche Anforderung, Entscheidungen über das weitere Vorgehen und den Umgang mit dem Verlust zu treffen, obwohl sie sich gerade in einem Zustand von Schock, Trauer oder Enttäuschung befinden mag. Nicht selten entsteht ein vermeintlicher Zeitdruck, weil die frühere Lehrmeinung, ein früher Schwangerschaftsverlust müsse umgehend operativ behandelt werden, um weitere Komplikationen zu vermeiden, sich in der medizinischen Praxis noch hartnäckig hält (vgl. Pschyrembel, Dudenhausen, 1994, S. 556).

Bedenkt man, dass jedes Handeln eines Menschen von verschiedenen Motiven, Bedürfnissen, Präferenzen und Zielerwartungen angetrieben ist (vgl. Rudolph, 2013, S. 17), könnte daraus abgeleitet werden, dass Frauen mit der Diagnose Früher Schwangerschaftsverlust in dieser für sie überraschenden, mit Schock und Trauer verbundenen Phase eine gute Beratung sowie genügend Zeit benötigen, um ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche herauszufinden, durch fachliches Wissen von außen zu ergänzen und daraus eine Entscheidung für eine gewisse Handlung – in diesem Fall eine von drei verfügbaren Versorgungsoptionen – treffen zu können (vgl. Maurer, 2017, S. 32ff).

Die Hausarbeit soll klären, ob theoretische Ansätze aus der Motivationspsychologie, die die Prozesse von Motivation, Volition und Handeln untermauern, für die Entscheidungssituation des frühen Schwangerschaftsverlustes übertragen werden und für die Beratung von Betroffenen herangezogen werden könnten.

Konkret kann daraus folgende Forschungsfrage abgeleitet werden:

Welche Motive leiten Frauen in der Entscheidung für ein bestimmtes Vorgehen bei frühem Schwangerschaftsverlust und was sollte die fachliche Beratung diesbezüglich berücksichtigen?

Hierzu wird im Kapitel 2 erst ein theoretischer Einblick in Verlauf, Versorgungsoptionen und Entscheidungsprozess bei frühem Schwangerschaftsverlust gegeben, als auch ein Bezug zu Grundbegriffen der Motivationspsychologie hergestellt. Kapitel 3 zeigt die methodische Herangehensweise zur Beantwortung der Forschungsfrage auf, während Kapitel 4 die Ergebnisse aus der Literaturanalyse darstellt. Die Zusammenfassung und Interpretation erfolgt im Kapitel 5 mit einer Handlungsempfehlung und dem Ausblick.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Schwangerschaftsverlust im Ersten Trimester

2.1.1 Verlauf nach der Diagnose Früher Schwangerschaftsverlust

Die Diagnosestellung eines frühen Schwangerschaftsverlustes erfolgt entweder über das Auftreten von nicht mit einer gesunden Schwangerschaft zu vereinbarenden Blutungen (Abortus incompletus, Abortus incipiens) oder durch einen sonographischen2 Befund von fehlender embryonaler Herzaktion (Missed Abortion oder verhaltene Fehlgeburt) bei noch in der Gebärmutterhöhle befindlichem Embryo und seinen Geweben. Davon abzugrenzen ist der Abortus completus, bei dem die sonographische Untersuchung bestätigt, dass das Geschehen bereits abgeschlossen ist und über keine weitere Maßnahme entschieden werden muss (vgl. Pildner von Steinburg, Marzusch, 2011, S. 22f). Die Ursachen für den Verlust einer Schwangerschaft im ersten Trimester sind vielfältig und können unbekannter Genese oder genetischer, infektiologischer, hormoneller, immunologischer, gerinnungs- oder krankheitsbedingter Natur sein (vgl. Regan, 2018, S. 11ff).

Beim natürlichen, nicht intervenierten Fehlgeburtsvorgang setzt früher oder später – innerhalb von wenigen Tagen bis maximal 2-4 Wochen bezogen auf den Diagnosezeitpunkt - die Öffnung des Gebärmutterhalses ein und Kontraktionen der Gebärmutter bringen unter Blutungen den Embryo, seine Fruchthöhle und Plazentagewebeanteile zur Ausstoßung. Die Gebärmutterhöhle reinigt sich in den Tagen nach dem Ereignis durch periodenähnliche vaginale Blutungen. Nach einigen Tagen sistiert die Blutung, meist kommt der Zyklus rasch wieder in Gang und die betroffene Frau ist erneut empfängnisbereit. Die komplette Ausstoßung kann sonographisch durch eine leere Gebärmutterhöhle dargestellt werden.

2.1.2 Mögliche Managements bei frühem Schwangerschaftsverlust

Im Falle eines unkomplizierten, ohne Zusatzbeeinträchtigungen verlaufenden frühen Schwangerschaftsverlusts besteht sowohl eine medizinische als auch eine persönliche und präferenzgesteuerte Wahlfreiheit zwischen drei verschiedenen Versorgungsoptionen (vgl. Ankum et al., 2001, S.1345f, Olesen et al., 2015, S. 387) mit dem Ziel der vollständigen Geburt des Embryo und seiner Gewebe: 1. das Abwarten des natürlichen Prozesses, 2. die Beschleunigung desselben durch die Einnahme von Medikamenten oder 3. die operative und damit sofortige Beendigung des Fehlgeburtsprozesses.

Bei einer medikamentösen Versorgung wird – mit Hilfe synthetischer Hormone – der Prozess von Öffnung, Kontraktionen und Ausstoßung künstlich angeregt und forciert. Die operative Behandlung hingegen sieht die Öffnung des Gebärmutterhalses mittels Dehnungsstiften sowie das Auskratzen oder Absaugen aus der Gebärmutterhöhle mit einem chirurgischen Löffel oder Absauger vor, wobei sämtliche embryonalen Gewebeanteile unter Narkose entfernt werden.

Obschon die heutige Lehrmeinung die Wahlfreiheit der Versorgungsoption fundiert (vgl. Peters; Dintsios, 2017; American College of Obstetricians and Gynecologists, 2015), erhält nach wie vor eine Vielzahl der betroffenen Frauen keine oder eine unzureichende Aufklärung über alle drei möglichen Managements. Außerdem fehlen weitergehende Informationen über den Vorgang an sich, seine Vor- und Nachteile, mit welchen Ereignissen, Nebenwirkungen und Risiken zu rechnen ist, welche organisatorischen Vorbereitungen zu treffen sind und in welcher Form die Nachsorge erfolgt (vgl. Peters; Dintsios, 2017). Die medizinische, ergebnisoffene Aufklärung über Möglichkeiten, Grenzen und Risiken ist heute nach wie vor ein eher willkürlicher Vorgang (vgl. Klemperer, 2013), für den es vielfach (noch) keine Leitlinie oder Handlungsempfehlung sowie keine spezifische Beratungsausbildung der Fachpersonen gibt – so auch im Falle des frühen Schwangerschaftsverlustes (vgl. AWMF, Zugriff, 4.5.2019).

2.1.3 Informierte Entscheidung nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Betreuung

Zu den Prinzipien einer modernen Betreuungsauffassung gehört die Umsetzung der tragenden Säulen der evidenzbasierten Medizin/Betreuung. Diese wirken nach Sackett et al. (1997) folgendermaßen zusammen:

„Evidenzbasierte Medizin ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der evidenzbasierten Medizin bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung. […] Expertise spiegelt sich auf vielerlei Weise wider, besonders aber in treffsichereren Diagnosen und in der mitdenkenden und -fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung im Zuge ihrer Behandlung.“

Hieraus ergeben sich für die Situation des Schwangerschaftsverlustes drei zentrale Wirkkreise, die nicht isoliert, sondern immer im Zusammenspiel betrachtet werden müssen: die verfügbare und aktuelle wissenschaftliche Evidenz zu Versorgungsoptionen bei frühem Schwangerschaftsverlust mit Erfolgsraten, Vor- und Nachteilen sowie Risiken, die vorhandene Expertise der involvierten Fachpersonen (Fachärzte, Hebammen) bezüglich aller Managements und die Wünsche, Bedürfnisse und Präferenzen der betroffenen Frau (siehe Abb.1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Säulen der Evidenzbasierten Medizin, vgl. Christensen (2018)

Dies ist vor allem deshalb relevant, weil sie die Grundbedingung für eine informierte individuelle Entscheidung (englisch: „shared decision making“) sind (vgl. Stacey et al., 2017), die sich aus den persönlichen Motiven, Präferenzen und Umgebungsbedingungen einer betroffenen Frau speist. Da es in Deutschland keine einheitliche Leitlinie 1. zu den möglichen Vorgehensweisen auf medizinischer Ebene als auch 2. zu den Qualitätskriterien und obligatorischen Inhalten einer symmetrischen Kommunikation und Beratung im Sinne des „shared decision making“ für diese medizinische Situation gibt (vgl. Peters; Dintsios, 2017), fällt letztgenannte in der klinischen Praxis inhaltlich meist sehr einseitig zu Gunsten der sofortigen operativen Beendigung der Schwangerschaft aus.

2.2 Motivationspsychologische Grundlagen

2.2.1 Situationsbezogene Definition grundlegender Begriffe der Motivationspsychologie

Die Motivationspsychologie erforscht, was Menschen antreibt zum Handeln und inwiefern Wünsche, Erwartungen und Zielvorstellungen die Initiierung einer Handlung auslösen sowie das Vollenden bis zur Zielerreichung sichern oder gefährden (vgl. Mook, 1987, zit. n. Rudolph, 2013, S. 14 u. 17). Dabei führt nicht jeder Wunsch von selbst zu einem tatsächlichen Erreichen eines Ziels. Hierfür bedarf es in den verschiedenen Phasen menschlichen Handelns verschiedener Voraussetzungen.

Um den Bezug zwischen den Wünschen und Vorstellungen einer betroffenen Frau und ihrem Ziel, das Geschehen des frühen Schwangerschaftsverlusts – im besten Falle bei guter physischer und psychischer Gesundheit – abzuschließen, herzustellen, müssen einige Grundbegriffe der Motivationspsychologie erklärt und in den situationsbezogenen Kontext gesetzt werden. Dennoch liegt allen nachfolgenden Definitionen zu Grunde, dass sich die Betroffene nicht freiwillig in der Situation befindet. Folglich muss die Entwicklung von Präferenzen sowie das Prüfen von Handlungsoptionen und den damit verbundenen Chancen und Risiken von der Frau im Zuge eines überraschenden, möglicherweise schockierenden und ambivalente Gefühle auslösenden Ereignisses mit einer plötzlichen Brisanz erfolgen (vgl. Moulder, 2001, S. 22).

Handlung

„Als Handlung gelten […] alle Aktivitäten, denen eine `Zielvorstellung` zugrunde liegt“, resümieren Achtziger und Gollwitzer (2018, S. 357) und erklären den „Sinn“, der den Menschen zu einem Verhalten antreibt, als Kriterium für die Definition einer Handlung. Dabei grenzen sie das Handeln – also das sinnhafte oder begründete Tun – vom Ausführen gelernter Gewohnheiten oder von Automatismen ab. Bezogen auf das Ereignis Früher Schwangerschaftsverlust kann also jede aus der Entscheidung für eine der drei Versorgungsvarianten resultierende Handlung mit einer von der Frau begründbaren Motivation belegt werden. Besonders bei der Entscheidung für das abwartende Vorgehen des natürlichen Fehlgeburtsprozesses gilt als „Handlung“ auch das „Nicht-Handeln“ in Form des bewussten und sinnhaften Abwartens.

Handlungssteuerung

Die Handlungssteuerung umfasst sämtliche Strategien und Ressourcen, die die Zielerreichung absichern gegen Widerstände. Dies ist nötig, weil eine Motivation oder ein Wunsch allein noch nicht genügen, um das Verhalten auch tatsächlich Richtung Tun zu lenken und die Handlung zu vollziehen (vgl. Achtziger; Gollwitzer, 2018, S. 357). Hat eine betroffene Frau eine Entscheidung für eines der drei Vorgehen getroffen, benötigt sie Strategien, – möglicherweise auch durch externe Unterstützung – um das Vorhaben auch realisieren zu können. Auf die Rolle der beratenden Fachpersonen wird in dieser Arbeit bei den Handlungsempfehlungen noch einmal zurückgekommen.

Motivation

Wissenschaftlich definiert ist „Motivation“ die „Richtung, Intensität und Ausdauer einer Verhaltensbereitschaft hin zu oder weg von Zielen“ (vgl. Becker, 2019, S. 20) oder auch „die aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ (vgl. Rheinberg, Vollmeyer, 2012, S.15). Motivation steht dabei eng in Verbindung mit Motiven, also einzelnen Beweggründen für oder gegen ein bestimmtes Verhalten, ebenso wie mit Werten, die sich aufgrund einer gewissen Zielerwartung bilden oder auch durch soziale Normen beeinflusst sein können (vgl. Becker, 2019, S. 20f). Auch spielt es eine Rolle, unter verschiedenen Optionen wählen zu können, deren Realisierbarkeit gegeben ist (vgl. Achtziger, Gollwitzer, 2018, S. 381). Im Falle der Frau, die sich in der Frühschwangerschaft mit dem Verlust des Kindes und dem damit folgenden Umgang auseinandersetzen muss, können verschiedene und auch im Verlauf wechselnde Motive oder Werte auftauchen und die Motivation beeinflussen. Damit die Frau Zugang findet zu ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen, benötigt sie Ruhe, Entschleunigung, Wahlfreiheit und Zeit (vgl. Maurer, 2017, S. 33).

Volition

Der Begriff „Volition“ wird besonders von Kuhl (1983, 1984, 1987 zit. n. Achtziger, Gollwitzer, 2018, S. 361) deutlich von der Motivation abgegrenzt. Um ausgewählte Ziele zu erreichen, bedarf es Maßnahmen, Aktivitäten oder Prozessen, die die konkrete Realisierung von Zielen über ein Handeln gewährleisten. Lewin (1926) und Ach (1935, beide zit. n. Achtziger, Gollwitzer, 2018, S. 361) unterscheiden dagegen mehr zwischen der „Zielsetzung“ als motivationalem Anteil und dem „Zielstreben“, das heißt sämtlichen regulativen Prozessen, um vorhandene Ziele zu verwirklichen (vgl. Heckhausen, Heckhausen, 2018, S. 8). Grenzt man Motivation und Volition klar voneinander ab, ließe sich für die vom frühem Schwangerschaftsverlust betroffene Frau festhalten: Unter Volition sind alle Maßnahmen, Phänomene, Prozesse oder Faktoren gemeint, die begünstigen oder gewährleisten, dass aus der getroffenen Wahl eines Fehlgeburtsmanagements in eine Handlung oder auch Nicht-Handlung übergegangen werden kann – kurz alle Maßnahmen der Handlungssteuerung. Welche Rolle der Beratung in der volitionalen Phase zukommt, soll an späterer Stelle noch einmal aufgegriffen werden. Aber auch mit der Definition von Lewin und Ach könnte sich die Zielsetzung auf die Auswahl unter den vorhandenen Versorgungsoptionen beziehen, während das Zielstreben dem Planen, Abwägen und Vorbereiten zur Zielerreichung des gewählten Ziels dient.

Annäherungs- und Vermeidungsmotivation

Brandstätter et al. (2018, S. 104) definieren sogenannte verhaltensnahe Annäherungs- oder Vermeidungsziele und „beziehen sich auf einen spezifizierten positiven oder negativen Zielzustand, den es zu erreichen (Annäherungsziel) bzw. zu vermeiden (Vermeidungsziel) gilt […]. [Sie] konkretisieren hierdurch das zur Zielerreichung erforderliche Verhalten“. Im Kontext Früher Schwangerschaftsverlust stellen Peters und Dintsios (2017) die Ergebnisse ihres Reviews zu Präferenzen bei frühem Schwangerschaftsverlust als ebensolche Zielzustände vor:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2 Nutzerinnenrelevante Leistungskriterien in absteigender Rangfolge nach Peters, Dintsios (2017).

Inwieweit ein Kurzschluss zu Lewins (1935, zit. n. Brandstätter et al., 2018, S. 101) Richtungsdimensionen von Motiven bezüglich Furcht und Hoffnung hergestellt werden kann, stellt eine sehr spezifische Fragestellung dar. Die Faktoren „Hoffnung auf Erfolg“ oder die „Furcht vor Misserfolg“, die Komponenten »Hoffnung auf [Selbst]-Kontrolle“ und „Furcht vor Kontrollverlust“ und die Motive „Hoffnung auf Anschluss“ im Sinne sozialer Erwünschtheit und Zugehörigkeit sowie die „Furcht vor Zurückweisung“, wenn Dinge anders gehandhabt werden, als es die gängige Praxis im Umgang mit Fehlgeburten ist, könnten eine interessante Herangehensweise für eine tiefergehende motivationspsychologische Auseinandersetzung bieten (vgl. Brandstätter et al. 2018, S. 101).

2.2.2 Intrinsische Motivation, Selbstbestimmung und erlebte Kompetenz bei frühem Schwangerschaftsverlust

Die Definition der intrinsischen Motivation durchlief historisch verschiedene Phasen. Rheinberg und Engeser (2018, S. 426) beschreiben einerseits als „intrinsisch motiviert“, wenn sich der Anreiz eines Tätigkeitsvollzugs durch das Tun selbst ergibt, während bei extrinsischer Motivation der erwartete Effekt die Handlung von außen antreibt. So könnte eine betroffene Frau sich wünschen, das Verlustgeschehen möglichst schnell abzuschließen, was sie zu einer Entscheidung hinsichtlich einer der Managementoptionen bewegt (vgl. Maurer, 2017, S. 18, 89). Eine andere könnte aber – besonders bezogen auf das abwartende Management oder die medikamentöse Versorgungsvariante – gerade im Tun, also im Abwarten oder im Durchleben des Geschehens eine Motivation oder einen Sinn finden, besonders wenn sie den Vorgang der Fehlgeburt natürlich erleben möchte. Wie jede Einzelne dies für sich definiert, hängt wie zuvor erwähnt von den individuellen Wünschen, Prägungen, Bedürfnissen, Weltanschauungen und vielem mehr ab.

Deci und Ryan (vgl. 1980, zit. n. Rheinberg und Engeser, 2018, S. 427) übernahmen von DeCharms (vgl. 1979, zit. n. Rheinberg und Engeser, 2018, S. 427) zwei zentrale Konzepte: Der intrinsische Anreiz der Selbstbestimmung („ich tue etwas, weil ich es will“) sowie das Konzept der eigenen Wirksamkeit oder des Bedürfnisses nach Kompetenzerleben. Selbstbestimmung im frühen Schwangerschaftsverlust erfährt die Frau dort, wo sie genügend Ressourcen in Form von Information, Unterstützung, Respekt und Begleitung hat – hier zeigt sich eine Parallele zur Theorie der Selbstwirksamkeit (vgl. Maurer, 2017, S. 48; Bandura, 1997). Wird bei frühem Verlust auf das abwartende Vorgehen zurückgegriffen oder der Geburtsprozess mittels Medikamente zwar beschleunigt, aber dennoch bewusst – ohne Narkose – durchlebt, kann die Betroffene ihre körperliche Kompetenz durch das Geburtserleben bestätigt wissen (vgl. Maurer, 2017, S. 48 und 122; Maurer, 2016, S. 35f). So schildern diese Frauen nicht selten, trotz des Verlustes und trotz des Durchlebens einer „kleinen Geburt“ (vgl. Maurer, 2017, S. 12) einen gewissen Stolz über das Meistern der Situation zu verspüren (vgl. Remer, 2011).

2.2.3 Handlungsphasen im Kontext des frühen Schwangerschaftsverlustes nach dem Rubikon -Modell

Heckhausen und Gollwitzer (1987, zit. n. Achtziger, Gollwitzer, 2018, S. 357) gelang mit dem Rubikon-Modell ein darstellendes und integrierendes Modell der verschiedenen motivationspsychologischen Handlungsphasen zwischen Zielauswahl und -erreichung. Der Anspruch war, zwischen der Wahl von Handlungszielen und ihrer Realisierung einerseits zu unterscheiden, sie aber dennoch in einen Gesamtrahmen zu setzen (vgl. Achtziger, Gollwitzer, 2018, S. 357).

Dabei werden vier verschiedene Handlungsphasen unterschieden, die jeweils als unter dem Einfluss von Motivation oder Volition stehend beschrieben sind. So ist die Phase des Abwägens vor einer Entscheidung („prädezisional“) gekennzeichnet durch das unspezifische Sammeln von Informationen und das Abwägen von „Wünschbarkeit und Realisierbarkeit eines Anliegens“. In der Phase des Planens richtet sich die Informationsverarbeitung, noch ehe die Handlung einsetzt („präaktional“), auf die Realisierung des „im Ziel spezifizierten Zielzustands“. Setzt diese Phase ein, sehen die Autoren den sprichwörtlichen Rubikon überschritten. Die Handlungsphase („aktional“) ist gekennzeichnet durch das Vollziehen von zielführenden Handlungen und der Anstrengung, die Zielverfolgung gegen Widerstände, Unterbrechungen und Hindernisse zu verteidigen. Sind alle Handlungen zur Zielerreichung abgeschlossen („postaktional“), erfolgt die abwägende Bewertung des Zielzustandes aktuell sowie bezogen auf zukünftiges Handeln.

[...]


1 Wenn im Verlauf dieser Arbeit von Frauen oder Betroffenen gesprochen wird, soll sinngemäß immer auch der Verlust, die Entscheidung, die Gefühle der involvierten Familie gemeint sein.

2 sonographisch = mit einem Ultraschallgerät erhoben

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Details

Title
Entscheidungsfindung nach frühem Schwangerschaftsverlust. Abwägen, Planen und Handeln
College
Apollon University of Applied Sciences Bremen  (Studiengang Angewandte Psychologie)
Grade
1,0
Author
Year
2019
Pages
34
Catalog Number
V973919
ISBN (eBook)
9783346324283
ISBN (Book)
9783346324290
Language
German
Keywords
Fehlgeburt, Schwangerschaftsverlust, Entscheidung, Motivation, Volition, Fehlgeburtsmanagement, Missed Abortion
Quote paper
Julia Steinmann (Author), 2019, Entscheidungsfindung nach frühem Schwangerschaftsverlust. Abwägen, Planen und Handeln, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/973919

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