Das Land Ober Ost als vergessene "Kolonie" des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Eine didaktische Aufbereitung mit Unterrichtsentwurf


Hausarbeit, 2020

44 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
1.1 Vorstellung des Themas und der Vorgehensweise
1.2 Aktueller Forschungsstand und verwendete Literatur

II. Die deutsche Militärverwaltung „Ober Ost“
2.1 Vom Bewegungskrieg zur Besetzung
2.2 Die Militärverwaltung und ihre Ziele für Ober Ost
2.3 Die Struktur der Militärverwaltung

III. Drei für den Unterricht interessante Aspekte
3.1 Die Probleme der Militärverwaltung Ober Ost
3.2 Die Sicht auf „Land und Leute“
3.3 Ober Ost - Kolonie oder nicht?

IV. Didaktische Aufbereitung des Themas „Ober Ost“
4.1 Zur Relevanz „Ober Osts“ für den Geschichtsunterricht
4.2 Verortung des Themas im Kerncurriculum
4.3 Eine mögliche Unterrichtsreihe für das Thema Ober Ost

V. Zusammenfassendes Fazit und mögliche Probleme

Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellen
Literatur

Anhang
Material 1
Material 2

I. Einleitung

1.1 Vorstellung des Themas und der Vorgehensweise

Die Geschichte Deutschlands mit dem europäischen Osten1 reicht bis in das 12 Jahrhundert hinein, denn in dieser Zeit begann der Deutsche Orden in mehreren Gegenden, in denen „Altpreußen, Litauer und Letten“2 lebten, mehrere Bestrebungen zur Ostkolonisation.3 Die Tatsache, dass Livland bis 1561 zum Deutschen Reich gehört haben soll4, deutet auch auf einen relativen Erfolg bei diesen Bestrebungen hin5 und wurde ebenfalls häufig als eine Legitimationsgrundlage für nachfolgende Annektierungsversuche ver- wendet.6 Somit scheint es umso verwunderlicher, dass sich der Geschichtsunterricht in Deutschland7 fast ausschließlich mit der Geschichte Zentral- und Westeuropas beschäftigt und viele wichtige Ereignisse rund um Osteuropa vernachlässigt.8 Untersuchungsgegenstand dieser Hausarbeit ist das Land Ober Ost und Ziel soll dabei sein, Ober Ost als Unterrichtsthema im Kontext der Kolonien des deutschen Imperialismus’ während des Endes des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg zu begründen. Als Ergebnis wird eine kleine Unterrichtsreihe als Vorschlag für eine lehrplankonforme9 Exkursion stehen.

Begonnen wird hier mit einer Überblicksdarstellung zu Ober Ost und seiner Funktion für Deutschland im Ersten Weltkrieg. Besonders im Fokus stehen dabei die militärische Verwaltung Ober Osts und warum deren Handlungen teilweise sehr widersprüchlich waren und ebenso die Sicht der Deutschen auf die Einheimischen in Ober Ost und welcher Umgang daraus resultierte. Aus diesen Aspekten soll sich dann in der Gegenüberstellung zu den anderen Kolonien ergeben, inwiefern Ober Ost als Kolonie angesehen werden kann und warum dieses Thema ein Gegenstand unserer Schulbildung sein soll- te.10

Im Anschluss wird dann anhand des Kerncurriculum für den Geschichtsunterricht der Sekundarstufe II in Hessen diese Begründung auf ihren Bestand geprüft und ein möglicher Zeitpunkt für die Durchführung des Themas vorgeschlagen. Es soll somit noch kein Vorschlag für die Umstrukturierung des Kerncurriculum stattfinden, da dies den Rahmen einer Seminararbeit deutlich übersteigen würde. Im Anschluss soll aber dennoch ein Vorschlag für eine Unterrichtsreihe im Leistungskurs für die Jahrgangsstufe 11 erfolgen, der mitsamt skizzenhaften Unterrichtsverlaufsplan und Material vorgestellt wird. Dabei sollen die drei zuvor untersuchten Aspekte der Verwaltungsstruktur von Ober Ost, der Blick der Deutschen Besatzer auf die Einheimischen, sowie ob Ober Ost als Kolonie bezeichnet werden kann, als Hauptaspekte für die Unterrichtsreihe dienen. Über den inhaltlichen Wissenserwerb hinaus hat auch der Erwerb fachlicher Kompetenzen eine große Bedeutung. Diese Kompetenzen werden bei der Vorstellung der Unterrichtreihe ebenso zum Teil vorgestellt.

1.2 Aktueller Forschungsstand und verwendete Literatur

Für das hier behandelte Thema sind mehrere Forschungsbereiche nötig. Zunächst ist es natürlich wichtig, Ober Ost im Kontext des Ersten Weltkriegs zu sehen, da es primär auch für die Ressourcenbeschaffung an der Ostfront diente.11 Daher wird hier auch Literatur über den Ersten Weltkrieg hinzugezogen. Vielfach als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“12 bezeichnet, hat der Krieg zwischen den europäischen Großmächten innerhalb seiner 4 Jahren ca. 20 Millionen Tote gefordert, so die Rechnung von Volker Berghahn in seinem Buch „Der Erste Weltkrieg“13. Darin fasst er weiterhin die wichtigsten Aspekte der Weltkriegsforschung des frühen 21. Jahrhunderts zusammen, weshalb dieses Buch als Überblickswerk in dieser Hausarbeit ebenso viel verwendet wird.

Die Geschichtsforschung zum Ersten Weltkrieg begann jedoch schon während des Krieges selbst, jedoch in einem anderen Kontext. Die Bezeichnung „Urkatastrophe“ kommt unter anderem auch durch die Ansicht der Zeitgenossen, die den Krieg als „Naturkatastrophe“ betrachteten, die wie „[...] ein Orkan [...] über die Menschen hinweggefegt [sei]“14. Heutzutage ist man sich bewusst, dass der Ursprung des Krieges der Mensch ist und der Zweite Weltkrieg in direktem Zusammenhang mit dem Ersten steht.15 Aber die wichtigsten Quellen zum Ersten Weltkrieg stammen aus diesem selbst, denn mithilfe neuer Dokumentiermethoden durch beispielsweise Rotationsdruckverfahren und Fotographien konnte der Krieg für die Öffentlichkeit und die Nachwelt festgehalten werden.16 Zum Beispiel hat auch der Oberbefehlshaber Ost, Generalfeldmarschall Prinz Leopold v. Bayern, einen kompletten Bericht, der „die Kenntnisse [...] der nachgerückten Gefilde Kurlands, Litauens und des auf weiß-ruthenischem Sprachgebiet liegenden Verwaltungsbezirk Bialystok-Grodno17 zu vertiefen und zu erweitern“18. Dieses Werk soll im weiteren Verlauf vor allem zur Veranschaulichung der Deutschen Sicht auf die Einheimischen und die Verwaltungsstrukturen verwendet werden, jedoch nicht ohne kritische Betrachtung.

Neben dieser Quelle werden auch Erich Ludendorffs „Kriegserinnerungen 1914-1918“ als zweite Primärquelle für die gleichen Aspekte verwendet.

Bei beiden Quellen wird berücksichtigt, dass deren Berichte wahrscheinlich sehr starke, subjektive Betrachtungsperspektiven beinhalten. Um ein relativ gutes Bild bei Legitimationsgründen bezüglich Ober Osts und der dadurch erfolgenden Annektierung osteuropäischer Gebiete zu bekommen, dienen diese Quellen aber sehr gut. Dies wird weiterhin dadurch begründet, da sich auch heute noch nicht viel Literatur finden lässt, die sich mit dem Thema Ober Ost umfassend beschäftigt.19

Eines der wichtigsten Werke zu Ober Ost schrieb Vejas Gabriel Liulevicius mit seinem „Kriegsland im Osten“, in dem er sich vor allem mit der Sicht der Deutschen auf die Einheimischen im besetzten Gebiet und ihrer Legitimierung für ihre eigenen Aktivitäten in eben diesem Gebiet auseinandersetzt. Dabei betrachtet er unter anderem auch die hier verwendeten Quellen kritisch. Ebenso werden aber auch Dokumente mit dem „Blick von unten“20 ergänzend verwendet.

Daneben ist auch Abba Strazhas’ „Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg: Der Fall Ober Ost; 1915-1917“ eines der wenigen Werke, die sich mit Ober Ost vertiefend beschäftigt haben und für diese Hausarbeit oft verwendet werden. Hier beschäftigt sich der Autor vorwiegend mit der Einbindung preußischer Regierungsmethoden in die deutsche Militärverwaltung in Ober Ost und deren Charakter. Darüber hinaus wird hier auch das besondere Interesse der Deutschen an diesem Gebiet näher untersucht und Probleme der Verwaltung inklusive deren Folgen, die durch beispielsweise die Aufstände und die Bandenüberfälle in Ober Ost veranschaulicht werden.

Neben diesen zwei Werken werden ebenfalls die Bachelorarbeit „Die deutsche Besatzung im Land des „Oberbefehlshaber Ost“ während des Ersten Weltkrieges“ von Benjamin Faust und „Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. Und 20. Jahrhundert“ von Ulrike Jureit für weitere Ansätze hinzugezogen. Zweiteres ist ein etwas neuerer Ansatz, der anhand einiger Beispiele versucht den Begriff Lebensraum in einem neuen Kontext, der nicht mit nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik verbunden wird, darzustellen. In Kapitel 5 des Werks wird dafür Ober Ost als „Raum des Übergangs“ betrachtet und sein Wandel „[v]om Territorium zum Deutschen Raum“21 wird untersucht.

Für den didaktischen Teil in Kapitel 4 werden zudem didaktische Werke herangezogen. Am relevantesten ist hier Nicola Brauchs „Geschichtsdidaktik“, in welchem die Autorin grundlegend die Disziplinen und gegenwärtigen Herausforderungen der Geschichtsdidaktik untersucht, vor allem im Hinblick auf den aktuellen Anspruch des deutschen Geschichtsunterrichts hin, kompetenzorientiert und möglichst reflektiert zu sein.

II. Die deutsche Militärverwaltung „Ober Ost“

2.1 Vom Bewegungskrieg zur Besetzung

Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, sah das deutsche Kaiserreich denselben als ein „Instrument und Gelegenheit [...], [seine] (Welt-)Machtstellung und insbesondere seine europäische Weltherrschaft militärisch durchzusetzen“22. Schon 1905 wurde von Alfred Graf von Schlieffen der Schlieffen-Plan vorgelegt, womit man im Westen zunächst Frankreich besiegen und daraufhin im Osten das russische Zaren- reich.23 24 25 Dieser Plan war die Antwort auf das von Frankreich und Russland geschlossene Verteidigungsbündnis von 189 42425 und man verkalkulierte sich bei dessen Ausführung im Jahr 1914. Man rechnete mit einem „raschen, entscheidenden Sieg über Frank- reich“26, endete aber in einem Stellungskrieg.27 Ebenso rechnete man nicht damit, dass die russischen Soldaten so früh mit einer Mobilmachung beginnen würden, wodurch Deutschland im Osten noch während dem Krieg im Westen einen Krieg gegen die Russen führen mussten, damit diese nicht in Ostpreußen einmarschieren konnten.28 Somit war dies für Deutschland ein Zweifrontenkrieg.

Anders als an der Westfront war der Krieg an der Ostfront jedoch ein Bewegungskrieg. Nach dem Sieg der Deutschen über die Russen bei der Schlacht von Tannenberg, gingen die Deutschen im Jahr 1915 weiter in die Offensive und General Paul von Hinden- burg, sowie sein Stabschef Erich Ludendorff wurden als Helden gefeiert.29 Erstmalig nach der Schlacht bei den Masurischen Seen im September 1914 wurden Gebiete des späteren Ober Ost eingenommen und man begann diese zu verwalten, verlor das Gebiet jedoch im Spätherbst wieder an die russischen Soldaten. Im Februar des Folgejahrs nach der Winterschlacht in Masuren „bildete [sich] das Sprungbrett, von dem aus später die ganze Eroberung von Ober Ost vor sich ging“30

Man scheiterte bei dem Versuch, die russischen Armeen einzukreisen und konnte diese lediglich zurückdrängen, was bis in den Herbst 1915 dauerte, bis „der schwungvolle Bewegungskrieg im Osten ins Stocken [geriet]“31. An der Frontlinie „von der Nordspitze Kurlands bis weit hinab nach Süden ins österreichisch-ungarische Operationsgebiet“32 befestigte man seine Stellungen. Das Gebiet Ober Ost wurde ab diesem Moment errichtet unter der Leitung von General Paul von Hindenburg als „Oberbefehlshaber Ost“ und Erich Ludendorff.

Der Krieg hinterließ starke Verwüstungen in dem besetzten Gebiet, denn die Russen betrieben eine sogenannte „Politik der verbrannten Erde“, bei der alles, was nicht abgebaut und mitgenommen werden konnte, zerstört wurde. Darunter fielen auch Fabriken, Felder und Häuser. Als Sündenböcke und Verdächtige hierfür galten bei den Einheimischen Juden, Litauer mit deutschen Vorfahren und Protestanten.33 Generell verlief die Ostgrenze zu Ober Ost immer an der Ostfrontline, während seine Westgrenze an der Grenze zu Ostpreußen verlief, sowie bis in Teile des östlichen Polens hineinreichte.34 Mit einer Fläche von insgesamt 108808 km2 und einer Bevölkerung von insgesamt 2909935 Einwohnern war das Verwaltungsgebiet Ober Ost fast so groß wie Bayern mit der Rheinpfalz, Württemberg und Baden, hatte jedoch mehr als ein Drittel weniger Einwohner (insgesamt 11467698) im Jahr 1910 hatten.35 Das bedeutete, dass das Gebiet größtenteils noch nicht von Menschen besiedelt war und man sah darin später großes Potenzial zur weiteren Besiedlung und der Ressourcenerschließungen für den Krieg und das Deutsche Kaiserreich.36

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Verwaltungsgebiet Ober Ost (Ausschnitt aus: Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 432-433).

2.2 Die Militärverwaltung und ihre Ziele für Ober Ost

Nachdem man im September 1915 seine Stellungen an der Ostfront gefestigt hat, hatte man durch die „Politik der verbrannten Erde“ hinter sich ein „zerstörte[s] Land“ und das „brauchte dringend einen Wiederaufbau, und der sollte ganz im Zeichen der deutschen Prämissen hinsichtlich der eigenen Besatzungs- und Kolonialherrschaft im Osten ste- hen“37. Die Hauptaufgabe, die der Oberbefehlshaber Ost diesem Gebiet zuschrieb, war es „[a]ls Grenzmark zwischen der westeuropäischen Welt und dem Großrussentum [...] die Heimat vor der Flut zu schützen, die in den ersten Kriegsmonaten die östlichen Grenzen [ihres] Vaterlandes umrandete“38. So könnte man es in erster Linie als eine Art Schutzwall vor den russischen Truppen sehen. Aus diesem Schutzwall entwickelte sich jedoch noch etwas anderes, denn man sah hier auch viel ungenutztes Potenzial zur Erweiterung des Deutschen Kaiserreichs. Diese Überlegungen und ihre Legitimation traten nicht einfach so hervor. Liest man in dem Bericht des Oberbefehlshaber Ost, so lässt sich erkennen, dass man versucht, hier mithilfe der Landschaft zu argumentieren. Man schreibt hier beispielsweise, dass „Wald und Heide, Feld und Wiese, Flüsse und Seen [...] immer wieder vertraute Bilder der Heimat vor dem geistigen Auge [erwecken]“39 würde und dass es „organisch [...] an die deutsche Ostmark an[schließt] und [...] kaum die Spuren eines Übergangslandes zu dem eigentlichen Russland [verraten]“40 würde. Man versucht hier mehr oder weniger ein von Natur aus gegebenes Annexionsrecht zu proklamieren. Ironischerweise galt vor allem die Landschaft des Gebietes während der ersten Phase des Bewegungskrieges für die mobilisierten Soldaten als sehr befremdlich. Ludendorff schrieb in seinen Kriegserinnerungen: „Wir kannten infolge Mangels jeder einschlägigen deutschen Literatur im übrigen [sic!] die Verhältnisse von Land und Leuten nur wenig und sahen uns einer neuen Welt gegenüber.“41

Was an dieser Landschaft für die Soldaten am bedrückendsten schien, war die scheinbare „russische Endlosigkeit“42. Diese Eindrücke waren kein Einzelfall, denn eine ähnliche Beschreibung findet man auch in Richard Dehmels Kriegstagebuch.43 So scheint die Aussage des Oberbefehlshabers Ost von den „vertrauten Bildern der Heimat“ schon sehr widersprüchlich zu den ersten Eindrücken der Soldaten im Gebiet des späteren Ober Ost.

Auch auffallend, und sicherlich durch den Mangel an Literatur zur Geschichte des Gebiets hervorgerufen, war die weit verbreitete Annahme, man würde in diesem eroberten Gebiet „eine absolutistische Monarchie [...], die den Eindruck eines geeinten Staats machte“44 vorfinden. In der Realität fand man aber ein ethnisch äußerst komplexes Gebiet, in welchem man sich selbst innerhalb von Städten und Familien uneinig war, welchem Volk man sich nun zugehörig fühlten. Beispiele findet man dabei viele. So beschreibt Erich Zechlin in der Internationalen Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik am 1. Dezember 1915 Familien, die sich gemäß Loyalität und Volkszugehörigkeit aufteilten und sogar ihre Nachnamen diesen entsprechend änderten.45

Diese Gegebenheit erschwerte es sehr, eine logische Einteilung des Gebiets in Verwaltungsbezirke zu vollziehen, da man keine wirklich eindeutige Grundlage hatte, welche Gruppierungen jetzt wo hingehörten. Dies war zudem eine schwierige Aufgabe, da laut dem Oberbefehlshaber Ost „unter den damals zur Verfügung stehenden Kräften sich nur außerordentlich wenig Männer fanden, die aus eigener Anschauung die Verhältnisse des besetzten Gebiets kannten, und [...] die mit den ethnographischen und kulturellen Verhältnissen sowie mit der Behandlung der einzelnen Nationalitäten genügend Bescheid wußten.“46 Für dies machte er vor allem die Deportierung der einheimischen Beamten durch die Russen verantwortlich. Ebenso war es schwierig, mit den Einheimischen zu kommunizieren, da es deutliche sprachliche Barrieren gab.47

Letztendlich entschied man sich dazu, das Gebiet Mitte 1915 zunächst in die sechs Bezirke Kowno-Litauen, Suwalki, Wilna, Bialystok, Grodno und Kurland einzuteilen. Später im März 1917 legte man die Bezirke Wilna, Suwalki und Litauen zu dem Verwaltungsbezirk Litauen zusammen und auch Bialystok und Grodno wurden zusammengelegt zu dem Bezirk Bialystok-Grodno. Somit existierten seitdem nur noch die drei Bezirke Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno48

Verwaltet wurde Ober Ost von dem Oberbefehlshaber Ost, dessen Amt bis im August 1916 General Paul von Hindenburg innehatte und daraufhin bis zur Auflösung Ober Osts im September 1918 Prinz Leopold von Bayern.

Nachdem Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg am 7. Juni 1916 eine Verwaltungsordnung für Ober Ost erlassen hatte, bekam man auch erstmalig eine vage Funktion auf rechtlicher Basis zugeordnet. Nach §6 dieser Verwaltungsordnung habe man nämlich die Aufgabe, „geordnete politische und wirtschaftliche Verhältnisse im besetzten Gebiet“49 herzustellen und zu erhalten. Dabei seien jedoch stets immer die Interessen des Heeres und des Deutschen Reichs an erster Stelle.50 Im Hinterkopf behielt man trotzdem immer die Pläne, später hier auch anzusiedeln und Deutschland somit zu er weitern.51 So sagte Alfred von Goßler, der Verwaltungschef vom Bezirk Kurland, man müsse es nur „halten und bevölkern, um ein neues, fertiges Stück Deutschland zu besitzen.“52 Auffallend ist auch seine Bezeichnung „Stück Deutschland“, da man hier auch annehmen könnte, dass dies schon bereits vor der Annektierung „deutsch“ war. Aber auf der anderen Seite verbindet er dabei auch die notwendige Ansiedlung der eigenen Leute, was dies entkräften könnte.

Ebenso ein Ziel für Ober Ost war die „Kultivierung“ des Landes. Liulevicius beschreibt in seinem Werk „Kriegsland im Osten“, dass das Wort „Kultur“ an der Ostfront „zu einem wichtigen Thema, allerdings in einem anderen ursprünglicheren Sinn [wurde].“53 Gemeint ist damit, dass Kultur hier nicht nur Dinge wie Kunst oder Musik gemeint sind, sondern besonders auch im Zusammenhang mit der Landwirtschaft „kultiviert“ wurde. Somit hat man beispielsweise neue Techniken zum Pflügen und den Fruchtwechsel in das besetzte Gebiet gebracht und begonnen, auch Wälder zu „kultivieren“, um die „Natur zu bändigen“.54 Man begann auf das Land und seine Bewohner „herabzublicken“55 und sich als „Kulturbringer“56 zu sehen. Begründet wird diese „Unkultur“, wie man sie unter den deutschen Soldaten zu nennen begann57, mit dem „tatarischen Charakter der moskowitischen Herrschaft, zu nehmen, und zwar mit möglichst wenig eigener Arbeit [,..].“58 Das heißt man sah sich hier auch als „Erlöser“ von der russischen Herrschaft, die das Gebiet und seine Einheimischen laut dem Oberbefehlshaber Ost ausgebeutet hätten und sie deshalb keine „Kultur“ besäßen. Jedoch war auch die Verwaltung des Gebiets durch die Deutschen von Ausbeute geprägt, wie man noch im Folgenden erkennen wird.

2.3 Die Struktur der Militärverwaltung

Für Ober Ost wurde extra ein Verwaltungssystem errichtet, welches auf der schon genannten Ober Ost eigenen Verwaltungsordnung auch rechtlich basierte. Es verwundert also nicht, dass man Ober Ost in den Geschichtswissenschaften auch als Militärstaai59 betitelt.

[...]


1 Bei diesem Begriff stößt man als Historiker schon auf einige Schwierigkeiten bezüglich der Verortung des europäischen Ostens. Wo heute mehrere Staaten, wie Litauen, Lettland, Weißrussland, etc. vorzufinden sind, befanden sich lange Zeit sehr viele ethnographisch und sprachgeschichtlich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Und wo der europäische Osten beginnt, ist historisch weitgehend sehr schwierig zu definieren. Vgl. Stökl, Günther: Osteuropa und die Deutschen. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Nachbarschaft, Stuttgart31982, S. 10; Rauch, Georg von: Geschichte der baltischen Staaten, München 31990, S. 15.

2 Rauch: Geschichte der baltischen Staaten, München, S. 15.

3 Ebd.

4 Vgl. Lenz, Wilhelm: Baltische Propaganda im Ersten Weltkrieg. Die Broschürenliteratur über die Ostseeprovinzen Russlands, in: Ezergailis, Andrew: Die baltischen Provinzen Russlands zwischen den Revolutionen 1905 und 1917, Köln 1982, S. 195.

5 Wenn auch nur zeitweise.

6 Vgl. Faust, Benjamin: Die deutsche Besatzung im Land des „Oberbefehlshaber Ost“ während des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2013, S. 24.

7 Hier anhand des Beispiels Hessen verdeutlicht.

8 Hierauf wird im Folgenden noch einmal näher eingegangen.

9 Orientiert wird sich hier an: Hessisches Kultusministerium: Kerncurriculum gymnasiale Oberstufe - Geschichte, Wiesbaden 2016.

10 Das Thema wird sich auch ausschließlich mit der Zeit des Ersten Weltkrieges befassen. Das hat zum einen den Grund, dass man den Rahmen der Hausarbeit nicht sprengen will und zum anderen würde dies mit der verfügbaren Zeit, die man für eine Unterrichtsreihe hat, korrespondieren.

11 Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002, S. 87.

12 Mommsen, Wolfgang J.: Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 17. Die Urkatastrophe Deutschlands: Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Stuttgart 2002, S. 14.

13 Berghahn, Volker: Der Erste Weltkrieg, München 42009, S. 8.

14 Ebd., S. 7; Dieser Begriff wird in einem Zeitungsbericht von Aribert Reimann stark kritisiert, da man hieraus häufig herleiten würde, dass der Erste Weltkrieg als „Wegbereiter für den Zweiten Weltkrieg“ gelte und somit nicht als eigenes Phänomen gesehen würde - Vgl. Reiman, Aribert: Der Erste Weltkrieg - Urkatastrophe oder Katalysator? , in: Politik und Zeitgeschichte B 29-30 (2004), S. 30-31.

15 Vgl. Faust: Die deutsche Besatzung, Hamburg, S. 4.

16 Vgl. Hirschfeld, Gerhard: Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2008, S. 304; siehe auch: Faust: Die deutsche Besatzung, Hamburg, S. 4.

17 Der Autor bezieht sich hierbei auf gesamt Ober Ost, welches am Ende in die drei Verwaltungsgebiete Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno aufgeteilt war.

18 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno, Stuttgart 1917, S. 5.

19 Vgl. Lieb, Peter: Deutsche Herrschaft in der Ukraine 1918/1919: Wegweiser zum Vernichtungskrieg?, in: Militärgeschichte, Zeitschrift für historische Bildung 4/2009, Potsdam 2009, S. 10.

20 Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 7.

21 Jureit, Ulrike: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. Und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 159.

22 Jureit: Das Ordnen von Räumen, Hamburg, S. 160.

23 Vgl. Faust: Die deutsche Besatzung, Hamburg, S. 14.

24 Rönnefarth, Helmuth K. G.: Konferenzen und Verträge Bd. 3, Teil 2: Vertrag-Ploetz. Ein Handbuch geschichtlich bedeutsamer Zusammenkünfte und Vereinbarungen (= Neuere Zeit 1492-1914), Würzburg 1958, S. 378-380.

25 Afflerbach, Holger: Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 21996, S. 204, hier in: Afflerbach, Holger (Hg.): The Purpose oft he First World War. War Aims and Military Sta- tegies (= Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 91), Berlin/Boston 2015, S. 100-101. Der Autor beschreibt hier die Aussage Falkenhayns, dass man einen „anständigen Frieden“ entgegen der Koalition von Frankreich, Groß-Britannien und Russland mithilfe des Kriegs erlangen wolle.

26 Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 22.

27 Vgl. ebd.

28 Ders.: Die deutsche Besatzung im „Land Ober Ost‘ im Ersten Weltkrieg, in: Kronenbitter, Günther: Besatzung: Funktion und Gestalt militärischer Fremdherrschaft von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 2006, S. 94.

29 Vgl. Engehausen, Frank/Jankrift, Kay Peter et. al.: Meilensteine der deutschen Geschichte. Von der Antike bis heute, Berlin 2015, S. 285; Die Benennung „Schlacht bei Tannenberg“ beanspruchte Ludendorff für sich mit der Begründung, als Gedenken an die Schlacht von Tannenberg 1410, als „der Deutsche Ritterorden den vereinigten litauischen und polnischen Armeen unterlag“ und um klarzustellen, dass sich das nie wiederholen würde - Vgl. Ludendorff: Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 4445; Dies ist aber durchaus auch als Zweck zur Propaganda zu sehen, denn die Schlacht selbst sollte ursprünglich anders heißen - Vgl. Hoegen, Jesko von: Der Held von Tannenberg. Genese und Funktion des Hindenburg-Mythos (1914-1934), Köln/Wien 2007, S. 40-41.

30 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 3.

31 Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 32.

32 Ebd.

33 Vgl. Gintneris, Antanas: Lietuva caro ir kaizerio naguose. Atsiminimai is I Pasaulinio karolaik, 1914— 1918, Chicago 1970, S. 246-257, hier in: Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 33.

34 Siehe Abb. 1.

35 Vgl Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 431. Die Zahlen zu Ober Ost beziehen sich hier auf das Ende des Jahres 1916, Zahlen zum Beginn der Besetzung sind keine genauen Zahlen bekannt, da zu dieser Zeit noch keine vollständigen Volkszählungen durchgeführt wurden.

36 Vgl. Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 87.

37 Jureit: Das Ordnen von Räumen, Hamburg, S. 164.

38 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 9; dies war seit dem 29. August 1916 Prinz Leopold v. Bayern: Vgl. Ebd.

39 Ebd., S. 10.

40 Ebd., S. 11.

41 Ludendorff: Kriegserinnerungen, Berlin, S. 146.

42 BAMA, PHD 8/23: Schirokauer, Alfred: Der deutsche Soldat in der russischen Steppe, in: Korrespondenz B 6 (15. November 1916); Ein Ausschnitt aus einem deutschen Nachrichtendienst in Ober Ost, der im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg zu finden ist; Weitere Beschreibungen finden sich auch bei: Lielevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 41-44.

43 Dehmel, Richard: Zwischen Volk und Menschheit. Kriegstagebuch, Berlin 1919, S. 449: „Auch die Hauptstraßen [sind] so breit ausgelegt, dass man den sprichwörtlichen russischen Himmel fortwährend um sich ausgespannt sieht; er wirkt in der Tat so mystisch weit, als ob er sich immer weiter wölbe und erst hinter dem Horizont auf die Erde stoße.“

44 Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 35.

45 Vgl. Zechlin, Erich: Litauen und seine Probleme, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 10.3 (1915), S. 282.

46 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 81-82.

47 Vgl. ebd. Es wurde dokumentiert, dass man unter den Einheimischen häufig nur mit den Ostjuden kommunizieren konnte, da diese eine bessere Fremdsprachenkenntnis besaßen: Vgl. Aschheim, Steven E.: Eastern Jews, German Jews and Germany’s Ostpolitik in the First World War, in: Leo-Baeck-Institute Year Book 28 (1983), S. 351-365.

48 Vgl. Ludendorff: Kriegserinnerungen, Berlin, S. 52.

49 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 84-85.

50 Vgl. ebd. Im nächsten Kapitel wird man noch näher darauf eingehen, wie sehr die Interessen des Militärs dabei im Vordergrund standen.

51 Vgl. Jureit: Das Ordnen von Räumen, Hamburg, S. 174-175.

52 Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 62.

53 Ebd., S. 45.

54 Vgl. ebd.

55 Ebd., S. 32. Im weiteren Verlauf der Hausarbeit wird hierauf noch näher eingegangen.

56 Vgl. Jureit: Das Ordnen von Räumen, Hamburg, S. 170.

57 Vgl. Liulevicius: Kriegsland im Osten, Hamburg, S. 45.

58 Oberbefehlshaber Ost (Hg.): Das Land Ober Ost, Stuttgart, S. 210-211.

59 Liulevecius, Vejas Gabriel/ Pöhlmann, Markus (Übs.): Ober Ost, in: Hirschfeld et. al. (Hg.): Enyklopä- die Erster Weltkrieg, Paderborn, S. 753-754.

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Details

Titel
Das Land Ober Ost als vergessene "Kolonie" des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Eine didaktische Aufbereitung mit Unterrichtsentwurf
Hochschule
Technische Universität Darmstadt
Veranstaltung
Kolonien im östlichen Europa
Note
1,3
Autor
Jahr
2020
Seiten
44
Katalognummer
V978165
ISBN (eBook)
9783346334510
ISBN (Buch)
9783346334527
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ober Ost, Erster Weltkrieg, Kolonien, Kolonialpolitik, Militärstaat, Militärverwaltung, Verwaltung
Arbeit zitieren
Rico Göbel (Autor:in), 2020, Das Land Ober Ost als vergessene "Kolonie" des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Eine didaktische Aufbereitung mit Unterrichtsentwurf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/978165

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