Ansätze familienorientierter Unterstützung für Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern

Resilienzfördernde Schutzfaktoren und Hilfen


Bachelor Thesis, 2020

51 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Lebenswelt von Kindern psychisch kranker Eltern
2.1 Entwicklungsrisiken und Belastungsfaktoren
2.1.1 Elternebene
2.1.2 Familiäre Ebene
2.1.3 Kindebene
2.1.4 Psychosoziale Ebene
2.2 Subjektive Gefühlswelt der betroffenen Kinder

3 Resilienz als Schutz für betroffene Kinder und Jugendliche
3.1 Resilienz
3.2 Resilienzfördernde Schutzfaktoren
3.2.1 Persönliche Schutzfaktoren
3.2.2 Familiäre Schutzfaktoren
3.2.3 Soziale Schutzfaktoren
3.3 Spezifische Schutzfaktoren bei Kindern psychisch kranker Eltern
3.3.1 Familiäre Resilienz
3.3.2 Beziehungsqualität
3.3.3 Familiäre Krankheitsbewältigung

4 Spezifische Hilfen für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil
4.1 Familienberatungsansatz nach William Beardslee
4.2 CHIMPs – Familienorientiertes Präventionskonzept
4.2.1 Zielgruppe
4.2.2 Ziele der Beratung
4.2.3 Beratungsverlauf
4.3 AURYN – systemisch-familienorientierte Beratungsstelle
4.3.1 Beratungsgespräche
4.3.2 Gruppenangebote
4.4 Unterstützungsmaßnahmen der Sozialen Arbeit
4.4.1 Sozialpädagogische Familienhilfe
4.4.2 Erziehungsberatung

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

„Psychische Erkrankungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Betroffenen durch die Erkrankung in ihrem Alltagsleben (zeitweise) eingeschränkt sind. Zum Alltag von Eltern gehören immer auch ihre Kinder sowie deren Erziehung. Die psychische Erkrankung eines Elternteils hat somit immer auch Auswirkungen auf die Kinder und die Gestaltung ihres Aufwachsens im familiären Kontext“ (zitiert in Schmutz 2013: 372).

Die psychische Erkrankung eines Elternteils stellt eine Belastungssituation für alle Familienmitglieder dar. Es ist daher von zentraler Bedeutung, die elterliche Erkrankung auf der gesamtfamiliären Ebene zu betrachten, um die Lebensqualität der betroffenen Angehörigen zielgerecht zu fördern. Wie das Zitat verdeutlicht, sind besonders Kinder und Jugendliche als Familienmitglieder von den Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung betroffen. Denn die psychische Erkrankung eines Elternteils stellt einen erheblichen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar.

In Deutschland gibt es etwa drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche, die im Verlauf eines Jahres Eltern mit einer psychischen Erkrankung erleben. Sie haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein mehrfach erhöhtes Risiko, selbst psychische Erkrankungen oder Auffälligkeiten zu entwickeln (vgl. Petermann/Wiegand-Grefe 2016: 63). So belegen Studien, dass Kinder und Jugendliche in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung oft Eltern mit psychischen Erkrankungen haben. Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg führte zwischen 1998 und 2002 eine Datenerhebung durch. Diese ergab, dass etwa die Hälfte aller psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen bei einem psychisch kranken Elternteil lebt (vgl. Lenz 2014: 17).

Trotz der besonderen Belastung, denen Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern ausgesetzt sind, weisen nicht alle von ihnen einen negativen Entwicklungsverlauf auf. Das Vorhandensein von Resilienz hat eine grundlegende Signifikanz bei der kindlichen sowie familiären Bewältigung der elterlichen Krankheit. Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche, die belastenden Lebenssituationen ausgesetzt sind, durch eine gezielte Resilienzförderung gestärkt werden können. Bei der Entwicklung von Resilienz spielen bestimmte Schutzfaktoren und die Begleitung von sozialen Systemen eine unerlässliche Rolle (vgl. Gabriel 2018: 1323). Dies verdeutlicht die Wichtigkeit der Disponibilität von Resilienz und die Rolle der Sozialen Arbeit. Vor diesem Hintergrund bearbeite ich in dieser Bachelorarbeit zwei Forschungsfragen: Was stärkt Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern in ihrer Lebenslage? Mit welchen familienorientierten Ansätzen kann die Soziale Arbeit Familien mit einem psychisch kranken Elternteil präventiv unterstützen?

Hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit habe ich für die Beantwortung meiner Forschungsfragen eine Literaturrecherche betrieben.

Dieser Themenbereich ist von elementarer Bedeutung, um Kinder psychisch kranker Eltern mit ihrer spezifischen Lebenssituation als Gruppe frühzeitig wahrzunehmen. Empirische Untersuchungen aus der Bewältigungsforschung zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche oft aus verschiedenen Gründen nicht an außerfamiliäre soziale Systeme wenden. Wagenblass (2011) stellt in seiner qualitativen Untersuchung fest, dass oft ein Kommunikationsverbot bezüglich der psychischen Krankheit des Elternteils herrscht und teilweise Kinder ihre Eltern nicht zusätzlich belasten möchten oder sich für die elterliche Erkrankung schämen. Schuld- und Schamgefühle hindern Kinder und Jugendliche daran, sich an außerfamiliäre Personen zu wenden (vgl. Gabriel 2017: 82). Darüber hinaus besteht auch aus gesamtgesellschaftlicher Sicht eine Tabuisierung bei psychischen Krankheiten. Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern werden häufig erst aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten sowie Symptomen psychischer Krankheitsbilder wahrgenommen. Dabei können durch präventive Unterstützungen der Sozialen Arbeit sowie durch eine gelungene Kooperation mit anderen Professionen Entwicklungsrisiken verhindert bzw. gemildert werden. Die präventiven Unterstützungsangebote sollten sich jedoch nicht ausschließlich auf die Kinder und Jugendlichen psychisch kranker Eltern konzentrieren, da die Miteinbeziehung der betroffenen Eltern eine positive Wirkung auf die Erziehungsfähigkeit und das Zusammenleben der Familie haben kann. Kinder und Jugendliche können nicht unabhängig von ihrer Familie betrachtet werden, wenn die belastende Situation im familiären Kontext zugrunde liegt. Der Fokus dieser Arbeit liegt dementsprechend auf Ansätzen und vorbeugenden Hilfen, die sich im gleichen Maße an die Eltern und somit an das ganzheitliche Familiensystem richten.

Um die oben genannten Fragen zu beantworten, ist die vorliegende Bachelorarbeit in drei Teile gegliedert. Zu Beginn wird im zweiten Kapitel die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern vorgestellt. Hierzu wird neben Entwicklungsrisiken und Belastungsfaktoren die Ebene der subjektiven Gefühlslagen näher erläutert. Das dritte Kapitel umfasst die Resilienz als Schutz für betroffene Kinder und Jugendliche. In diesem Abschnitt soll die Forschungsfrage beantwortet werden, was Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern in ihrer Lebenslage stärkt und wie sie durch resilienzfördernde Faktoren vor möglichen Entwicklungsrisiken geschützt werden. Das darauffolgende Kapitel bildet den letzten Abschnitt und thematisiert Ansätze familienorientierter Unterstützung für Familien mit einem psychisch kranken Elternteil, die in der Sozialen Arbeit genutzt werden können. Dabei beantworte ich meine zweite Forschungsfrage und stelle den Familienberatungsansatz nach Beardslee, das familienorientierte Präventionskonzept CHIMPs und das AURYN-Projekt vor. Daraufhin gehe ich auf § 27 SGB VIII Hilfen zur Erziehung ein und erläutere zwei der darin genannten Maßnahmen der Sozialen Arbeit: die Sozialpädagogische Familienhilfe und die Erziehungsberatung. Im Fazit werde ich die Ergebnisse zusammenfassen und die Forschungsfragen abschließend beantworten.

2 Lebenswelt von Kindern psychisch kranker Eltern

In diesem Kapitel werde ich in einem eingeschränkten Umfang den Leser*innen die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern näherbringen. Zentrale Aspekte werden Belastungsfaktoren für die kindliche Entwicklung sowie die subjektive Wahrnehmung und Gefühlslage der Kinder und Jugendlichen sein. Dies dient dem allgemeinen Verständnis der Thematik und der Nachvollziehbarkeit dieser Arbeit, speziell der darauffolgend erläuterten Ansätze zur Stärkung und Förderung von Familien mit einem psychisch kranken Elternteil.

2.1 Entwicklungsrisiken und Belastungsfaktoren

Das Zusammenleben mit einem psychisch erkrankten Elternteil stellt für betroffene Kinder und Jugendliche ein hohes Risiko für einen ungünstigen Entwicklungsverlauf dar. Die psychische Erkrankung eines Elternteils gilt als Risikofaktor für die mögliche Entwicklung von psychischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten des Kindes (vgl. Lenz 2008: 7). Lenz macht darauf aufmerksam, dass neben der Art der elterlichen psychischen Erkrankung deren Verlaufsmerkmale, wie Chronizität und Schweregrad, sowie die mit der Erkrankung einhergehenden psychosozialen und sozialen Belastungsfaktoren für die Folgen bei den Kindern und Jugendlichen maßgebend sind (vgl. Lenz 2017: 323f). Die Belastungsfaktoren gliedern sich in die zentralen Bereiche Elternebene, familiäre Ebene, Kindebene, psychosoziale Ebene und werden im nächsten Abschnitt näher erläutert.

2.1.1 Elternebene

Die High-Risk-Forschung basiert auf der Annahme, dass Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern als Risikogruppe für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung zählen. Kinder und Jugendliche, die in Familien aufwachsen, in denen ein Elternteil psychisch krank ist, haben im Gegensatz zur Vergleichsgruppe ein zwei- bis dreimal erhöhtes Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln (vgl. Lenz 2008: 7). Studien zur Gefährdung von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern zeigen, dass alle Diagnosegruppen einen Risikofaktor für Entwicklungsrisiken im Kindes- und Jugendalter sowie im weiteren Lebenslauf darstellen (vgl. Lenz 2017: 324). So stellte die Forschungsgruppe um Weismann durch Untersuchungen fest, dass Kinder depressiv erkrankter Eltern ein hohes Risiko haben, im Jugendalter selbst an einer depressiven Erkrankung zu leiden. Hierbei ist die Wahrscheinlichkeit einer depressiven Erkrankung höher, als andere psychische Störungen zu entwickeln. Etwa 40% der Kinder von depressiv erkrankten Eltern erleben in ihrer Kindheits- und Jugendphase selbst eine depressive Krankheitsphase. Wenn beide Elternteile von einer depressiven Erkrankung betroffen sind, entwickeln betroffene Kinder und Jugendliche mit der hohen Wahrscheinlichkeit von 70% im Laufe ihres Lebens eine Form von depressiver Störung (vgl. Lenz 2018: 162). Nach Lenz tragen Kinder depressiv erkrankter Eltern auch ein erhöhtes allgemeines Risiko für andere psychische Störungen. In diesem Zusammenhang gehen Studien davon aus, dass ca. 60% der Kinder von Eltern mit einer Majoren Depression im Kindes- oder Jugendalter eine Störung entwickeln. Zu diesen Störungen gehören unter anderem depressive Störungen, Angststörungen, wie Phobien und Panikstörungen, Störungen im Sozialverhalten, Leistungsprobleme in der Schule, Einschränkungen der Bindungsfähigkeit sowie Suchtstörungen (vgl. Lenz 2017: 324). Darüber hinaus ist belegt, dass die Suizidversuchsraten bei Kindern und Jugendlichen depressiv erkrankter Eltern 8% beträgt, während sie bei der Vergleichsgruppe mit Kindern nicht depressiv erkrankter Eltern bei 1% liegt (vgl. Lenz 2018: 162). In der Helsinki High-Risk-Study werden seit 1974 Kinder von Müttern mit psychischen Störungsbildern der Schizophrenie untersucht, deren erster psychiatrischer Krankenhausaufenthalt nach der Geburt und vor der Einschulung des Kindes lag. Die Kinder unterscheiden sich von den Kindern der Vergleichsgruppe durch ausgeprägte emotionale Symptome. Dazu gehören unter anderem Ängstlichkeit, Depressivität, Zurückgezogenheit und soziale Hemmungen im Schulalter. Diese Symptome bilden die Grundlage für ein breites Feld an psychischen Störungen im weiteren Lebensverlauf (vgl. Lenz 2018: 161). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist in der Risikoforschung ungeklärt, ob die Gefährdungspotenziale von Kindern abhängig von der Art der elterlichen Erkrankung unterschiedlich hoch sind. Demnach gibt es an dieser Stelle noch eine wissenschaftliche Lücke. Befunde zeigen jedoch häufig, dass Kinder und Jugendliche von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen am meisten gefährdet sind (vgl. Lenz 2018: 162). Dies lässt sich beispielsweise in der Mannheimer Risikokinderstudie erkennen, in der die Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen und Abhängigkeitserkrankungen die ungünstigsten Entwicklungsverläufe aufzeigten (vgl. Lenz 2017: 324). Zudem haben auch Rutter und Quinton (1984) im Rahmen ihrer Untersuchung festgestellt, dass sich bei Kindern von Eltern mit einer Persönlichkeitsstörung eine erhöhte Rate von Auffälligkeiten erkennen lässt. Außerdem zeigte sich, dass Kinder von Eltern mit einer Angststörung ein bis zu siebenfach erhöhtes Risiko haben, auch an einer Angststörung zu erkranken (vgl. Lenz 2008: 12).

2.1.2 Familiäre Ebene

Nach Textor wirken sich pathogene Familienstrukturen und -prozesse auf alle Familienmitglieder au, da die Familie einen erheblichen Einfluss auf die Lebenswelt jedes einzelnen Angehörigen hat (vgl. Textor 1990: 70). Das bedeutet, dass die elterliche psychische Erkrankung die Lebenssituation aller Individuen in der Familie beeinträchtigt. Die psychische Erkrankung eines Elternteils betrifft somit das ganze Familiensystem und stellt besonders einen Risikofaktor für die Entwicklung der Kinder dar (vgl. Petermann/Wiegand-Grefe 2016: 63). Folglich werden die Paardynamik innerhalb einer Familie sowie die gesamte Familiendynamik als zentrale Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit und Entwicklung der Kinder gesehen (vgl. Wiegand-Grefe/Halverscheid/Plass 2011: 33).

Lenz beschreibt, dass sich Einschränkungen im Erziehungsverhalten von psychisch kranken Eltern auf die elterliche Fürsorge, Betreuung und die Eltern-Kind-Interaktion auswirken. Diese beeinflussen wiederum die Entwicklung der betroffenen Kinder negativ. Die Erziehungsfähigkeit ist in Bezug zu diesem Themenbereich ein zentraler Begriff, da sie die Entwicklung sowie das Bewältigungsverhalten der Kinder und Jugendlichen prägt. Als Erziehungsfähigkeit gilt die Fähigkeit der Eltern, Bedürfnisse des Kindes nach körperlicher Versorgung und Schutz zu erfüllen, dem Kind als stabile und positive Bezugsperson zu dienen, dem Kind Regeln und Werte zu vermitteln und grundlegende Lernchancen zur Verfügung zu stellen (vgl. Lenz 2008: 17). Längsschnittstudien zeigen, dass die Beziehung zwischen elterlicher Erkrankung und kindlicher Belastung wechselseitig ist und einem Teufelskreis entspricht: Die psychische Erkrankung des Elternteils beeinflusst dessen Erziehungsfähigkeit und somit die Erfahrung im Umgang mit dem Kind. Die Belastung durch die elterliche Erkrankung beeinflusst die Lebenswelt des Kindes und begünstigt somit weitere Probleme, die als zusätzliche Belastung für die psychisch erkrankten Eltern wirken. Daraus folgende belastende Interaktionen können ein erhöhtes Risiko für kindeswohlgefährdendes Elternverhalten bedeuten (vgl. Lenz 2017: 327). Es gibt zahlreiche Studien, welche die Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit bei Eltern mit einer psychischen Erkrankung belegen. Untersuchungen der Eltern-Säuglings-Interaktion konnten Einschränkungen der elterlichen Sensitivität feststellen. Depressive und schizophrene Eltern reagierten beispielsweise nicht oder verzögert auf die Signale ihrer Kinder und zeigten ein passives Verhalten (vgl. Lenz 2008: 19). Die Eltern zeigten Einschränkungen, kindliche Signale wahrzunehmen, sie richtig zu verstehen und darauf angemessen zu reagieren. Außerdem wiesen sie Einschränkungen in der Empathie und der emotionalen Verfügbarkeit auf. Psychisch erkrankte Eltern haben Schwierigkeiten, einen emotionalen Austausch mit ihren Kindern herzustellen, um Gefühle wie Sicherheit und Vertrauen vermitteln zu können. Die Kinder entwickeln mit steigender Tendenz unsichere und desorganisierte Bindungsmuster, die das kindliche Risiko für eine psychische Erkrankung erhöhen (vgl. Lenz 2017: 325). Laut Lenz und Wiegand-Grefe entsteht durch die beeinträchtigte Eltern-Kind-Beziehung ein unsicheres Bindungsverhalten der Kinder, das Einfluss auf deren weiteren Entwicklungsprozess nehmen kann. Psychisch kranke Eltern zeigen in der Interaktion mit ihrem Kind weniger Interesse und emotionale Zuneigung. Zudem verhalten sie sich im Kontrast zu psychisch gesunden Eltern distanzierter, reden mit ihrem Kind weniger und neigen zu einem verminderten Blickkontakt. Im Vordergrund steht die Äußerung eigener Gefühle und Belastungen der Eltern. Das passive Verhalten wechselt sich jedoch mit überfürsorglichem und bevormundendem Verhalten ab. Dadurch wird das Verhalten des erkrankten Elternteils unvorhersehbar, sodass die betroffenen Kinder Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung entweder unterdrücken oder aber in einem hohen Maß zu befriedigen versucht werden. Dieses unsichere Bindungsverhalten ist bei Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern oft zu beobachten (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 17f).

Das Familienleben ist von Ängsten, Sorgen und Schuldgefühlen des betroffenen Elternteils geprägt, da es seine Rolle als Mutter bzw. Vater nicht entsprechend erfüllen kann. Diese Gefühle begleiten sie besonders in akuten Krankheitsphasen oder während stationärer Klinikaufenthalte. Lenz erläutert, dass sich Eltern mit einer psychischen Erkrankung meist ihrer begrenzten Erziehungskompetenz bewusst sind. So haben sie Schwierigkeiten, ihren Kindern die notwendige emotionale Zuwendung zu geben und ihnen dadurch ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln. Ergänzend dazu fällt es ihnen schwer, Grenzen zu setzen und sich gegenüber ihren Kindern in vielen Bereichen der Erziehung und der Regeln durchzusetzen. Betroffene Eltern haben in Krisensituationen die Sorge, ihre Kinder zu vernachlässigen oder ihnen körperlich zu schaden. Über Letzteres sorgen sich besonders an einer Psychose erkrankte Eltern, da sie in ihren Verhaltensweisen als eine Gefahr für ihre Kinder sehen (vgl. Lenz 2014: 65).

Die eheliche Beziehung zählt zu einem weiteren wichtigen Belastungsfaktor für Kinder und Jugendliche. Es konnte in Untersuchungen festgestellt werden, dass Ehekonflikte in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil häufig auftreten (vgl. Lenz 2017: 325). Lenz und Wiegand-Grefe erklären, dass eine psychische Störung in der Partnerschaft oft Belastungen für den*die gesunde*n Partner*in verursacht. Auslöser hierfür sind die krankheitsbezogenen Sorgen und Ängste. Im Alltag übernehmen die gesunden Partner*innen oftmals zusätzliche Aufgaben und Verpflichtungen aufgrund der krankheitsbedingten Einschränkungen des*der erkrankten Partner*in. Die Versorgung und Erziehung der Kinder sowie die Aufgaben im Haushalt werden somit überwiegend vom gesunden Elternteil erfüllt. Dessen Überforderung sowie die sich ändernden Bedürfnisse des*der erkrankten Partner*in stoßen aufeinander, was Konflikte in der Beziehung und eine zusätzlich angespannte Atmosphäre in der Familie verursacht. Studien konnten mehrfach zeigen, dass unabhängig von einer psychischen Erkrankung eines Elternteils elterliche Spannungen und Konflikte für die Entwicklung aller Kinder ungünstig sind und in einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer psychischen Störung resultieren. Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern reagieren aufgrund ihrer besonderen Situation mit einer zusätzlichen Verletzlichkeit und empfinden bei elterlichen Konflikten Ängste, Verunsicherung, Traurigkeit, Hilfslosigkeit und Verzweiflung, Schuldgefühle oder auch Aggression und Wut (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 18f).

2.1.3 Kindebene

Lenz macht jedoch darauf aufmerksam, dass Störungen in der kindlichen Entwicklung nicht ausschließlich mit der elterlichen Erkrankung in Verbindung zu setzen sind, da das Kind nicht nur ein passiver Empfänger dieser Belastungen ist. An dieser Stelle ist es auch bedeutsam, wie sich die Auseinandersetzung des Kindes mit den Belastungsfaktoren gestaltet. Dabei ist neben den familiären und sozialen Belastungsfaktoren die Verarbeitung der Situation von der Individualität des Kindes abhängig (vgl. Lenz 2014: 40). Fähigkeiten und Eigenschaften, wie z.B. eine geringe Kommunikationsfähigkeit oder ein vermindertes positives Selbstwertgefühl, wirken sich demnach auch negativ auf die Auseinandersetzung mit den Belastungen aus. Auf der Ebene des Kindes ist es von zentraler Bedeutung, dass sie altersentsprechend über die Krankheit ihrer Eltern aufgeklärt werden. Studien belegen, dass viele Kinder keine Aufklärung über die Erkrankung erhalten (vgl. Wiegand-Grefe 2011: 22). Darüber hinaus bestimmen nach Lenz neben genetischen und biologischen Bedingungen die Intelligenz, soziale und emotionale Kompetenz wie auch das Temperament die Reaktion auf die elterliche Erkrankung. Das Temperament ist ein Verhaltensmuster, das sich gemeinsam mit angeborenen Dispositionen in der Beziehung zur Umwelt entwickelt und für ein Individuum typisch ist. Kinder reagieren demnach abhängig von ihrem Temperament verschieden auf die psychische Erkrankung ihrer Eltern. Kinder mit einem ‚schwierigen Temperament‘ sind schnell gereizt, leicht ablenkbar und unruhig. Sie sind empfänglicher für die Belastungen, die sich aus der elterlichen Erkrankung ergeben. Zudem verstärken sie Erziehungsschwierigkeiten und Ehekonflikte, was gleichzeitig die Eltern-Kind-Interaktion belastet.

Die Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung sind auch abhängig vom Alter und Geschlecht des Kindes. Zwar stellt die elterliche Erkrankung für alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer Altersstufe ein Risiko für ihre Entwicklung dar, doch sind die Auswirkungen bei jüngeren Kindern umfangreicher. Denn Kinder in jungen Altersphasen können sich weniger schützen, da sie über keine ausreichende seelische Stabilität verfügen und verletzlicher sind (vgl. Lenz 2014: 40). Lenz ergänzt, dass zugleich geschlechtsspezifische Unterschiede vorhanden sind. Töchter von depressiv erkrankten Müttern reagieren empfindlicher gegenüber der Erkrankung und haben im Vergleich zu Jungen ein höheres Risiko für die Entwicklung eigener psychischer Störungen. Zusätzlich zeigen sich Geschlechterunterschiede in den einzelnen Lebensphasen. Mädchen sind besonders in der Pubertät emotional verletzlicher, während Jungen im Schulalter anfälliger für die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung sind (vgl. Lenz 2014: 40f).

2.1.4 Psychosoziale Ebene

Lenz erklärt, dass in Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil psychosoziale Belastungen, die auch im Allgemeinen das kindliche Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen begünstigen, überrepräsentiert sind. Die psychische Erkrankung steht in Wechselwirkung mit vielen psychosozialen Belastungsfaktoren. Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern sind unter anderem häufig auch sozioökonomischen und soziokulturellen Belastungen ausgesetzt, wie finanziellen Problemen und Schulden, Armut, Arbeitslosigkeit sowie problematischen Wohnverhältnissen (vgl. Lenz: 2017: 326). Laut Lenz und Wiegand-Grefe leben Familien mit einem psychisch kranken Elternteil oftmals in sozialer Randständigkeit oder Isolation. Die elterliche psychische Erkrankung kann zu Diskriminierung und Stigmatisierung seitens des sozialen Umfeldes führen. Folglich können betroffene Familien verminderte soziale Unterstützung erfahren (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2017: 16). Behla beschreibt, dass die Diagnose einer psychischen Erkrankung gleichzeitig eine Etikettierung verursachen kann. Die Person wird auf ihre Diagnose reduziert, sodass die psychische Erkrankung das soziale Leben und die Sichtweise des Umfeldes stark bestimmt. Familien mit einem psychisch kranken Elternteil erleben demnach neben den Auswirkungen der Krankheit auch Folgen auf ihr psychosoziales Wohlbefinden (vgl. Behla 2008: 19). Wiegand-Grefe, Halverscheid und Plass erklären, dass zu weiteren zentralen psychosozialen Belastungsfaktoren besonders die außerfamiliären Beziehungsfaktoren zählen. Fehlende bzw. mangelnde Unterstützungssysteme seitens des Umfelds von Bekannten oder anderen Bezugspersonen wirken sich belastend auf die Familie aus. Durch die geringe Verfügbarkeit von Bezugspersonen außerhalb der Familie haben die Kinder weniger Chancen, kompensierende und entlastende Beziehungserfahrungen zu sammeln (vgl. Wiegand-Grefe/Halverscheid/Plass 2011: 24). Lenz beschreibt, dass sich Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern aus verschiedenen Gründen nicht an außerfamiliäre Personen wenden. Dazu tragen unter anderem Schuldgefühle und die Angst, den erkrankten Elternteil zu verraten und ihn auf diese Art zusätzlich zu belasten, bei (vgl. Lenz 2017: 326). Untersuchungsbefunde zeigen, dass weitere soziale Faktoren wie die Ablehnung durch Gleichaltrige oder schulische Probleme Folgen für die kindliche Entwicklung haben (vgl. Lenz 2014: 41). Lenz ergänzt, dass die Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung umso negativer sind, je mehr Belastungsquellen bestehen. Die Auswirkungen der einzelnen Belastungen verstärken sich wechselseitig (vgl. Lenz 2017: 327).

2.2 Subjektive Gefühlswelt der betroffenen Kinder

Im Folgenden möchte ich die Ebene der subjektiven Belastungen von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern näher beschreiben, um einen besseren Einblick in ihre Gefühlslage und ihren Umgang mit der elterlichen psychischen Erkrankung im familiären Alltag ermöglichen zu können.

Laut Plass und Wiegand-Grefe nehmen betroffene Kinder die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung besonders im Lebensalltag wahr. So können sie sich nicht auf strukturelle Tagesabläufe verlassen, da diese in Krisensituationen oft nicht gegeben sind. Zudem übernimmt der nicht erkrankte Elternteil vermehrt Aufgaben und Verantwortungen, in die Kinder auch eingebunden werden. Bei Konstellationen mit einem alleinerziehenden erkrankten Elternteil ist die Miteinbindung der Kinder in die Verantwortungsübernahme häufiger. So ändert sich die familiäre Rollenverteilung. Kinder und Jugendliche stellen dabei eigene Bedürfnisse und Wünsche in den Hintergrund, um beispielsweise Aufgaben im Haushalt zu übernehmen (vgl. Plass/Wiegand-Grefe 2012: 27f). Die Rollenumkehr beschreibt den Vorgang der Parentifizierung. Eine Parentifizierung ist nach Lenz bei Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil oft zu beobachten. Dabei wird die Grenze zwischen der elterlichen und kindlichen Rolle unklar und das Familiensystem leidet darunter. Eltern signalisieren primär eigene Bedürfnisse und Wünsche an das Kind, sodass ihm eine große Verantwortung für das familiäre Wohlbefinden zugewiesen wird. Dabei beinhaltet die Parentifizierung die Übernahme von Aufgaben im Haushalt, aber auch die Erfüllung von emotionalen Erwartungen, wie z.B. Unterstützung und Zuneigung gegenüber den Eltern. Oft sind diese Erwartungen nicht an das Alter und die Entwicklung des Kindes angepasst (vgl. Lenz 2017: 325f). Das subjektive Erleben von Kindern und Jugendlichen psychisch kranker Eltern wurde in mehreren Interviewstudien, unter anderem von Lenz, qualitativ analysiert. Die Interviews wurden auch mit Erwachsenen durchgeführt, die in ihrer Kindheit mit einem psychisch erkrankten Elternteil gelebt hatten. Ergebnisse dieser Studien zeigen, dass diese Kinder häufig unter starken emotionalen Belastungen aufwachsen. Sie erleben vermehrt Gefühlszustände wie Schuldgefühle, Angst, Trauer oder Wut. Es stellte sich heraus, dass die stationäre Behandlung eines psychisch erkrankten Elternteils als besonders belastend von den Kindern beschrieben wird und Verlustgefühle und Ängste auslöst. Die Klinikeinweisung des Elternteils ist für viele der betroffenen Kinder ein traumatisches Ereignis. Lenz und Wiegand-Grefe beschreiben, dass sich jedoch gegensätzlich auch Kinder äußerten, die eine solche Klinikeinweisung für sich als entlastend wahrgenommen haben, da eine akute Krankheitsphase den familiären Alltag mit Unsicherheiten belastete (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2017: 4f). Kinder und Jugendliche haben in der Regel nach der Entlassung des erkrankten Elternteils Angst vor einem Rückfall sowie einer Verschlimmerung des Zustandes, sodass sie und weitere Familienmitglieder sich besonders achtsam verhalten. Das hat jedoch zur Folge, dass diese Kinder keine Bedürfnisse äußern, sich im Hintergrund positionieren und jegliche Art von Wünschen unterdrücken (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 23f). Kinder und Jugendliche beobachten die Verhaltensweisen des erkrankten Elternteils, merken sich diese und verhalten sich dementsprechend. So meiden besonders ältere Kinder belastende Alltagsthemen und Probleme, die möglicherweise Auseinandersetzungen auslösen und die Familienatmosphäre negativ beeinträchtigen. Kinder, die über kein Krankheitswissen verfügen bzw. keine kindgerechte Krankheitsaufklärung erhalten, können das Verhalten ihrer Eltern nicht als Auswirkung einer psychischen Störung einordnen und sind verwirrt. Die Desorientierung der betroffenen Kinder und Jugendlichen ist demzufolge auf eine mangelnde Vermittlung von Informationen zurückzuführen (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 22f).

Wenn Kinder und Jugendliche unklares Wissen über die elterliche Erkrankung und die damit verbundenen Auslöser des elterlichen Verhaltens haben, tendieren sie oft zu Schuldgefühlen, so Lenz. Dabei fühlen sich jüngere Kinder oft mitverantwortlich für Symptome sowie Verhaltensweisen, wenn es dem erkrankten Elternteil nicht gut geht. Sie ziehen sich in solchen Momenten in ihr eigenes Zimmer zurück und fragen sich, ob ihr Benehmen die Gefühlslage ihrer Eltern hervorruft. Dagegen haben ältere Kinder und Jugendliche Schuldgefühle nach Abgrenzungs- und Distanzierungsschritten (vgl. Lenz 2008: 34). Lenz und Wiegand-Grefe erklären, dass die Kinder mit einer meist begleitenden aggressiven und ablehnenden Haltung versuchen, sich der elterlichen Erkrankung gegenüber zu distanzieren, jedoch an diesem Versuch scheitern und ihr Handeln nachträglich als ungerecht beurteilen (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 24). Plass und Wiegand-Grefe machen darauf aufmerksam, dass Kinder und Jugendliche auf eine längere elterliche Krankheitsphase mit Depressivität und Hoffnungslosigkeit reagieren. Auch dann bilden sich im weiteren Verlauf Schuldgefühle aus, dem psychisch erkrankten Elternteil nicht helfen und es nicht unterstützen zu können (vgl. Plass/Wiegand-Grefe 2012: 32). Die subjektiven Belastungen spielen nach Lenz und Wiegand-Grefe eine elementare Rolle für das ganzheitliche Familiensystem. Sie bilden die Grundlage bei der Entwicklung und Durchführung von Hilfsangeboten, die sich an dem individuellen Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen orientieren (vgl. Lenz/Wiegand-Grefe 2016: 4). Wiegand-Grefe, Halverscheid und Plass beschreiben, dass trotz der besonderen Belastung, der die Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, nicht alle eine psychische Erkrankung oder Auffälligkeiten in ihrem Verhalten entwickeln. Besondere Resilienzfaktoren dienen als Schutzkomponenten gegenüber den Belastungsfaktoren für die kindliche Entwicklung sowie den Auswirkungen auf das Familienleben (vgl. Wiegand-Grefe/Halverscheid/Plass 2011: 25).

Im nächsten Kapitel soll die Fragestellung beantwortet werden, was Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern stärkt und wie sie durch resilienzfördernde Faktoren vor möglichen Entwicklungsrisiken geschützt werden. Im weiteren Verlauf wird die familiäre Krankheitsbewältigung thematisiert und erörtert, welche Faktoren die Familie stärken.

3 Resilienz als Schutz für betroffene Kinder und Jugendliche

„Not all development is determined by what happens early in life“ (zitiert in Gabriel 2018: 1322).

Das Zitat stammt von den Forschern Werner und Smith, die 1982 im Rahmen der Resilienzforschung durch eine vielbeachtete Längsschnittstudie empirisch belegt haben, dass trotz belastender Lebensumstände und ungünstiger Entwicklungsverläufe Kinder und Jugendliche sich zu gesunden und unauffälligen Erwachsenen entwickeln können (vgl. Gabriel 2018: 1322). Diese Aussage drückt das Grundverständnis der Resilienzforschung aus und weist darauf hin, dass die weitere Lebensgeschichte von Kindern und Jugendlichen psychisch erkrankter Eltern nicht zwangsläufig von der frühen Lebensbelastung bestimmt ist. Nach Schmoranz und Müller kam Bleuler bereits im Jahre 1972 zu ähnlichen Untersuchungsergebnissen. Dieser Psychiater befasste sich als einer der ersten mit den Auswirkungen einer elterlichen psychischen Erkrankung auf Kinder und Jugendliche. Im Rahmen seiner Langzeitstudie untersuchte er die Verläufe von psychischen Erkrankungen in Familien und es zeigte sich, dass drei Viertel der Kinder dieser Familien gesund blieben (vgl. Schmoranz/Müller 2016: 42).

Im Folgendem soll zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff ‚Resilienz‘ zu verstehen ist, um daraufhin einen Einblick in die Untersuchungen der Resilienzforschung zu verschaffen.

3.1 Resilienz

Der Begriff ‚Resilienz‘ stammt von dem lateinischen Wort ‚resilire‘, das ‚abprallen‘ bedeutet (vgl. Plass/Wiegand-Grefe 2012: 69). Resilienz ist ein positiver Gegenbegriff zur Vulnerabilität (Verletzlichkeit). Er beschreibt die Widerstandsfähigkeit gegenüber belastenden Umständen und Lebensereignissen. Untersuchungen der Schutzfaktoren, die Kindern und Jugendlichen helfen, negative Erfahrungen zu bewältigen, ergänzen einen bedeutsamen Forschungsbereich der Risikofaktoren in Sozialisations- und Erziehungsprozessen. Der Begriff ‚Resilienz‘ wird aktuell schrittweise durch den Ausdruck Invulnerabilität ersetzt, mit dem wichtigen Hinweis, dass es eine absolute Unverletzlichkeit nicht gibt (vgl. Gabriel 2018: 1318). Lenz beschreibt, dass Resilienz nicht ausschließlich die Abwesenheit einer psychischen Erkrankung ist, sondern die Fähigkeit, durch vorhandene Schutzfaktoren und Ressourcen belastende Lebensumstände bewältigen zu können. Resiliente Kinder und Jugendliche sind demnach keine vollkommen unverwundbaren Kinder, die alle Belastungen ohne Beschwernis bewältigen können (vgl. Lenz 2014: 150). Darüber hinaus ist Resilienz keine angeborene Persönlichkeitseigenschaft eines Kindes, sondern ein Prozess. Sie entwickelt sich in der Kind-Umwelt-Interaktion. Nach Lenz sind positive Erfahrungen auf verschiedenen Lebensebenen des Kindes ausschlaggebend für die Ausbildung von Resilienz. Zu diesen Lebensebenen gehören neben der Persönlichkeit des Kindes Umweltfaktoren, wie beispielsweise das elterliche Erziehungsverhalten oder Erfahrungen in der Schule (vgl. Lenz 2014: 151). Plass und Wiegand-Grefe bestätigen, dass neben den persönlichen Kompetenzen des Kindes wie Stressverarbeitung und Selbstregulation die Bindung und Interaktion in der Familie bei der Entwicklung von Resilienz eine essenzielle Rolle spielen. Zu den Erfahrungen bezüglich des sozialen Netzwerks gehören auch positive Erfahrungen mit Gleichaltrigen. Ergänzend zu Lenz werden von den beiden Autoren des Weiteren gesellschaftlich-kulturelle Faktoren erwähnt. Demzufolge haben Normen und Werte einen weiteren grundlegenden Einfluss auf den Prozess der Resilienz (vgl. Plass/Wiegand-Grefe 2012: 71). Lenz weist darauf hin, dass Resilienz keine einmalig erworbene Fähigkeit ist, die immer präsent sein wird. Es handelt sich demnach um keine konstante Eigenschaft, die in allen Situationen gleichermaßen eingesetzt werden kann. Während sich Kinder und Jugendliche gegenüber einer Situation äußerst resilient zeigen, können sie in einer anderen Situation ein vulnerables Verhalten aufweisen. In bestimmten Entwicklungsphasen und -übergängen reagieren Kinder und Jugendliche mit einer hohen Verletzlichkeit. Diese sind beispielsweise Übergänge vom Kindergarten in die Schule oder die Adoleszenz mit dem Übergang von der Kindheits- zur Jugendphase. In diesen Phasen müssen sie neue Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen bewältigen und währenddessen können sich die Belastungen sowie Entwicklungsrisiken der Kinder und Jugendlichen durch die elterliche psychische Erkrankung verstärken. Demgemäß kann sich Resilienz über die Zeit und je nach Art der Situation verändern (vgl. Lenz 2014: 151). Werner (2006) führt ähnlich aus, dass die Resilienz vom Lebensabschnitt, persönlichen Merkmalen des Kindes und dem kulturellen Kontext abhängig ist. Kinder und Jugendliche zeigen ein unterschiedliches Maß an Resilienz in verschiedenen Lebensbereichen, sodass der Begriff zur bereichs- oder situationsspezifischen Resilienz erweitert wird. Die Resilienz kann beispielsweise im Bereich des Verhaltens, der Emotionen und im schulischen oder sozialen Bereich unterschiedlich ausgeprägt sein (vgl. Plass/Wiegand-Grefe 2012: 71f). Mit der Resilienzforschung wird ein Perspektivwechsel von der Defizit- zur Ressourcenorientierung vorgenommen. Im Gegensatz zur High-Risk-Forschung, die sich mit den Risiken und Auswirkungen der elterlichen psychischen Erkrankung befasst, rückten Kinder und Jugendliche ins Feld des Interesses, die trotz bestehender Lebensbelastung keine negativen Entwicklungen aufwiesen. Dabei stellte sich die Frage, wie und warum diese Kinder und Jugendlichen psychisch kranker Eltern trotz der vorhandenen Belastungen nicht selbst erkrankten oder auffällig wurden. Sie durchliefen im Vergleich zu den Kindern und Jugendlichen, mit denen sich die High-Risk-Forschung befasste, eine unauffällige Entwicklung. Die Resilienzforschung stellte somit fest, dass Risikokonstellationen nicht unmittelbar zu psychischen Störungen oder Entwicklungsrisiken führen müssen, sondern von der Vulnerabilität oder Resilienz des Kindes abhängen. Dabei deutet die BELLA- Studie darauf hin, dass familiäre Schutzfaktoren die Wahrscheinlichkeit für psychische Störungen und negative Entwicklungsverläufe deutlich vermindern (vgl. Lenz 2017: 328). In medizinisch-psychiatrischen Studien wurden resiliente Kinder und Jugendliche untersucht, die den theoretischen Erwartungen nicht entsprachen. Anthony (1987) untersuchte Kinder psychotischer Eltern und stellte fest, dass 40% entwicklungsbeeinträchtigt, jedoch frei von einem psychiatrischen Krankheitsbild waren. Weitere 10% der Kinder waren völlig frei von Auffälligkeiten und galten als resilient (vgl. Gabriel 2018: 1319).

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Excerpt out of 51 pages

Details

Title
Ansätze familienorientierter Unterstützung für Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern
Subtitle
Resilienzfördernde Schutzfaktoren und Hilfen
College
University of Applied Sciences Frankfurt am Main
Grade
1,3
Author
Year
2020
Pages
51
Catalog Number
V987425
ISBN (eBook)
9783346344700
ISBN (Book)
9783346344717
Language
German
Keywords
ansätze, unterstützung, kinder, jugendliche, eltern, resilienzfördernde, schutzfaktoren, hilfen
Quote paper
Büsra Büyükyilmaz (Author), 2020, Ansätze familienorientierter Unterstützung für Kinder und Jugendliche psychisch kranker Eltern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/987425

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