Elsass und Lothringen

Zwei nationale Minderheiten Frankreichs im Vergleich


Diplomarbeit, 2003

128 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1 Einleitung
1.1. Motivation
1.2. Ziel der Arbeit
1.3. Literaturübersicht
1.4. Aufbau der Arbeit

2 Theoretische Grundlagen
2.1. Die Sprachkontaktforschung
2.2. Bilinguismus
2.3. Diglossie
2.3.1. Soziolinguistische Ansätze
2.3.1.1. Nordamerikanischer Ansatz - die Domäne
2.3.1.2. Katalanischer und okzitanischer Ansatz
2.3.1.3. Ethnolinguistischer Ansatz
2.3.2. Sozialpsychologische Perspektive
2.3.2.1. Die Attitüde
2.3.2.2. Das Stereotyp
2.3.2.3. Die Identität
2.4. Modelle zur Spracherhaltung und -umstellung
2.4.1. Sprachökologische Variablen
2.4.2. Ethnolinguistische Vitalität
2.5. Der Begriff: Minderheit
2.5.1. Staatssprachen, Dialekte und Minderheitensprachen
2.5.2. sprachlich-kulturelle Minderheit, Nationalität und Nation
2.5.3. Vier fundamentale Kriterien für Minderheiten

3 Charakterisierung der allgemeinen Situation in den Untersuchungsgebieten 40
3.1. Dialektale Gliederung
3.1.1. Elsass
3.1.2. Ost-Lothringen
3.2. Historische Grundlagen
3.2.1. Getrennte Wege bis zur Einverleibung durch Frankreich
3.2.1.1. Elsass: Die Zeit bis zum Anschluss an Frankreich
3.2.1.2. Elsass: Die Zeit bis zur Französischen Revolution (1648 – 1789)
3.2.1.3. Lothringen: Die Zeit bis zum Anschluss an Frankreich
3.2.1.4. Lothringen: Die Zeit bis zur Französischen Revolution (1735 – 1789)
3.2.2. Von der Französischen Revolution bis zum Anschluss ans deutsche Reich (1789 – 1870)
3.2.3. Die Zeit beim Deutschen Reich (1870 – 1918)
3.2.4. Die Zwischenkriegszeit (1918 – 1939)
3.2.5. Der 2. Weltkrieg (1940 – 1945)
3.2.6. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg

4 Wissenschaftliche Argumentation
4.1. Methodische Vorgehensweise
4.2. Forschungsfrage und Hypothesen

5 Elsass
5.1. Ethnolinguistische Indikatoren
5.1.1. Status
5.1.2. Demographie
5.1.3. Institutionelle Stützung
5.1.3.1. der offizielle Bereich
5.1.3.2. die Kirche
5.1.3.3. die Medien
5.1.3.4. die Schule
5.1.3.5. Vereine zur Förderung der Regionalsprache und -kultur
5.2. Funktionale Verteilung
5.2.1. Domäne Familie und Freundeskreis
5.2.2. Domäne Öffentlichkeit
5.2.3. Domäne Arbeitsplatz
5.2.4. Domäne Schule
5.2.5. Domäne Mediengebrauch
5.3. Einstellungen zur Minderheitensprache und ihrer Sprecher
5.3.1. Bedeutungen des Elsässischen
5.3.2. Sprecherattitüden
5.3.3. Der Dialekt im Individualbereich
5.3.4. Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Situation

6 Ost-Lothringen
6.1. Ethnolinguistische Indikatoren
6.1.1. Status
6.1.2. Demographie
6.1.3. Institutionelle Stützung
6.1.3.1. der offizielle Bereich
6.1.3.2. die Kirche
6.1.3.3. die Medien
6.1.3.4. die Schule
6.1.3.5. Vereine zur Förderung der Regionalsprache und -kultur
6.2. Funktionale Verteilung
6.2.1. Domäne Familie und Freundeskreis
6.2.2. Domäne Öffentlichkeit
6.2.3. Domäne Arbeitsplatz
6.2.4. Domäne Schule
6.2.5. Domäne Mediengebrauch
6.3. Einstellungen zur Minderheitensprache und ihrer Sprecher
6.3.1. Bedeutungen des Lothringer Platts
6.3.2. Sprecherattitüden
6.3.3. Der Dialekt im Individualbereich
6.3.4. Einschätzung der aktuellen und zukünftigen Situation

Beantwortung der Forschungsfrage – Vergleich der Regionen
7.1. Hypothese 1 – Ethnolinguistische Vitalität
7.2. Hypothese 2 – Funktionale Verteilung
7.3. Hypothese 3 – Stereotype und Attitüden
7.4. abschließende Überlegungen

8 Résumé et conclusion 115

9 Bibliographie

1 Einleitung

1.1. Motivation

Im vierten Semester meines Studiums, dem Sommersemester 2001, hörte ich im linguistischen Seminar Aspekte der Diglossie in Frankreich unter der Leitung von Univ. Prof. Dr. Schjerve-Rindler zum ersten Mal von der problematischen Situation der sprachlichen Minderheiten im französischen Staat. Damals beschäftigte ich mich mit den Stereotypen über und den Attitüden zum Bretonischen und begann mich für das Thema zu interessieren, weil in diesem Fall so viele Aspekte zusammenwirken und die Minderheitenproblematik nicht nur aus sprachwissenschaftlichem Blickwinkel erforschbar ist.

Den Entschluss gerade einen Vergleich zwischen der Situation, dem Stand der Minderheitensprachen, im Elsass und im germanophonen Lothringen durchzuführen, fasste ich aufgrund meiner Freundschaft zu einem Elsässer, der nahe Straßburg aber in einer eher ländlichen Gegend lebt und dessen Vater aus dem Elsass, seine Mutter jedoch aus Lothringen stammen. Im Anhang werde ich ein Email von ihm beilegen, in dem er mir zum ersten Mal von der Regionalsprache erzählt, was insofern interessant ist, als er die Situation aus Sicht der Betroffenen schildert.

1.2. Ziel der Arbeit

Frankreich zählt zu den Ländern Europas mit den meisten sprachlichen Minderheiten, erkennt jedoch keine von ihnen offiziell an, was es für die jeweilige Bevölkerungsgruppe schwierig macht, ihr Recht auf Sprache und Kultur zu leben, weshalb die meisten dieser Regionalsprachen und -kulturen Frankreichs mehr und mehr verfallen.

Bei einem Teil der Minderheiten, die an den Grenzen des Hexagone angesiedelt sind, wird die jeweilige Regionalsprache auch im Nachbarstaat gesprochen, entweder ebenfalls als Sprache einer Minderheit oder wie im Falle meiner beiden Untersuchungsgebiete als Staatssprache. Bekanntlich sind Grenzegebiete meist Konfliktgebiete, einerseits auf politisch-militärischer, andererseits aber auch auf sprachlicher und soziokultureller Ebene. Sowohl das Elsass, als auch der germanophone Teil Lothringens sind schon seit Jahrhunderten beides, denn aus den kriegerischen Auseinandersetzungen um die beiden Gebiete erwuchs den Völkern mit der germanischen Sprache und Kultur, die sich dennoch als Franzosen fühlen, ein identitärer Konflikt, der sich seit 1945 vor allem über sprachliche Belange abspielt.

Ziel dieser Arbeit ist es nun herauszufinden, wie sich die aktuelle Sprachsituation in den beiden Untersuchungsgebieten darstellt und wie es zu deren Entstehen kam, um abschließend einen Vergleich zwischen dem Elsass und Ost-Lothringen anzustellen, zwei Gebieten, die sich aufgrund ihrer Kultur und Geschichte ähneln und sich dennoch, wie sich herausstellen wird, auf so unterschiedliche Weise entwickelten.

1.3. Literaturübersicht

Der theoretische Teil meiner Diplomarbeit besteht aus mehreren Teilen, weshalb ich mich auf Werke aus den verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen stütze. Einen besonders wichtigen Leitfaden stellen Rindler Schjerves Artikel aus dem LRL VII 1998 ebenso wie Kremnitz (1987) dar. Information zum Begriff der Minderheit stammen vor allem von Bochmann (1989) und Allardt (1992).

Was die verwendete Literatur zum empirischen Teil der Arbeit betrifft, so lässt sich zunächst feststellen, dass das germanophone Lothringen weniger erforscht ist, als das Elsass. Ich denke jedoch, dass ich dennoch genügend Material gefunden habe, um einen gültigen Vergleich zu gewährleisten. Bei meiner Beschreibung der elsässischen Situation stütze ich mich vor allem auf die Werke von Douilly (1985), Vassberg (1993), Helfrich (1994) und Bister-Broosen (1998) und zur Bestimmung des Zustands des Lothringer Platts verwendete ich die Studie der ISERCO (1989) sowie die Arbeiten von Posch (1993) und Biegel (1996). Die aktuellen Angaben zur Demographie sowie zum Status der beiden Minderheitengebiete stammen größtenteils von der Homepage der I.N.S.E.E. (http://www.insee.fr).

1.4. Aufbau der Arbeit

Meine Arbeit zum Thema Elsass und Lothringen – zwei nationale Minderheiten Frankreichs im Vergleich gliedert sich grundsätzlich in fünf Teile.

Beginnen werde ich damit die wichtigsten Begriffe des Themas Minderheitenproblematik zu erklären, Bilinguismus und Diglossie, wobei sich im Bereich der Diglossie verschiedene Ansätze bieten, die beiden soziolinguistischen sowie die sozialpsychologische Perspektive. Anschließend beschäftige ich mich mit Modellen zur Spracherhaltung und -umstellung, wie den sprachökologischen Variablen oder der ethnolinguistischen Vitalität sowie dem Begriff der Minderheit.

Der nächste Teil der Arbeit bezieht sich auf die dialektale Gliederung der Untersuchungsgebiete sowie deren Geschichte, um einen Überblick über die allgemeine Situation zu geben.

Im Anschluss daran kommt es zu Formulierung der Forschungsfrage und den Hypothesen, bevor ich das Elsass und den germanophonen Teil Lothringens jeweils anhand ihrer ethnolinguistischen Indikatoren, der funktionalen Verteilung der Minderheitensprache sowie den Attitüden zur Regionalsprache und ihren Sprechern untersuche.

Daraufhin bin ich aufgrund der zuvor erhaltenen Ergebnisse in der Lage die Hypothesen zu verifizieren bzw. falsifizieren und die Forschungsfrage zu beantworten, bevor eine abschließende Zusammenfassung der Arbeit in französischer Sprache folgt.

2 Theoretische Grundlagen

2.1. Die Sprachkontaktforschung

Obwohl mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bilingual ist, hat sich die Sprachwissenschaft lange Zeit nicht mit dem Phänomen der Mehrsprachigkeit auseinandergesetzt. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Sprachkontaktforschung als Teil der Soziolinguistik stetig an Bedeutung gewonnen, da nur wenige staatliche auch mit den sprachlichen Grenzen übereinstimmen und an dieser Vielzahl der Stellen, wo Überschneidungen auftreten, das Untersuchungsfeld dieser Wissenschaft liegt.

Zwar beschäftigte sich die romanische Sprachwissenschaft schon seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert vor allem mit Kontaktphänomenen, jedoch führte die Ideologie der nationalstaatlichen Einsprachigkeit, welche auf der territorialen Einheitsstaatlichkeit sowie dem Sprachzentralismus beruhte, dazu, dass Minderheitensprachen lange Zeit, bis heute, zu Dialekten bzw. patois degradiert und offiziell nicht anerkannt wurden. Erst die Regionalismusbewegungen der 70er Jahre führten zur Beschäftigung mit den Autonomiebestrebungen der ethnischen Minderheiten, auch auf dem Gebiet der linguistischen Forschung.

Begründet wurde die Sprachkontaktforschung im Wesentlichen durch Uriel Weinreich in den 50er Jahren, wobei hauptsächlich der abwechselnde Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen durch ein und dasselbe Individuum, sei es innerhalb einer Gesprächssituation oder in verschiedenen Konversationen, fokussiert wurde. Somit stellt der Ort, an dem Sprachkontakt stattfindet, das Individuum dar.1

Lange Zeit wurde der Wechsel zwischen zwei oder mehreren Sprachen als abnormales Verhalten gewertet und Linguisten, Psychologen sowie Pädagogen nahmen an, dass sich die Mehrsprachigkeit negativ auf die sprachliche Kompetenz sowie die Identitätsfindung der Sprecher auswirkt, da sie sich in keiner Sprache ganze heimisch fühlen könnten. Heute jedoch gilt Bilinguismus als Erfahrungsvorsprung, der von Monolingualen kaum einzuholen sei, wobei eine genaue Analyse nicht vorliegt.

In den letzten Jahren erfuhr der Forschungsbereich eine starke Erweiterung, da Bi- bzw. Multilinguismus heutzutage nicht mehr nur als auf das Individuum beschränkt, sondern auch generell als soziales Phänomen erforscht wird.2

2.2. Bilinguismus

Bilinguismus oder Zweisprachigkeit sind Termini, deren Definition im Laufe der Zeit stark variierte und bis heute nicht eindeutig festlegbar ist, da dieses Phänomen unter vielen Blickwinkeln betrachtet werden kann und jeder Standpunkt eine Wahrheit in sich birgt.

Die wohl polarisierendsten Meinungen stammen von Bloomfield, der Bilinguismus als die vollkommene Kompetenz des Sprechers in beiden Sprachen definiert, und Macnamara, der schon dann von bilingual spricht, wenn der Sprecher in einer der vier sprachlichen Grundfertigkeiten, Lesen, Schreiben, Sprechen und Hören, minimale Fähigkeiten aufweist. Zwischen diesen beiden Polen liegt eine Fülle weiterer Erklärungen, wobei für Haugen Bilinguismus vorherrscht „when the speaker of one language can produce complete meaningful utterances in the other language“3.

Bloomfield steht mit seiner Auffassung von Bilinguismus, als der bloßen Addition einer perfekt erlernten Fremdsprache zur Muttersprache, auch im Gegensatz zu Weinreich, der Zweisprachigkeit, wie schon erwähnt, als die abwechselnde Verwendung zweier Sprachen definiert.

Kremnitz weist darauf hin, dass sich Bilinguismus in erster Linie auf die individuelle sprachliche Kompetenz eines Sprechers bezieht, wobei Kompetenz nur etwas über die Fähigkeiten aussagt, nicht jedoch über das tatsächliche sprachliche Verhalten, welches als Performanz bezeichnet wird.

Unter dem Begriff semi-speaker berücksichtigt Dorian einen weiteren Aspekt des Phänomens, indem für sie jene Person als bilingual gilt, die exzellente kommunikative Fähigkeiten hat, deren produktive Kontrolle über eine Sprache jedoch mangelhaft ist. Das Phänomen der sogenannten Halbsprachigkeit, das der skandinavischen Soziolinguistik entstammt, betrifft also Sprecher, die beide Sprachen unvollständig beherrschen.4

In diesen unterschiedlichen Positionen spiegelt sich eine Vielzahl der theoretischen Richtungen der Sprachwissenschaft unter den verschiedensten Aspekten (psychologischen, sozialen, linguistischen, politischen). Es lässt sich jedoch feststellen, dass frühere Definitionen Zweisprachigkeit auf die vollkommene Kompetenz in zwei Sprachen reduzierten, während neuere Erklärungen der Sprachbeherrschung einen weiter gesteckten Spielraum zugestehen und sich vor allem auf psychologische Gesichtspunkte konzentrieren.

Es gibt nun eine Menge typologischer Dichotomien, um den Begriff zu erklären, wobei ich hier nur auf die grundlegendsten einzugehen gedenke.

Nach dem Grad der Sprachbeherrschung differenziert man zwischen symmetrischer und asymmetrischer Zweisprachigkeit, wobei erstere in der Praxis kaum vorstellbar ist, da sie voraussetzt, dass die Erfahrungen des betroffenen Sprechers in beiden Sprachen deckungsgleich sind. Beim asymmetrischen Bilinguismus muss man wiederum unterscheiden, ob alle vier sprachlichen Grundfertigkeiten in einer Sprache schlechter beherrscht werden, ob eine Teilkompetenz in beiden Sprachen äquivalent ist und eine andere nicht oder schließlich, ob in einer Sprache ohnehin nur eine Teilkompetenz vorhanden ist. Festzustellen bleibt, dass es sich dabei um kein stabiles Profil handelt, da Kompetenzen erworben, aber auch wieder verloren gehen können.5

Weiters kann, je nachdem wie die sprachlichen Einheiten solchen der außersprachlichen Realität zugeordnet werden, zusammengesetzte (compound) von koordinierter (coordinate) Zweisprachigkeit getrennt werden. Im ersten Fall besitzt ein außersprachlicher Referent zwei sprachliche Bezeichnungen, wogegen im zweiten Fall der außersprachliche Referent und die sprachlichen Bezeichnungen getrennt sind.6

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Représentation schématique de la bilingualité composé et coordonné (d’après Ervin & Osgood, 1954) In : Hamers & Blanc, 1983, 23.

Eine weitere Unterscheidung aufgrund der psychologischen Motivation liegt anhand des Begriffspaars instrumenteller und integrativer Bilinguismus vor, wobei in einer instrumentellen Zweisprachigkeit nur die individuellen sprachlichen Fähigkeiten gesteigert werden sollen, während eine integrative dem Sprecher helfen soll, sich in eine neue Gemeinschaft zu integrieren.

Auch die Differenzierung zwischen isoliertem bzw. individuellem und allgemeinem bzw. sozialem Bilinguismus erscheint sinnvoll. Dabei handelt es sich im ersten Fall um ein zweisprachiges Individuum in einer monolingualen Umgebung und im zweiten, um das Merkmal einer ganzen mehrsprachigen Gruppe.

Weiters kann man noch zwischen frühem und spätem Bilinguismus differenzieren, was sich auf Zeitpunkt des Spracherwerbs beschränkt sowie zwischen gesteuertem und ungesteuertem, was sich auf die Art des Spracherwerbs, ob in Bildungseinrichtungen oder durch kommunikatorische Praxis, bezieht.7

Da viele Staaten angeben monolingual zu sein, obwohl sie eine Vielzahl ethnischer Minderheiten beherbergen, deren Muttersprachen nicht denselben offiziellen Status, wie die Nationalsprache innehaben bzw. generell nicht offiziell anerkannt werden, unterscheidet Mackey zwischen de facto und de jure Zweisprachigkeit. Er erklärt sich auf folgende Weise: „[...] there are fewer bilingual people in the bilingual countries than there are in the so-called unilingual countries. For it is not always realized that bilingual countries were created not to promote bilingualism, but to guarantee the maintenance and use of two or more languages in the same nation”.8

Abschließend möchte ich die Definition Tabouret-Kellers zitieren, da diese meines Erachtens die meisten Aspekte miteinschließt: „Unter Bi- oder Multilinguismus sollte man den generellen Fall aller Situationen verstehen, die den zumeist mündlichen und in einigen Fällen schriftlichen Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen durch ein und dasselbe Individuum oder ein und dieselbe Gruppe mit sich bringen .9

Zweisprachigkeit bedeutet also nicht nur die muttersprachähnliche Kompetenz in oder den aktiven und passiven Gebrauch von zwei Sprachen, sondern auch die Fähigkeit diese Sprachen je nach Gesprächssituation und -partner zu variieren.

2.3. Diglossie

Diglossie ist das griechische Gegenstück zum lateinischen Bilinguismus und bedeutet daher ebenfalls Zweisprachigkeit. Der Begriff wurde zum ersten Mal von Emmanuil Roidis und Jean Psichari verwendet, um die Sprachsituation in Griechenland, wo die schriftlich gebrauchte Form Katharevusa der gesprochenen Dimotiki gegenübersteht, zu beschreiben. 1928 definiert Psichari Diglossie auf folgende Weise: „La diglossie porte sur le système grammatical tout entier. Il y a deux façons de décliner, deux façons de conjuguer, deux façons de prononcer ; en un mot, il y a deux langues, la langue parlée et la langue écrite, comme qui dirait l’arabe vulgaire et l’arabe littéral .10

Wirklich bekannt wird der Begriff jedoch erst nach seiner Wiederaufnahme durch Charles Ferguson in seinem Aufsatz Diglossia aus dem Jahre 1959. Er sieht darin eine relativ stabile Sprachsituation, in der sich eine High-Variety und eine Low-Variety ein und derselben Sprache gegenüberstehen. Während die H-Varietät auf formalem Wege erlernt wird, hohes Prestige genießt und die geschriebene Variante darstellt, wird die L-Varietät, die meist rein mündlich existiert und somit nicht kodifiziert ist, auf natürliche Weise erlernt. Weiters ist Ferguson der Ansicht, dass der Gebrauch der H-Varietät und L-Varietät nicht willkürlich erfolgt, sondern, dass die beiden Varianten nach ihren Funktionen, d.h. auf die verschiedenen Kommunikationsbereiche, komplementär verteilt sind; meist eine Varietät für den öffentlichen und eine für den informellen Bereich.

Diglossia is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation. 11

Diese Definition Fergusons wurde nun von den nordamerikanischen Forschern Gumperz und Fishman weiterentwickelt und verändert. Während Gumperz den Begriff auch auf Gesellschaften ausweitet, in denen verschiedene Dialekte, Register oder Ähnliches auftreten, die sich also noch nicht als bilingual bezeichnen würden, lässt Fishman die Bedingung der genetischen Verwandtschaft der beiden Sprachen völlig außer Acht, wodurch es dazu kommt, dass diglossische Formen in faktisch jeder komplexeren Gesellschaft, in der zwei Sprachen mit unterschiedlichen Funktionen verwendet werden, anzutreffen sind. Außerdem ist er der Ansicht, dass der Bilinguismus ein Teilgebiet der Psycholinguistik darstellt, während er die Diglossie der Soziolinguistik zurechnet, womit er die Differenzierung zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit operational macht.12

Seit den 60er Jahren ist dieses Konzept der Diglossie nun nicht mehr aus der Sprachkontaktforschung wegzudenken. Die damit verbundenen Aspekte, wie die komplementäre funktionale Verteilung der H- und L-Varietät und die damit zusammenhängende Hierarchisierung der sprachlichen Bewertung, wobei eine hohes Prestige genießt, während die andere stigmatisiert wird, bilden die Basis für die Untersuchung bilingualer Sprachkontakte auf soziolinguistischer sowie sozialpsychologischer Ebene, welche sich zumeist als eher konfliktuell herausstellten.

Generell lässt sich feststellen, dass sich Sprachkontakt auf drei Ebenen abspielt:

1. In den meisten Fällen äußert er sich in einer für die Minderheitensprache, also die L-Varietät, rückläufigen funktionalen Verteilung, was bedeutet, dass die Minderheitensprache sogar im informellen Bereich immer weniger verwendet und nicht mehr in der Primärsozialisation an die Kinder weitergegeben wird, was mit Sprachwechsel bzw. -tod enden kann.
2. Weiters kommt es im psychischen Bereich der Sprecher der L-Varietät zu Problemen in der Identitätsfindung bzw. -herausbildung und Stigmatisierung, was wiederum Minderwertigkeitskomplexe, Selbstverleugnung und sogar Selbsthass erzeugen kann.
3. Schließlich kommt es, meist dadurch, dass die Minderheitensprache keinen Status genießt, d.h. nicht offiziell anerkannt wird, durch Veränderungen der Sprachstruktur zu Phänomenen wie Sprachwandel, -mischung oder sogar -tod.13

Ich werde mich in meiner Arbeit jedoch nur auf die ersten beiden Ebenen konzentrieren, da eine genaue Bestandsaufnahme aller drei Bereiche, in Theorie sowie Empirie, zu weit führen würde und ich, um mich mit den Veränderungen der Sprachstruktur zu beschäftigen, einen anderen Zugang zur Problematik hätte wählen müssen.

2.3.1. Soziolinguistische Ansätze

Ferguson sowie Fishman waren der Ansicht, dass es sich bei Diglossie um ein nicht-negatives Phänomen handelt, bei dem die beiden Sprachen neutral und statisch auf die verschiedenen Domänen verteilt sind. Diese Annahme entspricht aber nicht der empirischen Wirklichkeit der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit, da die Situation nicht statisch bzw. stabil ist, sondern sich meist zur Monolingualisierung, hauptsächlich auf Kosten der Minderheitensprache, entwickelt. Diglossie stellt also keine natürliche Art von Sprachkontakt dar, sondern spiegelt konfliktuelle Macht- und Dominanzverhältnisse innerhalb einer heterogenen Gesellschaft, in der eine Gruppe einer anderen übergeordnet ist und versucht diese zu adaptieren.

Auf theoretischer Ebene stehen sich zwei polarisierende Konzeptionen gegenüber: Die nordamerikanische, welche Diglossie als statisches, neutrales Nebeneinander zweier Kontaktsprachen definiert sowie die katalanische und als deren Folge die okzitanische, die ihren Blick vor allem auf gesellschaftliche und geschichtliche Machtverhältnisse und den daraus entstehenden Sprachkonflikt legen.14

2.3.1.1. Nordamerikanischer Ansatz - die Domäne

Wie ich schon erwähnt habe, beschreibt Fishman Diglossie als gesellschaftliche Dimension der Zweisprachigkeit und somit als Teil der Soziolinguistik, wobei Bilinguismus, als die individuelle, psycholinguistische Ebene der Zweisprachigkeit, als Gegenüber angeführt wird. In einem weiteren Schritt versuchte er diese beiden Phänomene in einen Kontext zu setzen, wobei er das bekannte Vierfelderschema entwarf:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Relation zwischen Bilingualismus und Diglossie nach Fischman15

Dieses Schema steht zwar nicht unmittelbar in Zusammenhang mit der Entwicklung des Konzepts der Sprachverhaltendomäne, ich möchte mich aber dennoch etwas damit beschäftigen, da es eine große Bedeutung für die Weiterentwicklung des Diglossiebegriffs hatte.

1. Diglossie und Bilingualismus

Das Vorhandensein beider Phänomene, also der stabilen funktionalen Verteilung zweier Varietäten und die bloße Koexistenz der beiden, existiert vor allem in großen Gesellschaften. Beispiele sind die USA, Indien, Paraguay oder die Schweiz

2. Diglossie ohne Bilingualismus

Diese Form herrscht in Ländern vor, in denen die Elite eine H-Varietät spricht und die Volksmassen eine L-Varietät, wobei die, ohnehin eher seltene, Verständigung zwischen beiden Gruppen nur über Dolmetscher verlaufen kann. Dies gilt vor allem für ehemals kolonialisierte Gesellschaften.

Zunächst scheint dieser Typus wenig plausibel, da eine solch strikte Trennung von zwei oder mehreren Sprachen aufgrund der sozialen Stellung schwer nachvollziehbar ist. H. Kloss übt Kritik an dieser Variante, da für ihn die intime Verflechtung der beiden Kontaktsprachen in einer Diglossiesituation gegeben sein muss, was sie in diesem Fall ja nicht wäre. Im Prinzip wird hier nicht nach Funktionen differenziert, sondern die Elite benutzt in allen Domänen die H-Varietät, während der gesamte sprachliche Alltag des Volkes in der L-Varietät stattfindet.

3. Bilingualismus ohne Diglossie

Dieser Typ entsteht bei schnellen gesellschaftlichen Veränderungen oder sozialen Spannungen. Hier wird die Differenz zwischen Bilingualismus und Diglossie besonders deutlicht, da ersterer nach individuellen und sozialen Faktoren in unterschiedlicher Weise auftreten kann, während letztere eine stabile funktionale Verteilung bedeutet. Bilinguales Sprachverhalten wird von der Situation, dem Thema, den Rollen sowie den Kommunikationszielen beeinflusst, weshalb man hierbei nicht im geringsten von Stabilität sprechen kann.

4. Weder Diglossie noch Bilingualismus

Dieses Modell ist kaum anzutreffen, da es sich um Gesellschaften handelt, die keinen Wert auf Kommunikation mit der Außenwelt legen.

Bevor ich mich mit dem Konzept der Sprachverhaltensdomäne beschäftige, möchte ich noch feststellen, dass die Diglossie durch Fishmans Trennung zwischen psycho- und soziolinguistischer Ebene der Zweisprachigkeit vor allem zu einem sozialwissenschaftlichen Phänomen wurde, wodurch oft auf den psychologischen Bereich vergessen wird, dem jedoch eine ebenso große Bedeutung zukommt.16

Die Grundlage des Domänenkonzepts bildet die Annahme, dass die funktionale Verteilung der beiden Kontaktsprachen, welche sich in der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit durch Sprachwechsel ausdrückt, aufgrund der Zuordnung derselben zu verschiedenen Aktivitätsgebieten entsteht. Die beiden Sprachen werden habituell in diesen Bereichen gebraucht und mit ihnen assoziiert, weshalb diese Aktivitätsgebiete auch die Basis der Sprachverhaltensdomänen darstellen.

Laut Fishman sind Domänen Verallgemeinerungen der tatsächlichen sozialen Situation, stehen aber dennoch mit ihr in Relation, was man mit der Domäne Familie, welche einer bestimmten Familie X gegenübersteht, vergleichen kann. Domänen lassen sich mit Institutionen gleichsetzen und können von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden sein, da sie rollentheoretisch begründet sind, was bedeutet, dass sie über sich über die Rollenbeziehungen zwischen den Gesprächsteilnehmern definieren, welche in domänenspezifischen Situationen typisch sind und die Sprachwahl bestimmen. Neben den Rollenbeziehungen spielen noch andere Faktoren, wie Ort, Zeit und Gesprächsthema eine wichtige Rolle für die Codeselektion.

Durch die Domäne sollen also „die größeren institutionellen Rollenkontexte“17 herausgefunden werden, in welche die komplementäre Verteilung der Kontaktsprachen einer diglossischen Gesellschaft einordnet sind.

Dieses Konzept dient des Weiteren dazu die individuelle und unwillkürliche Sprachwahl bilingualer Sprecher in den Kontext der relativ beständigen Gebrauchsmuster einer diglossischen Gesellschaft einzufügen und in diesem Zuge Rückschlüsse auf Stabilität bzw. Instabilität der Kontaktsituation, d.h. in bezug auf Sprachbewahrung oder drohenden Sprachwechsel, zu ziehen.

Der Vorteil des Domänenkonzepts ist, dass es sowohl der soziolinguistischen Mikro- wie auch Makroebene zugerechnet werden kann und somit nicht nur Auskunft über die funktionale Verteilung der Kontaktsprachen und deren Stabilität, sondern auch über das individuelle Sprachverhalten gibt, da die Sprachverhaltensdomäne die Quintessenz aus vielen Einzelinteraktionen darstellt. Hergestellt wird diese Relation zwischen individuellem und gesellschaftlichem Sprachgebrauch durch die Bezugnahme auf ein gesamtgesellschaftlich gültiges Normen- und Wertsystem, das den Sprachgebrauch, in diesem Fall die bilinguale Codeselektion, bestimmt. Dies bedeutet jedoch, dass die Domäne auf globalen Zusammenhängen basiert, und die Sprachgebrauchsmuster vor allem aus übergeordneten Gesellschaftsstrukturen und nicht aus individuellen sprachlichen Interaktionen abgeleitet werden, womit die Registrierung des individuellen Sprachgebrauchs limitiert ist. Mit Hilfe der Domäne können also Aussagen über generelle Trends der zweisprachigen Funktionsdifferenzierung getroffen werden, nicht jedoch über den tatsächlichen Sprachgebrauch der bilingualen Sprecher.

Ermittelbar sind die Domänen einer Gesellschaft über Beobachtung oder direkte Befragung, da jeder Sprecher ein domänenspezifisches Wissen besitzt, das ihm anzeigt welche Sprache in welcher Situation passend ist und wie die Kontaktsprachen bewertet werden. Hat der Forscher die typischen Domänen der Gemeinschaft eruiert, kann er im nächsten Schritt deren interne Relationen, wie Rollenverteilung, Thema und Ort, ausfindig machen. In instabilen Kontaktsituationen, wo aufgrund des unterschiedlichen Sprachgebrauchs unterschiedlicher Sprechergruppen funktionale Überlappungen der Domänen vorliegen, sollte die Befragung gruppenspezifisch durchgeführt werden. Die Ergebnisse können dann so korreliert werden, dass sich feststellen lässt, ob und in welchem Ausmaß eine Sprache in bestimmten Domänen rückläufig ist.

Das Konzept der Sprachverhaltensdomäne wurde zwar oft kritisiert, ist aber insofern sinnvoll, da nicht nur die diglossische Gebrauchsverteilung offengelegt wird, sondern auch Einstellungen und Wertvorstellungen ausgeforscht werden können.18

2.3.1.2. Katalanischer und okzitanischer Ansatz

In Europa fand das Konzept der Diglossie vor allem in jenen Gesellschaften Berücksichtigung, auf die es auch anwendbar ist. Wobei die katalanischen und später auch die okzitanischen Linguisten der statischen Betrachtung der Diglossie aufgrund funktionaler Sprachverhaltensdomänen eine dynamische Konflikttheorie gegenüberstellen. Aracil prägte den Begriff des sprachlichen Konflikts, welcher ein umfassendes Phänomen darstellt, das Hand in Hand mit dem Sprachkontakt geht.

Ein Sprachkonflikt liegt dann vor, wenn zwei deutlich voneinander verschiedene Sprachen sich gegenüberstehen, wobei die eine politisch dominiert (im staatlichen und öffentlichen Gebrauch) und die andere politisch unterworfen ist. Die Formen der Dominanz sind vielfältig und gehen von den eindeutig repressiven [...] bis zu den politisch toleranten, deren repressive Kraft vor allem ideologischer Natur ist [...]. Ein Sprachkonflikt kann latent oder akut sein, je nach den sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten der Gesellschaft, in der er auftritt.19

Entstanden sind die katalanische sowie die okzitanische Soziolinguistik in den 60er und 70er Jahren, aufgrund der politischen Situation (Franco-Regime, Regionalismus), in der sie sich die Minderheiten jeweils befanden. Die Grundannahme ist, dass Sprachkontakt immer auch Sprachkonflikt bedeutet, wobei die neutrale Koexistenz der beiden Codes im nordamerikanischen Ansatz, durch die Hierarchisierung zwischen einer dominanten und einer dominierten Sprache ersetzt wird.

Weiters ist die katalanische Soziolinguistik der Ansicht, dass alle Verlagerungen im Sprachgebrauch nur in zwei Richtungen verlaufen: in der einer Substitution, d.h. der gänzlichen Durchsetzung der dominanten Sprache, oder einer Normalisierung, d.h. der schließlichen Behauptung der dominierten Sprache. Sprachkonflikt kann Diglossie bedeuten, d.h. es kann dazu kommen, dass die beiden Kontaktsprachen miteinander konkurrieren, die Endpunkte des Sprachkontakts stellen jedoch immer Substitution bzw. Normalisierung dar, was das folgende Schema20 zeigen soll:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Da die dominante Sprache gewöhnlich auch das Idiom der sozial und politisch herrschenden Gruppe ist, muss die Normalisierung mit einem Wechsel oder zumindest einer Modifizierung des Kräfteverhältnisses in der betroffenen Gesellschaft einhergehen. Die Substitution jedoch kommt einer vollkommenen Akkulturation der gesamten Bevölkerung an bestehende gesellschaftliche Organisationsformen gleich.

In den letzten Jahrzehnten scheinen sich die diglossischen Gesellschaften Europas zunächst rascher in Richtung einer Substitution zu entwickeln, was vermutlich an der zunehmenden globalen Öffnung der Gesellschaft liegt. Um einen individuellen Aufstieg zu vollziehen, ist eine völlige Assimilation an die herrschenden Normen unumgänglich. Denn erst wenn ein Großteil der Mitglieder der dominierten Gruppe sich sprachlich sowie kulturell an die dominante angepasst hat, kann die Überwindung dieser Akkulturation angestrebt werden und Gegenmodelle vorgeschlagen werden.

Die katalanische Soziolinguistik versucht die repressiven diglossischen Ideologien aufzudecken, welche den Sprachkonflikt zu verschleiern suchen und gleichzeitig dazu dienen, die Substitution und die Akkulturation der dominierten Gruppe zu rechtfertigen. Aracil ist der Ansicht, dass Bilinguismus nicht für die Lösung des Sprachkonflikts steht, sondern für seine Aufhebung in einer natürlich gegebenen soziolinguistischen Ordnung.21

Weitere wichtige Begriffe der katalanischen Soziolinguistik, die dem sozialpsychologischen Bereich entstammen, sind der soziale Status der Sprecher sowie das Prestige, also der fiktive Status. Durch die Hoffnung auf Prestigegewinn gehen viele Minderheitensprecher zum Gebrauch der dominanten Sprache über. Ein solcher Sprachwechsel stellt ein kompensatorisches Verhalten dar, das vor allem in sozialen Gruppen zu beobachten ist, die besonders stark vom Konflikt betroffen sind. Ninyoles22 fasst für diese Auswirkungen der Diglossie auf das Individuum, also die Assimilation an die dominante Sprache und Kultur durch Nachahmung und die gleichzeitige Ablehnung und Verleugnung der ursprünglichen Identität, unter dem Begriff Selbsthass zusammen. Dieser entspricht grundsätzlich dem Prinzip der aliénation linguistique des okzitanischen Linguisten Lafont23, welches die Abwertung der Ethnosprache durch ihre eigenen Sprecher behandelt. Dieser Vorgang wird dadurch gerechtfertigt, dass die Minderheitensprache in den Augen ihrer Sprecher nicht mehr den Anforderungen der modernen Kommunikation, also wissenschaftlichen und technischen, vor allem jedoch prestigebesetzten Themen, entspräche, und zwar aufgrund ihres Verfalls sowie ihrer dialektalen Aufsplitterung. Im Gegenzug wird die dominierte Sprache als besonders geeignet für den informellen Bereich dargestellt. Dieser Prozess der sprachlichen Ideologiebildung wird als Patoisierung bezeichnet, obwohl dieser Begriff heutzutage aufgrund seiner starken Konnotationen eher gemieden wird.

Da sich das oben genannte Vierfelderschema Fishmans sowohl für die okzitanische als auch die katalanische diglossische Wirklichkeit als zu wenig dynamisch herausstellt, entwickelt Lafont den Begriff der fonctionnements diglossiques, welcher die vermeintliche Einheit der Diglossie in die unendliche Fülle der einzelnen Kommunikationsakte zergliedert. Die diglossischen Funktionsweisen offenbaren die diglossischen Strategien, welche sich im tatsächlichen Sprachgebrauch ausdrücken und aus der von den Sprechern jeweils anderen Bewertung der situationsbestimmenden Variablen resultieren. Auf diese Weise ist es möglich gegensätzliche Taktiken des individuellen Sprachgebrauchs zu begründen, die einzelnen Situationsdefinitionen jedoch gleichzeitig auf dem Hintergrund gemeinsamer Normen, an welchen sich das Sprachverhalten kollektiv ausrichtet, zu sehen. Diglossie lässt sich in diesem Fall, aufgegliedert in die einzelnen Kommunikationsakte, als Summe der diglossischen Funktionsweisen beschreiben.24

Aus diesem sich verändernden Verhalten lassen sich Interferenzerscheinungen deduzieren, sodass die okzitanische Soziolinguistik das Vorhandensein sprachlicher Übergangsformen annimmt und als Beispiel das francitan als sprachliches Kontinuum zwischen französisch und okzitanisch nennt.

Der Fortschritt der Konfliktperspektive liegt, im Gegensatz zum nordamerikanischen Ansatz, in der Kontextualisierung der diglossischen Phänomene in die sozialen und geschichtlichen Hintergründe einer zweisprachigen Sprachgemeinschaft, wodurch sich allgemeine Perspektiven der gesellschaftlichen Zweisprachigkeit besser verstehen und erläutern lassen. Die methodische Umsetzung dieser Konzeption in operationale Kategorien ist jedoch leider noch nicht geschehen.25

2.3.1.3. Ethnolinguistischer Ansatz

Diese Konzeption beschäftigt sich mit dem individuellen Verhalten der Sprecher in tatsächlichen Kommunikationssituationen, in denen die bilingualen Sprecher die beiden Kontaktsprachen je nach Situation und sozialen Erfordernissen abwechselnd einsetzen. Die Sprachwahl wird hier nicht von einem vorgegebenen Variabelinventar, wie beispielsweise bei der Domäne, abgeleitet, sondern über die jeweiligen Bedingungen der bestimmten Gesprächssituation erschlossen. Als zentraler Begriff gilt in diesem Zusammenhang die Sprachgemeinschaft, die es ihren Mitgliedern, aufgrund eines kollektiven linguistischen Bestands und gemeinsamer kommunikativer Normen, ermöglicht, in der jeweiligen Situation kommunikativ passend zu reagieren. Weiters erlaubt diese Kompetenz den Interaktionsteilnehmern die produzierten sozialen Erfahrungen zu beurteilen und das Repertoire des sprachlichen Wissens entsprechend den situativen Anforderungen bzw. Interpretationen abzuändern, d.h. die Sprecher interpretieren die Aktionen anderer in der jeweiligen Situation und orientieren ihre eigenen Handlungen danach. Die kommunikative Kompetenz bietet somit Kriterien für die Sprachwahl und Interaktionstaktiken, die dem Individuum helfen seine Rollenbeziehungen zu errichten. Dabei ist zu beachten, dass die Sprecher nicht automatisch reagieren, sondern aufgrund ihrer Interpretation der jeweiligen Situation.

Methodologisch umgesetzt wird die ethnolinguistische Konzeption vor allem in diversen Netzwerkmodellen, welche auf der Ansicht basieren, dass sich sozial interagierende Individuen ihre persönliche Gemeinschaft schaffen, die wiederum in größere soziale, ökonomische und politische Kollektive integriert sind. Netzwerke bestehen vor dem Hintergrund bestimmter Rollenbeziehungen und gemeinsamer Hauptinteraktionen, wobei ähnliche, in Interaktionen gesammelte Erfahrungen zur Entstehung linguistischer Konventionen führen. Wichtig ist dabei außerdem die Verankerung des Sprechers im jeweiligen Netzwerk, welche nur feststellbar ist, indem der Forscher die Zahl der Interaktionen eines Sprechers mit anderen ermittelt. Außerdem muss der Forscher auch auf Statussymbole des Sprechers achten, da diese ebenfalls Merkmale der Zugehörigkeit zum Netzwerk darstellen können.

Grundlegend wird zwischen zwei Arten von Netzwerken unterschieden, den geschlossenen, welche regionale Traditionen hochhalten, eine geringe soziale Mobilität vorweisen und zur Bewahrung der Ethnosprache beitragen sowie die offenen, in denen die soziale Mobilität hoch ist, der Normendruck zum Gebrauch der Minderheitensprache jedoch gering, was in Richtung Sprachwechsel führt. Es lässt sich also sagen, dass das Netzwerk eines Sprechers umso geschlossener ist, je mehr Kontakt dieser mit in das Netzwerk integrierten Personen hat, wodurch er sich dem Normendruck dieses Netzwerks umso mehr aussetzt.

Weiters lässt sich aus der sprachlichen Netzwerkanalyse die Hypothese deduzieren, dass der Sprachgebrauch und in zweisprachigen Netzwerken die Sprachwahl eine bedeutsame Komponente der Selbstdarstellung bzw. der sozialen Identität bilden. Daraus, dass der Sprachgebrauch die Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe anzeigt, erklärt sich auch, warum oft trotz großem Anpassungsdruck die Minderheitensprache als Symbol der Abgrenzung beibehalten wird. So gesehen können Netzwerkanalysen auch zur Erforschung des sozialpsychologischen Bereichs herangezogen werden.26

2.3.2. Sozialpsychologische Perspektive

2.3.2.1. Die Attitüde

Nicht nur die objektiven Bedingungen des bilingualen Sprachgebrauchs, sondern auch die subjektiven Bewertungen der Sprachen selbst spielen eine wichtige Rolle für die Bestimmung des Status, der sozialen Macht der in Kontakt stehenden Gruppen, welche sich wiederum in den Differenzen der funktionalen Verteilung bemerkbar macht.

Es wird angenommen, dass diese subjektiven Bewertungen sich von allgemeinen Ansichten, welche über die Sprachen vorherrschen, herleiten und in Einstellungen zu Ausdruck kommen. Diese Einstellungen, die sogenannten Attitüden, lenken das Sprachverhalten, d.h. sie können zum Verlust oder zur Bewahrung einer Sprache führen.

Wissenschaftlich gibt es zwei Konzeptionen des Attitüdenbegriffs, eine mentalistische, welche die Attitüde als „Gesamtheit der Dispositionen eines Individuums gegenüber einem Objekt“27 beschreibt, welche sich sowohl auf der kognitiven als auch auf der affektiven sowie intentionalen Ebene äußern und somit das Verhalten steuern. Die 3 Ebenen der Attitüde prägen sich auf folgende Weise aus:

- die mentale Repräsentation im Kopf (kognitiv)
- die Ausprägung der Einstellung als Reaktion (affektiv)
- die Reaktion, die in einer Handlung gesetzt wird (intentional)

Weiters gibt es die behavioristische Konzeption, die Attitüde als Reaktion auf einen Reiz definiert, welche im aktiven Verhalten messbar ist.

Daraus leiten sich nun zwei Methoden ab: Während die mentalistische Definition der Meinung ist, dass Attitüden nur indirekt messbar sind, geht die behavioristische Konzeption davon aus, dass es möglich ist Attitüden als verbale Äußerungen direkt in Tests zu messen. Im direkten Verfahren ist der Testperson das Ziel des Tests bekannt, im indirekten dagegen nicht.

Derzeit gibt es vor allem zwei Verfahren, durch welche die jeweiligen Vorurteile einer Gruppe mit Hilfe allgemein bekannter Stereotypen zu ermitteln versucht werden. Bei der „ matched guise “ Technik spricht ein kompetenter zweisprachiger Sprecher Textproben in beiden Sprachen auf ein Tonband. Die Untersuchungspersonen, welche sowohl aus der einen, wie auch der anderen Sprachgruppe stammen, werden in dem Glauben belassen, es handle sich um zwei Personen und müssen nun den vermeintlichen Sprechern nach verschiedenen Kriterien beurteilen. So kann man die stereotypen Haltungen erfassen, wobei die dominante Sprache von allen Testanden weitaus positiver bewertet wird als die Minderheitensprache, selbst von deren Sprechern.

Das semantische Differential funktioniert ähnlich, da die Untersuchungspersonen ebenfalls einen sprachlichen Stimulus erhalten, dem sie auf einer zweiteiligen Skala, welche mit den jeweils gegensätzlichen Adjektiven besetzt ist, Eigenschaften zuordnen müssen, wodurch seine konnotative Bedeutung gemessen werden kann.

Anzumerken ist, dass trotz des Erfolges der Attitüdenforschung, das derzeitige Wissen über die kognitiven Phänomene noch sehr unvollständig ist und deshalb keine Schlüsse über die Abläufe zwischen der Wahrnehmung eines Stimulus und der Interferenz des Beurteilers gezogen werden können. Die derzeitigen Einstellungsmessungen arbeiten nur mit kausalen Zuordnungen, d.h. die Sprecher reagieren auf einen Reiz, wie eine Sprachprobe oder einen Text, mit allgemein verbreiteten Meinungen und geben auf diese Art nur stereotype Haltungen wieder, die mit den tatsächlichen Handlungen des Sprechers nicht identisch sein müssen.

Die Hypothese, dass Attitüden kognitive Repräsentationen der sozialen Realität des Sprechers sind, impliziert, dass diese Abbildungen nur erschlossen werden können, wenn man weiß, wie der Einzelne oder die Gruppe seine bzw. ihre soziale Umwelt wahrnimmt.28

2.3.2.2. Das Stereotyp

Eingeführt in die moderne Sozialpsychologie wurde der Begriff des Stereotyps durch Walter Lippmann, welcher ihn jedoch noch sehr unscharf verwendete. Er definiert ihn als System von Einstellungen, Meinungen und Überzeugungen. Lippmann ist der Auffassung, dass Stereotype, Modelle und Formeln eine wichtige Rolle im Aufbau unserer geistigen Welt spielen, da wir uns Vieles vorstellen, bevor wir konkrete Erfahrungen machen. Diese vorgefassten Meinungen, die sich eng an die Kategorisierungen der Umwelt durch unsere Kultur anlehnen, beherrschen unsere Wahrnehmung.

Später entwickelte sich ein engerer Begriff, der sich vor allem auf die Typisierung von Menschen und Gruppen bezieht. Als besondere Eigenschaften werden dem Stereotyp die vereinfachende und verallgemeinernde Natur, die große Starrheit, sowie die wertend-emotionale Komponente zugeschrieben.29

Laut Peter Hofstätter lenken Stereotype den Menschen im doppelten Sinn: Einerseits ruft die normative Erwartungshaltung einer Person die voreilige Beurteilung anderer hervor, die als Mitglieder gewisser Gruppen bestimmte Eigenschaften haben müssen. Andererseits werden die Rollenträger durch die Stereotype gezwungen sich dem Rollenbild anzupassen. Dieser Zwang beginnt schon in der Primärsozialisation.

Wir sehen die Mitglieder bestimmter Gruppen oft sehr stereotyp, nämlich so als ob sie alle in wesentlichen Punkten einander gleich wären. Wir bilden solche Stereotype in bezug auf die Gruppen, denen wir uns selbst nicht zugehörig fühlen, die sogenannten Hetero-Stereotype, aber auch bezüglich unserer eigenen Gruppen, welche als Auto-Stereotype bezeichnet werden.

In der Ähnlichkeitskorrelation zwischen Auto- und Hetero-Stereotypen, ergo Selbst- und Fremdbildern, liegt laut Hofstätter der Grund für gegenseitiges Verstehen oder einen Konflikt.30

Nun möchte ich auf die sprachlichen Aspekte des Stereotypenproblems zu sprechen kommen, da wir ohne Worte kaum in der Lage wären, Kategorien zu bilden, ohne welche wir nicht die Möglichkeit der Verallgemeinerung hätten.

Die Relation zwischen Sprache und gesellschaftlichem Handeln basiert auf zwei Grundthesen:

- Der These von der Ungleichheit zwischen Wörtern und Dingen sowie
- dem Lehrsatz von der Unvollkommenheit, mit der reale Gegenstände durch sprachliche Zeichen dargestellt werden

Schaff versucht zu beweisen, dass Sprache Einfluss auf unser Denken ausübt und behauptet, dass das sprachliche Zeichen nicht nur mit dem Begriff, sondern auch mit dem Stereotyp eng in Zusammenhang steht, da beide eine verallgemeinernde Widerspiegelung der Realität darstellen und mit dem Wort eine organische Ganzheit ausmachen. Weiters erhalten wir sowohl den Begriff als auch das Stereotyp durch die gesellschaftliche Erziehung.

Schaff meint, dass die beiden Aspekte schwer von einander abzugrenzen sind, da sie sich stark ähneln, er liefert jedoch folgende Definition:

Wir sprechen dann von einem Stereotyp, wenn unsere Emotionen, Werturteile und Haltungen im Sinn der Bereitschaft zu entsprechendem Handeln nicht eine Reaktion auf eigene diesbezügliche Erfahrungen sind, sondern auf einen Wort-Namen, der in uns diese Empfindungen, Urteile und Haltungen hervorruft31.

Das menschliche Handeln stützt sich auf bestimmte Motive, welche durch kognitiv-emotionale Faktoren definiert werden, derer sich der Einzelne in den meisten Fällen nicht bewusst ist. Zu diesen Faktoren zählen das vom Individuum verinnerlichte Wertsystem, sowie die sozial weitergegeben Denkschemata und Stereotypen, welche eine große Rolle bei der Herausbildung vorgefasster Meinungen, Phobien und Vorlieben spielen.

Daher stellt das Stereotyp ein Fundament des menschlichen Handelns dar und erfüllt einige Aufgaben, auf die ich nun zu sprechen kommen möchte:

1. die Abwehrfunktion: In Konfliktsituationen, wenn die Überzeugungen eines Menschen bezüglich bestimmter Probleme, meist gesellschaftlicher Natur, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen und es nicht möglich ist die den Überzeugungen widersprechende Realität abzuändern, wird ein psychologischer Abwehrmechanismus eingesetzt, der es dem Menschen ermöglicht sich auf etwas zu berufen, um sich verteidigen zu können. Dazu sind Stereotypen gut geeignet, da sie ein relativ unwandelbares Wissen darstellen.
2. die sozialintegrative Funktion: Die Einteilung der Menschheit in ein „Wir“ und in „Fremde“ basiert auf der Geschlossenheit der eigenen Gruppe, welche durch die Verinnerlichung der in der Gruppe geltenden Wertvorstellungen und Verhaltensnormen seitens aller Mitglieder erlangt wird.
3. die Funktion der Ideologienbildung: Zwischen Ideologie und Stereotypen besteht eine Art Wechselwirkung. Während das stereotype Denken die Abwehrfunktion der Ideologie verstärkt, begünstigt das ideologische Denken die Entstehung und Festigung der Stereotypen.
4. die politische Funktion: Politik muss, um erfolgreich zu sein, die Massen ansprechen, sie zu der Ansicht bringen, dass für eine gute Sache eingetreten wird und sich die positive Einstellung der Menschen sichern, indem man sie gegen jede fremde Ideologie immun macht.32

Schließlich möchte ich auf die Relation zwischen Vorurteil und Stereotyp zu sprechen kommen, wobei sich Vorurteile als negative oder ablehnende Einstellungen gegenüber einem Individuum oder einer Gruppe von Menschen, denen aufgrund stereotyper Vorstellungen von vornherein gewisse Eigenschaften zugeschrieben werden, die nicht der Realität entsprechen müssen, definieren lassen. Weiters versteht man unter Vorurteilen Fehlurteile oder vorgefasste Meinungen, an denen trotz gegenteiliger Information festgehalten wird.

Die Beziehung zwischen Vorurteil und Stereotyp ist meines Erachtens deshalb so interessant, weil manche Autoren die beiden Begriffe synonym verwenden, andere sie jedoch unterscheiden. Wie bereits erwähnt gilt das Vorurteil als Art der Einstellung, welche sich gegen soziale Gruppen richtet. Äußern kann sich ein Vorurteil auf verschiedenste Weise. Auf der Ebene des Redens, als der schwächsten Form, kommt es zur Verunglimpfung anderer Gruppen, auf der Ebene des Handelns kann es zu Diskriminierung oder sogar Gewaltanwendung führen. Ihren sprachlichen Ausdruck finden Vorurteile in verbalen Stereotypen.

Kommen wir nun zu weiteren Eigenschaften des Stereotyps: Das Eigeninteresse des Bezugsobjekts eines Stereotyps an der Stereotypisierung ist keine Voraussetzung. Weiters bildet das Stereotyp nicht primär einen Teil der öffentlichen Meinung, sondern gehört zum Gedankensystem des Individuums. Es bleibt außerdem anzumerken, dass sich die Überzeugung, sowie die Einstellung, die als Bezeichnung für Bewusstseinsinhalte und Dispositionen definiert werden können, sowohl inhaltlich als auch funktionell vom Stereotyp unterscheiden. Die Einstellung ist eine allgemeine Haltung zwischen Abneigung und Sympathie, die Überzeugung erkennt einem Objekt Eigenschaften ab oder zu und das Vorurteil vereinigt diese beiden Kategorien in sich. Die Überzeugung äußert sich verbal im Stereotyp. Wichtig bei der Funktionsbestimmung des Stereotyps ist, dass es sich um kollektive Bewusstseinsinhalte handelt.33

Uta Quasthoff, die sich intensiv mit dem Begriff Stereotyp beschäftigt hat, definiert ihn schließlich auf folgende Weise:

Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen, als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Verhaltensweisen zu- oder abspricht. Linguistisch ist es als Satz beschreibbar.34

2.3.2.3. Die Identität

Da sich, wie schon erwähnt, eine Diglossiesituation meist in Richtung Einsprachigkeit entwickelt und immer ein Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppen besteht, kommt es zur Stigmatisierung der Sprecher der Minderheitensprache. Diese werden durch dieses Stigma in ihrer Identitätsentwicklung gestört und tendieren immer mehr zur dominanten Sprache.

Die Identität hat verschiedenste Funktionen: Sie ist einerseits ein Unterscheidungsmerkmal und andererseits bildet sie sich erst durch Kategorisierungen und Vergleiche mit anderen heraus. Die Identität dient weiters zur Selbstkategorisierung, man übernimmt aber auch Rollen von anderen, zum Beispiel eignet man sich während der Primärsozialisation die Netzwerke der Eltern, während der Sekundärsozialisation die Netzwerke der Schule an. Diese sind wiederum mit Normen und Wertvorstellungen der Gruppe versehen.

Das Kind übernimmt folglich ein Rollenbündel, internalisiert die damit verbundenen Normen und orientiert sich daran, was bedeutet, dass diese Rollen die Grundlage seines Handelns darstellen. Auf dieser Basis entsteht eine Identität, die im Laufe des Lebens durch immer mehr Rollenanteile erweitert wird. Man kann eine Rolle folglich als Teilidentität definieren. Jeder Mensch besitzt multiple Identitäten und wechselt diese im Laufe seines Lebens.

Die Identität lässt sich schließlich als Nachahmung von Verhaltensweisen, als komplexer Entwicklungsprozess, in dem man sich mit Rollen, Werten und Normen identifiziert, beschreiben.

Umgelegt auf die Sprache, entsteht folgendes Szenario: Ein Kind, das im Minderheitenkontext primärsozialisiert wurde, erlebt in der Sekundärsozialisation einen Schock. Besonders in den 60er Jahren gingen die Eltern daraufhin dazu über ihre Kinder in der dominanten Sprache zu erziehen, obwohl sie diese selbst nicht perfekt beherrschten. Man kann also von einer schizophrenen Erziehung sprechen, da die Kinder im kulturellen Minderheiten-, aber im sprachlichen Mehrheitenkontext aufwuchsen. Durch diesen Zwiespalt und die mindere Einschätzung der Minderheitenkultur bilden die Kinder eine negative Identität heraus, was bedeutet, dass sie die dominante Kultur annehmen wollen.

Nach Ninyoles gibt es nun 3 Arten mit einer bilingualen Situation umzugehen:

1. Man lehnt die eigene Gruppe ab und wechselt zur dominanten über. Für die Minderheitensprachen, in meinem Fall Elsässisch und Lothringisch, bedeutet das, dass einander Tradition - Moderne, Vergangenheit - Gegenwart/Zukunft, sowie Rückständigkeit - Fortschritt gegenübergestellt werden.
2. Die Bindung zur eigenen Gruppe wird verstärkt und die dominante wird abgelehnt. Diejenigen Elsässer und Lothringer, welche für diese Gruppe bezeichnend sind, da sie ihre Kultur bewusst leben und zum Ausdruck bringen, stellen eine Minderheit in der Minderheit dar.
3. Die dritte Möglichkeit auf eine zweisprachige Situation zu reagieren, ist in völlige Apathie zu verfallen und den Konflikt einfach zu leugnen. Diese Menschen behaupten man könne beiden Gruppen angehören; in Wirklichkeit haben sie sich jedoch schon der dominanten Gruppe zugewandt. Doch das Schuldgefühl, welches durch die Aufgabe der eigenen Kultur hervorgerufen wird, veranlasst diese Menschen dazu den Konflikt zu leugnen und sich für keine der beiden Gruppen entscheiden zu können, obwohl die Entscheidung durch den äußeren Konflikt schon längst gefällt wurde.35

Die Aspekte der Ethnizität und der Identität sind eng verknüpft mit den Spracheinstellungen. Die Relation von Sprache und Identität äußert sich oft dadurch, dass die Sprache als Symbol der Gruppenzugehörigkeit oder als Identifikationsmerkmal dient. Der Prozess der Einbindung in eine Gruppe ist häufig an eine Sprache gebunden, „denn über sie verfestigen sich die Erfahrungen des Kollektivs mit der Welt und ihren Zusammenhängen“36. Während der Primärsozialisation eignet sich der Einzelne seine kulturelle Rolle an, d.h. er erlernt über sprachlich vermittelte Normen und Wertungen die kulturellen Techniken, sowie den Umgang mit kulturellen Symbolen. Eigentlich bildet die Sprache nur ein Element der individuellen Identität; wird sie jedoch zum Kernelement der ethnischen Gruppenbindung, so kann sie als Symbol der Ethnizität dienen.

Durch diese identitätsmarkierende Funktion der Sprache kann nun erklärt werden, warum prestigearme und sozial rückläufige Sprachen trotzdem bewahrt werden.37

2.4. Modelle zur Spracherhaltung und -umstellung

Es gibt eine Fülle von Modellen, die der Vorherbestimmung von Spracherhaltung und Sprachumstellungsprozessen dienen, im Wesentlichen jedoch einer taxonomischen Aufzählung unterschiedlicher sprachökologischer Faktoren gleichen.

2.4.1. sprachökologische Faktoren

Haugen entwickelte den Begriff Sprachökologie und definierte ihn als „the study of interactions between any given language and its environment“38. Er kritisiert, dass sich linguistischen Arbeiten bisher bloß auf das System konzentrierten und den Status und die funktionale Verteilung von Sprachen völlig außer Acht ließen.

Most language descriptions are prefaced by a brief and perfunctory statement concerning the number and location of its speakers and something of their history. Rarely does such a description really tell the reader what he ought to know about the social status and function of the language in question. Linguists have generally been too eager to get on with the phonology, grammar and lexicon to pay more than superficial attention to what I would call the ´ecology of language`.39

Haugen entwickelt nun ein sprachökologisches Modell, das anhand von zehn Aspekten (Sprachklassifizierung, -benutzer, -domänen, -kompetenz, -varietäten, Schriftkultur, Standardisierung, Institutionelle Unterstützung, Sprechereinstellungen sowie Relation zu anderen Sprachen) auf den Status und die Funktionen der Sprache eingeht und setzt diese in Relation zu einzelnen Disziplinen der Sprachwissenschaft. Dieses Modell stellte einen ersten Versuch sprachökologische Variablen zu identifizieren und analysieren dar, seine praktische Anwendung ist jedoch problematisch, da die Hypothesen zu allgemein gehalten sind.

Haarmann, der Sprachökologie, als das „Studium der sozialen Existenzbedingungen und Organisationsformen natürlicher Sprachen und der sie tragenden Sprechergruppen in multiethnischen Kontaktregionen“40 definiert, liefert eine ausführlichere taxonomische Auflistung sprachökologischer Variablen. Das Ziel seiner Analyse ist es, die spezifischen Wirkungsfaktoren herauszufinden, welche das wechselnde Verhalten zweisprachiger Sprechergruppen leiten, um in einem weiteren Schritt deren ethnolinguistische Vitalität (siehe Kapitel 2.4.2.) zu ermitteln.

Haarmann führt sieben Einzelbereiche der Mehrsprachigkeit und deren Wirkungsfaktoren an:

- Ethnodemographische Variablen (zahlenmäßige Stärke, Siedlungsweise, Migrationstypus)
- Ethnosoziologische Variablen (ethnisches Profil: Geschlecht, Alter, Schicht, Familie)
- Ethnopolitische Variablen (Ethnos-Staat-Relation, Kommunikationsmedien, Sozioökonomie)
- Ethnokulturelle Variablen (Abstammung, soziokulturelle Distanz, Organisationsform, Ausbaustatus, Leistungskraft)
- Ethnopsychologische Variablen (Identität, Selbst- und Fremdeinschätzung, Erhaltungswille, Kontaktdisposition)
- Interaktionale Variablen (kommunikative Mobilität, Interaktion, ethnische Rollenbeziehung)
- Ethnolinguistische Variablen (Distanz, sprachliches Handeln, Sprachkontakte)

Nach einer Auswertung der Interrelationen und -dependenzen zwischen diesen sieben Variabeleinheiten, ist es laut Haarmann denkbar, die sprachsoziologischen Konzeptionen der Spracherhaltung, der Sprachumstellung und des Sprachverlusts, sowie diejenigen des Sprachwandels näher zu definieren. Er beschäftigt sich weiters mit Fragestellungen, wie der Art des Zusammenwirkens der Einzelvariablen, da sie alle wechselseitig voneinander abhängig sind, und inwieweit diese Einzelfaktoren das Sprachverhalten bezüglich des Sprachkontakts zwischen Sprachgemeinschaften beeinflussen. Es bleibt zu kritisieren, dass Haarmann historische und geographische Aspekte der Vitalität von ethnischen Minderheiten völlig außer Acht lässt.

2.4.2. Ethnolinguistische Vitalität

Eine weitere Methode, die einige der sprachökologischen Faktoren berücksichtigt und in eine typologische Gliederung einordnet, stellt die ethnolinguistische Vitalität dar. Giles, Bourhis und Taylor haben ein multimodales Modell entwickelt, um die ethnolinguistische Vitalität einer Sprechergemeinschaft zu ermitteln, welche sie wie folgt definieren: „The vitality of an ethnolinguistic group is that which makes a group likely to behave as a distinctive and active collective entity in intergroup situations.“41

Der Begriff ethnolinguistische Vitalität bezeichnet nun eine Methode zur Erforschung der kognitiven Repräsentationen der Sprecher bezüglich ihrer sozialen Wirklichkeit, wodurch die Relationen zwischen dem objektiven und dem subjektiven Bereich des Sprachverhaltens ermittelt werden können. Damit kann in einem weiteren Schritt erläutert werden, warum eine Gruppe sich ethnolinguistisch, d.h. mittels der Sprache als Symbol der Ethnizität (siehe Kapitel 2.3.2.3.) von anderen abgrenzt. Diese Methode versucht über Angaben zum sozioökonomischen Status der Minderheitensprache, zu demographischen Gesichtspunkten und zum institutionellen Unterstützung sowie über eine Meinungsbefragung der Sprecher herauszufinden, wie die Betroffenen ihre Wirklichkeit wahrnehmen. Diese drei strukturellen Gruppen von Variablen, also Status, Demographie und Institutionen, erfasst folgendes Modell42 taxonomisch:

[...]


1 Vgl. Weinreich (1977)

2 Vgl. Goebl (1996): S. 31ff.

3 Haugen (1953): S. 7

4 Vgl. Romaine (1992)

5 Vgl. Kremnitz (1994): S. 24f.

6 Vgl. Ervin/Osgood (1954): S. 139ff.

7 Vgl. Kremnitz (1994): S. 25f.

8 Mackey (1967): S. 12

9 Tabouret-Keller (1969): S. 305

10 Psichari (1928): S. 66

11 Ferguson (1959): S. 336 In: Word 15

12 Vgl. Kremnitz (1987): S. 210

13 Vgl. Rindler Schjerve (1998): S. 15

14 Vgl. a.a.O. S. 16

15 Fishman (1975): S. 96

16 Vgl. Dittmar (1997): S. 141f.

17 Fishman (1964): S. 42

18 Vgl. Rindler Schjerve (1998): S. 16ff.

19 Kremnitz (1987): S. 212f.

20 Vgl. Ninyoles (1971): S. 116

21 Vgl. Aracil (1966): S. 18ff.

22 Vgl. Ninyoles (1969) : S. 96ff.

23 Vgl. Lafont (1967): S. 107ff.

24 Vgl Lafont (1979): S. 504ff.

25 Vgl. Rindler Schjerve (1998): S. 18ff. Vgl. Kremnitz (1987): S. 212ff.

26 Vgl. Rindler Schjerve (1998): S. 20f. Vgl. Vetter (1997): S. 46ff.

27 Rindler Schjerve (1998): S. 22

28 Vgl Göbl (1996): S. 692ff. Vgl. Schjerve Rindler (1998): S. 21ff.

29 Vgl. Lippmann (1964)

30 Vgl. Meißner (1993): S. 25ff.

31 Schaff (1980): S. 31

32 Vgl. Schaff (1980): S.30ff.

33 Vgl. Quasthoff (1973): S. 18ff.

34 Quasthoff (1973): S. 28

35 Ninyoles (1971)

36 Rindler Schjerve (1998): S. 23

37 Vgl. a.a.O. S. 23f.

38 Haugen (1972): S. 325

39 a.a.O.

40 Haarmann (1980): S. 9

41 Giles / Bourhis / Taylor (1977) : S. 308

42 Vgl. a.a.O. : S. 309

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Elsass und Lothringen
Untertitel
Zwei nationale Minderheiten Frankreichs im Vergleich
Hochschule
Universität Wien  (Romanistik)
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
128
Katalognummer
V992875
ISBN (eBook)
9783346357465
ISBN (Buch)
9783346357472
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Elsass, Lothringen, Diglossie, Bilinguismus, Minderheitensprachen, Identität, Ethnolinguistische Vitalität, Stereotype und Attitüden, Funktionale Verteilung
Arbeit zitieren
Marion Koppenberger (Autor:in), 2003, Elsass und Lothringen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/992875

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