Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erläuterung relevanter Begriffe
2.1. Erstsprache - Muttersprache - Zweitsprache
2.2. Bilingualität - Multilingualität
2.3. Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Multilingualität
2.4. Balancierte, dominante, passive oder semilinguale Mehrsprachigkeit
3. Kindlicher Spracherwerb
3.1. Pränatale Entwicklungen als Voraussetzung für den Spracherwerb
3.2. Phasen des frühkindlichen Spracherwerbes
3.2.1. Vorstufe (von der Geburt bis zum 6. Lebensmonat)
3.2.2. Stufe der "Lallmonologe" (6. bis 12. Lebensmonat)
3.2.3. Stufe der Ein-Wort-Sätze (12. bis 18. Lebensmonat)
3.2.4. Stufe der Zwei- und Mehrwortsätze (18. bis 24. Lebensmonat)
3.2.5. Auf- und Ausbau der Grammatik (2-3. Lebensjahr)
3.2.6. Stufe der Festigung (3. -4. Lebensjahr)
3.2.7. Vollständige Beherrschung
3.3. Theorien zum kindlichen Spracherwerb
3.3.1. Gesteuerter oder ungesteuerter Spracherwerb
3.3.2. Spracherwerb nach der nativistischen oder epigenetischen Theorie
3.3.3. Simultaner oder sukzessiver Spracherwerb
3.3.4. Subtraktiver und additiver Sprachenerwerb
4. Positive Aspekte zur multilingualen Kindererziehung
4.1. Kulturelle Bereicherung durch Offenheit
4.2. Erhöhte Flexibilität und Kreativität
4.3. Verbesserte Kommunikationsfähigkeit
4.4. Erweiterung des globalen Horizonts
4.5. Verstärktes Selbstvertrauen
5. Methoden zur praktischen Förderung von Multilingualität während der frühkindlichen Entwicklung
5.1. Erstes Lebensjahr
5.2. Zweites Lebensjahr
5.3. Drittes Lebensjahr
6. Kritische Anmerkungen zur Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Entwicklung
6.1. Sprachverspätung
6.2. Sprachverweigerung
6.3. Interferenz
6.4. Sprachvermischungen
6.5. Mischsprache
7. Resümee
Vorwort
Als gebürtige Slowakin habe ich seit nunmehr fast 20 Jahren in Österreich meine zweite Heimat gefunden, wo ich mittlerweile verheiratet und Mutter einer 5-jährigen Tochter bin. Für mich war es immer normal, mehr als nur eine Sprache zu sprechen. Schon in frühester Kindheit erlernte ich neben slowakisch auch die ruthenische Sprache, in der meine Großeltern bis heute kommunizieren. In meiner späteren Schulzeit wurde russisch als erste Fremdsprache gelehrt. Das seinerzeitige tschechoslowakische Bildungssystem legte seine Prioritäten aus politischen Gründen noch auf Ostsprachen. Erst im Erwachsenenalter begann ich auch englisch zu erlernen. Multilinguale Fähigkeiten bedeuten für mich nicht bloß das Verstehen und Anwenden mehrerer Sprachen in der Kommunikation mit den jeweiligen Vertretern dieser Sprache. Vielmehr verdanke ich meiner Mehrsprachigkeit eine Vielzahl von Fähigkeiten, die mir anfangs gar nicht so bewusst waren. Erst als ich außerhalb meiner eigentlichen Heimat die Erfahrung gemacht habe, dass einige Menschen die engstirnige Meinung vertreten, nur eine Sprache solle in einem Land oder einer Region gesprochen werden und dass sich Mehrsprachigkeit negativ auf die Kultur und Gesellschaft dieses Landes bzw. dieser Region auswirke, ist mir aufgefallen über welch beengten Horizont diese Mitmenschen verfügen. Aufgrund dieses eingeschränkten Horizonts ist es ihnen nicht möglich, sprachliche wie kulturelle Unterschiede zu akzeptieren oder eine entsprechende Wertschätzung gegenüber anderen Kulturen zu entwickeln. Dazu bedarf es einem Verständnis, das vor allem mit der jeweiligen Sprache vermittelt werden kann. Von daher war es für mich auch selbstverständlich, meine Tochter Sophie bilingual zu erziehen. Bei ihr kann ich mich fast täglich von der Richtigkeit meiner Entscheidung überzeugen.
Genderhinweis
Der besseren Lesbarkeit wegen wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Substantiven und Pronomen in dieser Arbeit die Sprachform des generischen Maskulinums bevorzugt angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll. Die verwendete Sprachform beinhaltet daher keinerlei Wertung und impliziert nicht die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts.
1. Einleitung
Weltweit werden laut "Ethnologue" (https://www.ethnologue.com/about) mehr als 7.000 Sprachen gesprochen. Aus dieser sprachlichen Vielfalt resultieren allerdings auch sprachliche Barrieren, die die Kommunikation zwischen Menschen oftmals erschwert. Die Kenntnis mehrerer Sprachen durch einen einzelnen Menschen scheint ein plausibler Ansatz zur möglichen Lösung dieses Problems zu sein. Allerdings stellen sich einem auf dem Weg zur Mehrsprachigkeit viele Fragen: Wann beginnt man am besten mit dem Erlernen einer Zweitsprache? Soll gleich bei Geburt damit begonnen werden? Ist es besser, erst eine Sprache zu lernen, bevor man eine zweite beginnt zu erlernen oder soll man mehrere Sprachen gleichzeitig erlernen? Was muss ich dabei beachten, um (m)ein Kind nicht zu überfordern? Mit welchen Methoden kann ich Mehrsprachigkeit in der frühkindlichen Entwicklung fördern? Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen Fragen bzw. Problemstellungen und versucht anhand theoretischer und praktischer Überlegungen Antworten darauf zu finden.
2. Erläuterung relevanter Begriffe
Die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe bedürfen vorweg einer kurzen Erläuterung, die in der folgenden Zusammenfassung geboten werden soll.
2.1. Erstsprache - Muttersprache - Zweitsprache
Der Begriff "Muttersprache" wird vielerorts als Synonym für "Erstsprache" angesehen. Dabei finden sich schon im Duden unterschiedliche Erklärungen für die beiden Begriffe. "Muttersprache" ist da als jene Sprache definiert, "die ein Mensch als Kind (von den Eltern) erlernt und „primär im Sprachgebrauch hat" (Duden online o.J.), während "Erstsprache" als "zuerst erlernte" und im Falle von Mehrsprachigkeit als "prägendste Sprache eines Menschen" erklärt wird (ebenda). Auch wenn sich der Begriff "Muttersprache" aus dem lateinischen "lingua materna" abgeleitet haben dürfte, so muss diese nicht unbedingt von der Mutter weitergegeben worden sein. Ins Polnische übersetzt heißt "Muttersprache" übrigens "j^zyk ojczysty", was wiederum genau genommen "Vatersprache" bedeutet. So gesehen kann ein Mensch eigentlich auch mit zwei oder mehreren Muttersprachen aufwachsen, vorausgesetzt seine Erziehungsberechtigten erlernen ihm diese (Mahn, 2020).
Dagegen wird "Erstsprache" in der Literatur nicht immer nur als jene angesehen, die zuerst erlernt wurde, sondern oft auch als jene, die in einer wertenden Reihenfolge als "beste" (Oksaar 2003, S. 13) oder "prägendste" (Duden online o. J.) angesehen wird und daher als jene gilt, die vornehmlich beim Sprecher Anwendung findet.
In jedem Fall ist bei dem Terminus "Erstsprache" vom Vorhandensein einer "Zweitsprache" beim Sprecher auszugehen.
2.2. Bilingualität - Multilingualität
Spricht eine Person also mehr als eine Sprache, so spricht man von "Zweisprachigkeit" oder "Bilingualität", in weiterer Folge auch von "Mehrsprachigkeit" oder "Multilingualität", wenn zwei oder mehr Sprachen beherrscht werden (Oksaar 2003, S. 31). Oft wird "Zweisprachigkeit/Bilingualität" mit "Mehrsprachigkeit/Multilingualität" gleichgesetzt und weniger auf die genaue Anzahl der beherrschten Sprachen zurückgeführt.
2.3. Gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Multilingualität
In Bezug auf die Anwender gibt es die Unterscheidung in gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Multilingualität. Unter individueller Mehrsprachigkeit versteht man die Fähigkeit einer Person, in mehreren Sprachen kommunizieren zu können. Der Sprecher ist dabei in der Lage während des Gespräches in eine andere Sprache zu wechseln, falls dies die Situation erfordert, um z. B. eine Kommunikation aufrechtzuerhalten ("Code-Switching"). Handelt es sich um ein Land oder eine Region, in der grundsätzlich mehrsprachig gesprochen wird, so spricht man von einer gesellschaftlichen Mulitlingualität (wie z. B. in der Schweiz).
Davon abzugrenzen ist die institutionelle Multilingualität, die auf eine Mehrsprachigkeit in öffentlichen Institutionen und Organisationen (wie z. B. in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits-, Rechts- und Schulwesen) verweist (Buhl, 2015). Die in in dieser Arbeit behandelte Mehrsprachigkeit bezieht sich begrifflich auf die individuelle Multilingualität.
2.4. Balancierte, dominante, passive oder semilinguale Mehrsprachigkeit
Zuletzt sollen noch die Begriffsdefinitionen nach der Art der Sprachenanwendung bzw. dem Niveau der Sprachenkenntnis durch den Sprecher erwähnt werden. Spricht eine Person zwei oder mehr Sprachen auf gleich hohem Level, dann liegt eine "balancierte" Bi- oder Multilingualität vor. Gibt es allerdings Unterschiede im Niveau seiner Sprachkenntnisse, d. h. das eine Person mehrere Sprachen beherrscht, allerdings nicht gleich gut, so spricht man von einer "dominanten" Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Bei der "passiven" Mehrsprachigkeit wird eine Sprache überhaupt nur verstanden, nicht aber aktiv gesprochen. Ist die Sprachkompetenz allerdings in keiner der angewendeten Sprache ausreichend ausgereift, nennt man das "Semilingualismus" oder auch "doppelte Halbsprachigkeit". Dieses Phänomen fand sich meist bei ethnischen Minderheiten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund, bei denen sowohl die Herkunftssprache als auch die Sprache ihres Gastlandes als nicht ausreichend entwickelt betrachtet werden musste (Buhl, 2015).
3. Kindlicher Spracherwerb
3.1. Pränatale Entwicklungen als Voraussetzung für den Spracherwerb
Die Aneignung einer Sprache funktioniert im Kindesalter anders als dies bei Erwachsenen der Fall ist. Voraussetzung dafür sind physische und psychische Entwicklungen, die bereits vor der Geburt erfolgen. So wird das Sprachzentrum im Gehirn schon vor der Geburt gebildet. Verbal übermittelte Kommunikation wird dort verarbeitet und verstanden, sprachliche Botschaften werden von da versendet. Alle für die sprachliche Verständigung wesentlichen Organe und Muskeln wie z. B. Gehör, Lippen, Zunge und Zwerchfell sind bereits bei gesunden Neugeborenen voll funktionsfähig. Noch während der Schwangerschaft beginnt das ungeborene Kind bestimmte Geräusche wahrzunehmen, wie z. B. den Herzschlag und die Stimme der Mutter. Dadurch macht es sich noch vor der Geburt mit dem Klang und der Melodie der mütterlichen Stimme vertraut. Nach der Geburt zeigt das Kind schon bald die Fähigkeit, Sprachlaute von Umgebungsgeräuschen zu unterscheiden. Darüber hinaus ist dem Kind die Bereitschaft angeboren, eine enge Beziehung mit den Menschen aufzubauen, die sich ihm zuwenden und es umsorgen, einschließlich dem Willen sich mit ihnen zu verständigen und ihre Sprache zu erlernen (Freudig, 2016).
3.2. Phasen des frühkindlichen Spracherwerbes
Der frühkindliche Spracherwerb ist ein komplexer Prozess, der von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird und in bestimmte Phasen eingeteilt werden kann.
Mit dem Modell des "Sprachbaumes" hat Wolfgang Wendlandt ein anschauliches Bild der einzelnen Faktoren und Phasen der frühkindlichen Sprachentwicklung geschaffen. Das Bild vergleicht die Sprache mit einem Baum, bei dem alle biologischen und sozialen Vorbedingungen für den Spracherwerb in der Baumwurzel zu finden sind. Im Stamm des Baumes finden sich die Sprechfreude sowie die Fähigkeit zur Verknüpfung von Wahrnehmung und Handeln. In der Baumkrone reift die Artikulation, der Wortschatz und die Grammatik. Äußere Einflussfaktoren werden als Gießkanne und Sonne dargestellt, in der förderndes Verhalten wie z. B. der Blickkontakt, das (aktive) Zuhören und das Aussprechen lassen sowie zwischenmenschliche Wärme, Liebe und Akzeptanz zum Ausdruck kommen (Leisau, 2006).
Zu den zeitlichen Phasen der frühkindlichen Sprachentwicklung finden sich in der Literatur unzählige Modelle, die allesamt als Verallgemeinerungen zu verstehen sind und daher individuelle Abweichungen einzelner Kinder nicht als unnatürliche Gegebenheit anzusehen sind. Der zeitliche Ablauf der kindlichen Entwicklung verläuft schließlich bei jedem Menschen anders.
Der im Folgenden dargestellte Stufenaufbau orientiert sich nach dem Modell von Verena Fischer (https://www.Kindererziehung.com, 2021).
3.2.1. Vorstufe (von der Geburt bis zum 6. Lebensmonat)
Mit dem "Geburtsschrei" bei Eintreten der selbständigen Atmung gibt das Neugeborene seinen ersten Laut im Leben von sich. Mit Schreien macht das Kleinkind in den kommenden Monaten auf sich aufmerksam, wenn es Hunger hat, wenn es nass ist usw. Schon nach ca. 8 Wochen sind bestimmte Unterschiede im Schreien zu bemerken.
3.2.2. Stufe der "LaNmonologe" (6. bis 12. Lebensmonat)
Mit einfachen Lauten beginnen Kinder in dieser Phase Silbenketten zu bilden, welche Fischer als "Lallmonologe" bezeichnet. Der Säugling spricht gehörte Silben nach und reiht dieser immer wieder aneinander. Damit beginnt die eigentliche Sprachentwicklung.
3.2.3. Stufe der Ein-Wort-Sätze (12. bis 18. Lebensmonat)
Die Fähigkeit erste Worte von sich zu geben ist ab der Vollendung des ersten Lebensjahres zu erwarten. Oftmals sind das Worte, die sich aus einer einfachen Silbenkette ergeben ("Ma-ma"). Aus dem Umfeld gehörte einfache Wörter können ebenfalls schon nachgesprochen werden. Anfangs erfolgte das ohne Sinnverständnis, doch bald schon verknüpft das Kind Worte mit dem entsprechenden Sinn bzw. Gegenstand. Erste Sätze bestehen aus nur einem Wort.
3.2.4. Stufe der Zwei- und Mehrwortsätze (18. bis 24. Lebensmonat)
Diese Phase wird auch als „erstes Fragealter“ bezeichnet, weil Kinder nun beginnen, nach bestimmten Begriffen und Namen zu fragen. Dadurch erweitern sie ihren Wortschatz und erlangen Wissen über bestimmte Gegenstände. Dank der Erweiterung des Wortschatzes kommt es in dieser Stufe zu einem fließenden Übergang von Ein-Wort- zu Zwei- und Mehrwortsätzen.
3.2.5. Auf- und Ausbau der Grammatik (2-3. Lebensjahr)
Bei der Bildung von einfachen Sätzen passieren oftmals grammatikalische Fehler, die mit Hilfe der Eltern oder Betreuungspersonen in dieser Phase rasch behoben werden. Bis zum 3. Lebensjahr können Kinder größtenteils richtig sprechen, Fragen stellen und Zusammenhänge erläutern.
3.2.6. Stufe der Festigung (3. -4. Lebensjahr)
Im sogenannten „zweiten Fragealter“ stellen die Kinder ständig „warum-Fragen“. Grammatik, Wortschatz und Satzbau werden in dieser Spracherwerbsphase gefestigt.
3.2.7. Vollständige Beherrschung
Mit Vollendung des 5. Lebensjahres ist die frühkindliche Sprachentwicklung im großen und ganzen abgeschlossen. Die wesentlichen Strukturen seiner Sprache werden verstanden; das Kind kann Gedanken, Wünsche und Absichten so mitteilen, dass diese von seinem Kommunikationspartner verstanden werden (Leisau, 2006).
Abb. 2: Die Sprachentwicklung bei Kindern
3.3. Theorien zum kindlichen Spracherwerb
3.3.1. Gesteuerter oder ungesteuerter Spracherwerb
Anders als Erwachsene lernen Kinder ihre erste Sprache nach eigener Methodik. Schritt für Schritt eignen sich Kleinkinder die Sprache an, die sie aus ihrer nächsten Umgebung gehört bekommen. Dies geschieht aus ihrer täglichen kognitiven Wahrnehmung heraus. Ihr Sprachverständnis bildet sich aus dem heraus, was sie hören, fühlen, sehen und tun. Man spricht von einem "ungesteuertem Spracherwerb", der im Gegensatz zu dem "gesteuerten Spracherwerb", wie wir im vom Sprachunterricht an Schulen kennen, unabsichtlich und zufällig erfolgt (Kranjcec, 2014).
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