Bewegungsorientierte Schulentwicklung durch das Wagnis als Perspektive einer Bewegten Schulkultur. Gebt den Kindern die Bäume zurück


Hausarbeit (Hauptseminar), 2019

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Im Wagnis erwächst das Leben (Warwitz)
2.1 Der Wagnisbegriff
2.2 Das Wagnis und die Pädagogik
2.2.1 Wagnis und Sicherheit
2.2.2 Pädagogisch überwachte Wagnisse – der Schulsport
2.2.3 Wagnisorientierung und informelle Tätigkeiten – Baumklettern im Schulfreiraum des Pausenhofs

3 Bewegte Schulkultur und wagnisorientierte Bewegungsangebote im Horizont der Schulentwicklung
3.1 Partizipation als grundlegende Dimension bewegungsorientierter Schulgestaltung
3.2 Leistung in der Perspektive individuellen Bewegungsvermögens
3.3 Inhalt: Bewegen zwischen Selbstzweck und zweckvoller Nutzung
3.4 Pädagogische Orientierung als Überzeugung einer guten Schule

4 Konklusion

Literaturverzeichnis

I Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Sonnen- und Schattenseiten des Gelingens und Misslingens sportlicher Wagnisse (Neumann, 2013, S. 88).

1 Einleitung

Schulen haben den Anspruch als sichere Inseln das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen verantwortungsvoll zu begleiten und zu unterstützen, um Erziehungs- und Bildungsprozesse zu initiieren. Gefahrvolle Aktivitäten wie beispielsweise das kindliche Baumklettern im informellen Setting der Pause können daher unmöglich toleriert werden, da die Kontrolle durch die Pausenaufsichten zu klein und das Verletzungsrisiko zu groß ist. Durch derlei kurz gedachte Vermeidungsstrategien kommt es allerdings zu einem pädagogischen Dilemma: Auf der einen Seite soll Sicherheit durch Verbot von gefahrvollen Bewegungsaktivitäten gewährleistet werden (vgl. Jakob, 2010, S.12), auf der anderen Seite geht damit das fertile Entwicklungspotenzial von wagnisorientierten Bewegungshandlungen für die kindliche Ontogenese verloren, welche Sicherheit erst erschafft (vgl. Warwitz, 2016, S.1ff.). Es scheint paradox, aber: Wer Sicherheit gewinnen will, muss selbige aufgeben – muss sich in wagnishafte Situationen begeben (vgl. ebd., S. 247). Die Bewegte Schule 1 steht in der Pflicht, auch die kindlich-juvenile Entwicklungsdeterminante des Wagnisses breiter zu reflektieren – eine Abwälzung auf den Sportunterricht (vgl. bspw. KC, 2018, S. 16; KCGO, 2018, S. 16) erscheint zu rudimentär gedacht. Bewegung und Sport spielen generell im Horizont von Schule eine bedeutende Rolle, da sie in diesem „Kontext unaustauschbare Lern-, Erziehungs- und Bildungspotenziale [bereitstellen; M.R.]“ (Laging, 2017, S. 86). Dies berücksichtigend, sind seit den 1990er Jahren differente Konzepte für eine Bewegte Schule erarbeitet worden (vgl. ebd., S. 66-87), um der „Dominanz der kognitiven Orientierung“ (ebd., S. 9) zu begegnen, welche durch den „Primat des Kognitiven [der Schule; M.R.]“ (Baumert, 2002, S. 105) generiert wird. Eines dieser Konzepte zielt auf Modifikation der Schulkultur. Diese legt die Prämisse zugrunde, dass Kultur als solche niemals einfach so gegeben ist, sondern dass sie „immer durch die in dem jeweiligen Lebensraum handelnden und sich bewegenden Menschen neu geschaffen und gestaltet [wird; M.R.]“ (Laging, 2017, S. 81). Dadurch bildet die Schulkultur einen neuralgischen Punkt in Bezug auf eine bewegungsorientierte Schulentwicklung, welche letztlich auch zu mehr Toleranz für das Wagnis und sogar zur bewussten Bereitstellung von wagnisorientierten Bewegungsangeboten auf dem Pausenhof führen kann (vgl. Städtler, 2016, S. 85ff.). Das Ziel dieser Arbeit ist es, die Perspektive des bewegungsorientierten Wagnisses im Horizont einer Bewegten Schulkultur, am Beispiel des Baumkletterns in informellen Schulfreiräumen (vgl. Derecik, 2015, S. 14ff.) zu reflektieren. Um dies adäquat leisten zu können, bedarf zunächst der Begriff des Wagnisses einer klaren Konturierung. Sein entwicklungspsychologischer Wert soll anschließend im Horizont von Pädagogik reflektiert werden, damit er im Kontext von Bewegter Schule nutzbar werden kann (1). Im Folgeschritt ist dann die Bewegte Schulkultur als ein Ansatz der Schulentwicklung (vgl. Laging, 2017, S. 99-102) in den Fokus zu rücken: Nach einer definitorischen Betrachtung ist die Perspektive des Wagnisses innerhalb ihres Horizontes zu reflektieren (3). Eine abschließende Konklusion beschließt die Diskussion (4).

2 Im Wagnis erwächst das Leben (Warwitz)

Ein Mensch muss sich in seinem Entwicklungsprozess immer wieder aus seiner Komfortzone wagen. Mutig müssen Risiken sowie Gefahren eingegangen und gleichzeitig Sicherheiten aufgegeben werden, um die Sprossen der individuellen Entwicklungsleiter hinaufzusteigen. Das Kleinkind, welches den aufrechten Stand und daran anschließend die zweibeinige Fortbewegung – das Gehen – durch die Erfahrung hundertfachen Fallens und Scheiterns lernt, wagt sich aus seiner bodenbehaftete Sicherheit, riskiert dabei blaue Flecken, gewinnt letztlich aber nach scheinbar endlosen Anstrengungen einen völlig neuen Bewegungs- und Gestaltungraum: Durch die Aufrichtung erfolgt eine fundamentale Modifikation der Wahrnehmungsperspektive, womit zugleich ein Freiwerden der oberen Extremitäten einhergeht. Dieses bewegungsorientierte Beispiel2 zeigt, was für viele kindliche Lernschritte gilt: Sie sind untrennbar mit dem Wagnis verbunden (vgl. Warwitz, 2016, S. 1). Aber was ist genau unter einem Wagnis zu verstehen und was trennt es vom Risiko ? Es erscheint unabdingbar zunächst die Distinktion dieser beiden Begriffe herauszuarbeiten, um daran anschließend eine weitreichendere Reflexion des Wagnisses initiieren zu können: Das Wagnis als eine dezidierte Perspektive der Pädagogik, wobei nach dem bereits angeklungenen Paradoxon der Sicherheit zu fragen ist, um anschließend das Wagnis im Schulsport und für das informelle Lernen in Schulfreiräumen (vgl. Derecik, 2015, S. 14ff.) in den Blick nehmen zu können.

2.1 Der Wagnisbegriff

Immer wenn es in der Folge von anspruchsvoller werdendem Denken und aus komplexen Sachverhalten heraus nötig wird, eine Differenzierung im sprachlichen Ausdruck zu bewirken, vollziehen sich dynamische Prozesse innerhalb der Sprache. Dazu gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Es können Lehnwörter übernommen werden oder auch verschlissen erscheinende Begriffe innerhalb der Sprachgemeinschaft eine Bedeutungsinnovation erfahren. In dieser Weise konstituieren sich auch wissenschaftliche Fachsprachen, mit ihrem hohen Anspruch an Ausdrucksgenauigkeit. Die Alltagssprache indes vermag es, von dieser Genauigkeit zu abstrahieren, voreilig Synonyma zu generieren und als gleich zu behandeln, was gar nicht gleich ist (vgl. Warwitz, 2016, S. 14). So ist es auch in Bezug auf Risiko und Wagnis, weshalb dezidiert zu konstatieren ist: Diese „Begriffe … sind keine Synonyme“ (ebd.; Hervorhebung durch M.R.). Generell gilt: „Es gibt Risiken ohne ein Wagnis, d. h., es gibt Gefährliches ohne eine Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Aber es gibt kein Wagnis ohne Risiken“ (ebd.): Denn, auf der einen Seite versetzt ein Wagnis in mitunter gefährliche – risikoreiche – Situationen, aber eben mit dem impliziten Zusatz, dass ein Wagnis durch den bewussten Entschluss des Subjekts bewirkt respektive eingegangen wird (vgl. ebd.).

Dies wird noch etwas deutlicher, wenn die Etymologie der Wörter betrachtet wird: Das Risiko (von griech. rhiza = Klippe; lat. risicare; ital. risico) bedeutet ursprünglich so viel wie Gefahr laufen oder Klippen umschiffen.3 Es kommt aus dem Seefahrtsmilieu, fand im 16. Jahrhundert als Lehnwort seinen Weg in den deutschen Sprachraum und steht im Zuge des damals langsam aufkommenden Versicherungswesens in der Tradition, Aspekte der Gefahrenberechnung von Situationen auszudrücken (vgl. ebd., S. 15). Das Risiko referiert also auf das Erkennen von Gefahren und verweist auch auf seine Quantifizierungsversuche, beispielsweise in Form von zu riskant, risikoarm oder Restrisiko 4 (vgl. ebd.).

Demgegenüber steht das Wagnis (von ahd. wagan = sich getrauen; den Mut haben etwas zu tun), welches „seinen Bedeutungsschwerpunkt auf die Vorgänge innerhalb der sich gefährdenden Person “ (ebd.; Hervorhebung durch M.R.) legt. Sich wagen bedeutet, bewusst und freiwillig ein Risiko eingehen, um einen tieferen Sinn willen (vgl. ebd., S. 16). Für Warwitz ist der Sinn eine fundamentale Konstituente wertschöpferischen Wagens. Dieser ist allerdings hochgradig subjektiv, denn: „Lebenssinn kann nur vom einzelnen entdeckt und erfahren werden“ (S. 262). Die potenzielle Frage einer überängstlichen Pausenaufsicht auf dem Schulhof an ein Kind, welches auf einen Baum klettert, was es denn dort oben wolle – da gäbe es doch nichts Interessantes, nur Gefahr – würde sich aus dieser Perspektive demnach erübrigen.

Im Wagnisbegriff steckt obendrein der Wortteil der Waage, semantisch ist das Wagnis also auch mit Abwägungsprozessen verbunden: „Der Wagende wirft seine Gründe für das Wagnis in die Waagschale und wägt sie“ (ebd., S. 16; Hervorhebung durch M.R.). Hierbei kommt es zu einer Prüfung der Gewichtigkeit, indem die beiden Waagschalen Sinn des Wagnisses und Risiko des Wagnisses miteinander verglichen werden (vgl. ebd). Der Zugewinn respektive die aussichtsreiche Wertschöpfung (im Beispiel von oben: das aufrechte Stehen) wird mit dem geforderten Risikoeinsatz (äquivalent dazu: die Möglichkeit des Hinfallens) verglichen und bei einer als günstig erachteten Ausgangslage wird sich gewagt. Oder anders ausgedrückt: Das Klettern auf einen Baum aus einer subjektiven Sinnperspektive (z.B. Neugier oder unterbewusster Entwicklungstrieb eines Kindes) führt in die Höhe und inkludiert damit auch die Kontingenz des Hinunterfallens und des Sich-Verletzens (Risiko).

Nach diesen Ausführungen bedeutet es durchaus etwas Anderes, ob ein Kind die Besteigung eines Baumes riskiert oder wagt. Dadurch, dass „das Wagen … die fundamentale Sinneinstellung eines Menschen, sein ethisches Bewußtsein, seine Verantwortungsfähigkeit, seinen Wertschöpfungswillen [betrifft; M.R.]“ (ebd., S. 17), geht es für das Kind beim Erklimmen des Baumes um eine konstitutive Sinnverwirklichung in einer potenziell bedrohlichen Situation (vgl. ebd.). Derlei wagnisorientierte Handlungsprozesse unterliegen im Kontext der Kulturinstitution Schule allerdings pädagogischen Paradigmen, auf welche im Folgenden einzugehen sein wird.

2.2 Das Wagnis und die Pädagogik

Sobald Wagnisse in pädagogischen Settings Einzug halten, werden unverzüglich die Marksteine der jeweiligen Institution wirkmächtig. Kindlich-freizeitliches Baumklettern im heimischen Garten oder städtischen Park ist objektiv nicht gefahrvoller als im Schulfreiraum des Pausengeländes, allerdings sind die Konsequenzen des Scheiterns andere, denn die – pejorativ ausgedrückt – wachhabenden Pädagoginnen und Pädagogen unterliegen der sogenannten Aufsichtspflicht und müssen die Sicherheit der Schülerinnen und Schüler gewährleisten. Wenn aber, wie Warwitz formuliert, im Wagnis das Leben erwächst (vgl. ebd., S. 1ff.) und wenn sich wagen muss, wer sich entwickeln will (vgl. ebd., S. 26ff.), dann steht die Bewegte Schule in der Pflicht, den Schülerinnen und Schülern ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit zuzusprechen und ihnen damit die Chance auf die Entwicklungspotenziale von Wagnissen administrativ nicht zu verwehren. Im nächsten Schritt scheint es daher sinnvoll das Wagnis im Horizont von schulischem Sicherheitsdenken zu reflektieren, bevor mit dem Sportunterricht der Fokus auf ebenjenen Bereich gelenkt werden soll, in welchem Wagnisse bereits in der Schule angekommen sind. Daraus soll schließlich versucht werden, Erkenntnisse auch für informelle Schulfreiräume zu derivieren.

2.2.1 Wagnis und Sicherheit

Das Wagnis ist ein Spiel an der individuellen Grenze und birgt damit auch Verletzungsrisiken. Auf den ersten Blick müsste die Schule daher eine bewusste Wagnisorientierung meiden, denn beispielsweise entspricht es „für besorgte Eltern … [selbstverständlich; M.R.] nicht der Erwartung, dass die von ihnen in die Obhut professionell ausgebildeter Lehrkräfte abgegebenen Kinder und Jugendlichen den Schultag mit einem Arztbesuch beenden.“ (Pfitzner, 2012, S.117)

Wenn ausschließlich der Risikoanteil des Wagnisses gesehen wird, erscheint eine derartige Sicht durchaus nachvollziehbar. Und die Abneigung gegenüber wagnisträchtigen Handlungen von Schülerinnen und Schülern aus der Perspektive von Pausenaufsichten (vgl. Jakob, 2010, S. 12) ist so ebenfalls erschließbar, kursieren doch die wildesten Gerüchte und tradierte Mythen bezüglich der drohenden Konsequenzen für die jeweiligen Pädagoginnen und Pädagogen, wenn doch einmal ein Unfall passiert (vgl. Derecik, 2015, S. 47). Dass diese der Wirklichkeit allerdings nicht standhalten, zeigt Derecik auf (vgl. ebd., S. 47f.). Zusammenfassend konstatiert er: Die Aufsicht ist „von jeglicher Haftung befreit, sofern sie nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig agiert“ (ebd., S. 48). Dies ist auch sinnig, denn „eine lückenlose Aufsicht [ist ohnehin nicht; M.R.] … möglich“ (Krüger, 1996, S. 30). Obendrein erscheint „pausenloses Hinterherschnüffeln einer pädagogischen Aufsicht nicht würdig“ (ebd.). Diesen Gedanken weiterführend geht die aktive Sicherheitserziehung davon aus, „dass den Kindern nicht jede Gefahrenquelle aus dem Weg geräumt werden sollte“ (Derecik, 2015, S. 47), denn „durch Aktivitäten, die ein gewisses Wagnis darstellen, gelangen Schüler zu einer realistischeren Selbsteinschätzung der eigenen motorischen Fähigkeiten und können damit zu Selbstverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit im Umgang mit sich selbst erzogen werden.“ (ebd.)

In ebenjene Kerbe schlägt auch Warwitz, denn in Anlehnung an Felix von Cube formuliert er:

„Das Kind sucht das Wagnis nicht um des puren Risikos willen, nicht aus Naivität und nicht aus Suizidabsichten, sondern um Sicherheit zu gewinnen. Indem es sich das Unbekannte zum Bekannten, das Fremde zum Vertrauten, das Unberechenbare zum Berechenbaren, das Gefährliche zum Handelbaren verwandelt, erschafft es Schritt für Schritt aus Unsicherheit Sicherheit.“ (Warwitz, 2016, S. 247; Hervorhebung durch M.R.)

Dass Sicherheiten aufgegeben werden müssen, um in der bewussten Konfrontation aus Unsicherheiten den nächsten Grad an Sicherheit 5 gewinnen zu können, weist er empirisch an der Verkehrserziehung nach (vgl. Warwitz, 2009). Überbesorgte Eltern, die ihren Nachwuchs im vermeintlich sicheren Auto bis vor das Schulportal fahren,6 bewirken vielmehr eine paradoxe Umkehrung, denn: „Nicht die wagenden, sondern die geschonten Kinder führen in der Unfallstatistik die Liste der Opfer an“ (Warwitz, 2016, S. 269), weshalb eine Risikomeidung nur zu einer Scheinsicherheit führt (vgl. ebd.).

Eine solche Scheinsicherheit liegt auch im administrativen Verbot vom Baumklettern und anderen wagnishaltigen Aktivitäten auf Schulhöfen, denn derlei Direktiven negieren das Risiko nicht, vielmehr verbleiben sie im Modus der Sanktion (vgl. Jakob, 2010, S. 13). Diese Scheinsicherheit könnte nur aufgelöst werden, indem alle Bäume gefällt würden, womit die Grundvoraussetzung für das Baumklettern – Bäume – wirkungsvoll ausgeschaltet wäre, denn: „Sicherheit durch Risikovermeidung ist nur in konsequentem Verzicht erreichbar“ (Warwitz, 2016, S. 269). Dass ein solcher Rodungsansatz allerdings nicht zielführend sein kann, offenbart schon die Tatsache, dass außerhalb des begrenzten Raumes des Pausenhofes ungleich mehr Bäume stehen, die beklettert werden können und objektiv dasselbe Gefahrenpotential bergen, womit das Problem lediglich aus dem eigenen Einflussbereich abgeschoben wäre. Außerdem würde durch Beseitigung der vielseitige Wert von Bäumen, nicht nur als Bewegungsraum, sondern auch als Schattenspender, Spielraum und Rückzugsort für Schülerinnen und Schüler eliminiert (vgl. Derecik, 2015, S. 153f.). Sinnvoller erscheint daher der Ansatz, Wagnisse zuzulassen und auch gezielt zu thematisieren, wie es im mehrperspektivischen Sportunterricht ohnehin schon praktiziert wird.

2.2.2 Pädagogisch überwachte Wagnisse – der Schulsport

Seinen Weg in die Schule hat das Wagnis bereits gefunden: Als eine von sechs pädagogischen Perspektiven (vgl. Kurz, 2017, S. 115) findet es sich seit einigen Jahren in den Curricula der Länder (vgl. bspw. KC, 2018, S. 16; KCGO, 2018, S. 16). Die Auseinandersetzung mit Wagnissen ist demnach im Schulsport7 bildungspolitisch explizit erwünscht. Mitunter divergent gestaltet sich allerdings die Firmierung der Perspektive: In Hessen wird schlicht vom Wagnis gesprochen (vgl. ebd.), während sie in NRW für pädagogische Kontexte subtiler erscheint. Dort liest sie sich wie folgt: „Etwas wagen und verantworten “ (Schulsport NRW, o. J., S. XXXII; Hervorhebung durch M.R.). In dieser Modifikation steckt eine wichtige Botschaft, welche die pädagogische Aufgabe zum Umgang mit Wagnissen im Schulkontext explizit inkludiert: Die Schülerinnen und Schüler „sollen sich ja nicht um jeden Preis wagen, sondern erst nach dem angemessenen Abwägen ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Neumann, 2013, S. 83). Ziel der Wagniserziehung im Sportunterricht ist vor allem die Entwicklung eines „Verantwortungsbewusstsein[s] für die Folgen ihres Wagnishandelns“ (ebd.).

Da es sich im Horizont von Schule in der Regel um eine gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit Inhalten handelt, muss bei der Wagnisthematisierung im Schulsport unbedingt auch die Gruppendynamik mitgedacht werden: Es ist fundamental wichtig, dass das Eingehen eines persönlichen Wagnisses auf Freiwilligkeit und nicht auf Zwang8 beruht (vgl. Neumann & Katzer, 2011, S. 20; vgl. Warwitz, 2016, S. 9). Kommt es in Folge eines Abwägungsprozesses einer Schülerin oder eines Schülers zu dem Ergebnis, dass sie respektive er sich nicht wagen möchte, dann ist dieses Nein unmissverständlich als hochgradig verantwortungsvoll und mutig einzuordnen. Dies ist im Rahmen des Schulsports unbedingt im Vorfeld mit der Lerngruppe zu thematisieren (vgl. Neumann, 2013, S. 89; vgl. Hochdorfer, 2015, S. 7): „Nein-Sagen [erfordert; M.R.] viel Mut … und [ist; M.R.] somit nicht weniger wert … als ein Sprung von der obersten Sprosse oder der Langbank“ (Hochdorfer, 2015, S. 9), wohingegen ein Absprung aus dem Zweifel heraus eine zu hohe Scheiternswahrscheinlichkeit inkludiert und damit hochgradig unverantwortungsvoll wäre.

Innerhalb einer Lerngruppe spielt natürlich auch die soziale Anerkennung in der Peergroup eine beträchtliche Rolle, was dazu verleiten kann, dass von Schülerinnen und Schülern Wagnisse eingegangen werden, welchen sie nicht gewachsen sind und wo folglich das Glück oder der Zufall über den positiven Ausgang entscheiden. Diese, von Neumann als Gladiatorkomponente beschriebene Situation ist unbedingt zu vermeiden (vgl. Neumann, 2013, S. 89):

„Bei Wagnissen im Schulsport muss es von der Kompetenz der sich wagenden Schülerin bzw. des sich wagenden Schülers abhängen, ob und inwieweit ein Gelingen wahrscheinlich ist.“ (ebd.)

Es geht also ausdrücklich nicht um individuelle Mutproben, sondern um das Lernen von verantwortungsvoller und realistischer Selbsteinschätzung von Schülerinnen und Schülern (vgl. ebd.).

Neumann hat auch auf einen weiteren bedeutenden Faktor von Wagnissen in pädagogischen Kontexten hingewiesen: Die pädagogische Ambivalenz sportlicher Wagnisse, welche sich als doppelte Ambivalenz konstituiert (vgl. ebd., S. 85-88). Ambivalenz referiert auf eine Doppelwertigkeit von Wagnissen in pädagogischen Kontexten und einfach betrachtet bedeutet dies: „Das Gelingen des Wagnisses bildet die pädagogisch positive und das Misslingen die negative Seite des sich Wagens“ (ebd., S. 85). Diese banale Betrachtungsweise führt zu einem binären Wertecode, wobei misslungene Wagnisse unisono negativ ausgelegt werden und gelungene äquivalent dazu positiv. Aber so trivial konstituiert sich der Sachverhalt nicht, was Neumann treffend konstatiert: „Sowohl Gelingen als auch Misslingen kann – pädagogisch betrachtet – zwei Seiten haben“ (ebd., S. 86). Denn in beiden Fällen kann es zu pädagogisch wünschenswerten, aber auch unerwünschten Produkten kommen, was Neumann als doppelte pädagogische Ambivalenz beschrieben hat, welche in der metaphorischen Diktion von den „Sonnen- bzw. Schattenseiten des Gelingens und Misslingens“ (ebd) seine Realisierung gefunden hat:

[...]


1 Als Eigenwort muss Bewegte Schule großgeschrieben werden. Dies wird in der Forschungsliteratur allerdings nicht durchgängig praktiziert (vgl. bspw. Aschebrock, 2013, S. 146). Um typografische Verwirrung zu vermeiden, wird innerhalb dieser Arbeit die Großschreibung in Anlehnung an Laging (2017) gewählt. Dies inkludiert auch den Terminus der Bewegten Schulkultur.

2 Es sei angemerkt, dass Sich - wagen und mutig sein auch in bewegungsfernen Lebensbereichen wirkmächtig respektive gefordert werden. Innerhalb dieser Arbeit verbleibt die Fokussierung aufgrund der inhärenten Fragestellung allerdings enggefasst auf der Bewegungsperspektive, weshalb der Begriff Wagnis spezifisch auf ein bewegungsorientiertes Wagnis referiert.

3 Die semantische Nähe zu Klippen findet sich heutzutage bspw. noch im Ortsnamen von El Risco auf der spanischen Atlantikinsel Gran Canaria.

4 „Vergleichbare Wortverbindungen mit dem Begriff Wagnis, etwa ein ‚Restwagnis‘, existieren nicht oder wären sinnlos“ (Warwitz, 2016, S. 15).

5 In diesem Punkt kann eine Kritik von Warwitz an Schleske gelesen werden, welcher davon ausgeht, dass im Wagen Sicherheiten aufgegeben werden, um sie im Anschluss wieder zurückzugewinnen, was einen Wiedergewinn ohne Mehrwert respektive Mehrung von Sicherheit darstellt. Wagnissuche ohne solchen Zugewinn verkommt im Kontext von Pädagogik demnach zur inhaltsleeren Suche nach Spaß oder auch dem Kick (vgl. Warwitz, 2016, S. 269). Eine Kritik an übertriebenem Sicherheitsdenken und der von Hübner (2003) vertretenen Sicherheitserziehung legt auch Becker vor, der dieser eine tiefe „Abneigung gegen Ungewissheit, Offenheit, Unbestimmtheit“ (Becker, 2005, S. 232) attestiert. Er gibt außerdem zu bedenken, dass Routinen im Kontext von Sicherheitsfragen bedenklich sind, weil ihre entlastende Funktion zu Nachlässigkeiten im sicherheitsrelevanten Handlungsvollzug führen kann (vgl. ebd.). Wird das Erklettern eines Baumes also zur Routineaufgabe und nicht mehr als besondere Aktion erlebt, könnte Unachtsamkeit zu einem erhöhten Unfallrisiko beitragen. Ein Umstand, der unbedingt mitzudenken ist (vgl. dazu auch Städtler, 2016, S. 86).

6 Das, dadurch erst hervorgerufene, erhöhte Verkehrsaufkommen im Umfeld von Schulen generiert eher einen risikoreicheren Schulweg (vgl. Warwitz, 2016, S. 250). Diese Problematik wirkt auch direkt auf den Umfang kindlichen Bewegens ein, denn: „Eltern müssen sich fragen lassen, welche Strecken ihre Kinder zu Fuß und mit dem Fahrrad zurücklegen können … Kinder und Jugendliche müssen mit den Möglichkeiten bewegungsorientierter Alternativen zur bequemen und motorisierten Fortbewegung … konfrontiert werden“ (Laging, 2017, S. 61). Dies inkludiert in besonderem Maße auch den Schulweg.

7 Der Sportunterricht gilt als „die Basis einer jeden bewegten Schule“ (Aschebrock, 2013, S.147). Daher erscheint eine Diskussion der Wagnisperspektive zunächst in seinem Lichte sinnvoll.

8 Potenzielle Zwänge sind vielschichtig denkbar, bspw. Gruppenzwang, Notenzwang o. ä.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Bewegungsorientierte Schulentwicklung durch das Wagnis als Perspektive einer Bewegten Schulkultur. Gebt den Kindern die Bäume zurück
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Sportwissenschaft und Motologie)
Veranstaltung
Themen der Bewegungs- und Sportdidaktik
Note
1,0
Autor
Jahr
2019
Seiten
23
Katalognummer
V1013019
ISBN (eBook)
9783346404312
ISBN (Buch)
9783346404329
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bewegte Schule, Bewegte Schulkultur, Bewegungsorientierte Schulentwicklung, Wagnis, Baumklettern, Warwitz, Sicherheit, Pause, Schulhof, Schulhofgestaltung, Laging
Arbeit zitieren
Martin Reese (Autor:in), 2019, Bewegungsorientierte Schulentwicklung durch das Wagnis als Perspektive einer Bewegten Schulkultur. Gebt den Kindern die Bäume zurück, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1013019

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Bewegungsorientierte Schulentwicklung durch das Wagnis als Perspektive einer Bewegten Schulkultur. Gebt den Kindern die Bäume zurück



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden