Ein Stundeneinstieg im Sinne von Wagenscheins Denk- und Lehrtradition. Martin Wagenschein als Pädagoge und Allgemeindidaktiker


Seminararbeit, 2021

14 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Martin Wagenschein und Ich

2. Positionen Wagenscheins
a. Vom Lernen und Lehren
b. von (Schul-)Kindern
c. von Fühlung im Unterricht

3. Ein Unterrichtseinstieg im Sinne Wagenscheins

4. Resümee

Literaturverzeichnis

1. Martin Wagenschein und Ich

Nach der Konfrontation mit aus-dem-Kontext-gerissenen-Aussagen Martin Wagenscheins, hat mich ein Aspekt seiner Worte nachhaltig positiv angerührt: So scheint der Pädagoge die Haltung zu vertreten, dass sowohl die Lerninhalte als auch die Lernumgebungen der Schule unangepasst und unpassend für gelingende Bildungsprozesse seien. Er spricht davon, dass sowohl die „Stoffjagt“ als auch der „Massenbetrieb“ (Eine Reise durch die Denklandschaft Wagenscheins, Folie 6) dazu führen würden, dass Inhalte im Unterricht weniger intensiv und tiefgreifend vermittelt und gelernt werden können. Dadurch werde die Lernmotivation und das Interesse der Kinder am Lerngegenstand im Keim erstickt.

Weiter möchte ich ihm zustimmen, wenn er sagt, dass viele Kinder an den Gegenständen, mit denen sie im Unterricht konfrontiert werden, oftmals deshalb nur marginales Interesse entwickeln, weil sie ihnen zusammenhangslos, karg und schlicht präsentiert werden und daher reizlos scheinen. Dabei sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass den Lehrkräften in der Praxis selbst aufgrund des starren, straffen Lehrplans häufig die nötige Zeit fehlt, um auf individuelle Interessen und verschiedene Lerntypen und Kompetenzstände genügend Rücksicht zu nehmen. Das führt zwangsläufig dazu, dass auch ihnen die kostbare Zeit zum „staunen“ (Folie 10) fehlt und sie die Kinder vermehrt durch den Lehrplan „zerren“ und zum zielgerichteten Lernen „drängeln“ (müssen). Ich möchte also auch die Knoten-These, die Wagenschein entwirft, bejahen: Diese besagt, dass sich der ,Knoten‘ immer weiter zuzieht, sofern die LuL widerständische und frustrierte Reaktionen der SuS als menschliche Verfehlungen deuten und als Konsequenz versuchen mit weiterem Drängeln und Zwängen gegen diese Gegenwehr vorgehen. (Vgl. Folie 8)

Ein Satz Wagenscheins, der mich eher stutzig gemacht hat, war dieser, dass „überfüllte Klassen die Demokratie, ehe sie aufkommen kann, in der Wurzel zerstören“ (Folie 2). Da mir der Kontext dieser Aussage fehlt, stellt sich mir die Frage, worauf sich Wagenschein dabei bezieht und was er damit konkret kritisiert?

Ich gehe spekulativ davon aus, dass er die Tatsache missbilligt, dass das Schulsystem nicht auf demokratischen Prozessen basiert und funktioniert, da ihm die Basis für das wichtigste und grundlegendste Element einer Demokratie fehlt: die gleichberechtigte Wahl eines entscheidungstragenden Repräsentanten. Die machthabende Position ist durch eine entsprechende Lehrkraft aufgrund ihrer universitären Qualifikation besetzt und damit nicht verhandelbar. Innerhalb einer Schulklasse herrscht dementsprechend eine hierarchisches Ungleichgewicht vor, welche ein Lehren-und-Lernen auf Augenhöhe erschwert.

Offen bleibt für mich: Wieso schreibt Wagenschein vor allem der Größe der Klassen einen demokratieerstickenden Charakter zu? Und wieso vertritt er der Annahme, dass LuL beinahe zu diktatorischen (=autoritären, tyrannischen, totalitären?) Verhalten gezwungen seien, um sich bei dieser großen Anzahl an „bewegungslustigen, eingesperrten Kindern“ (Folie 2) durchsetzen zu können und „mit Gewalt allein zu regieren“ (ebd.)?

Ich denke, dass es auch in zahlenmäßig großen Klassen möglich ist, einen respektvollen und angemessenen Umgang miteinander zu finden und auf Basis demokratischer Werte zu lehren und zu lernen. In der Praxis lässt sich durch ein wertschätzendes Miteinander und einer ,Kommunikation auf Augenhöhe‘ erreichen, dass Wünsche, Kritik und Anregungen auch an die betroffene Lehrkraft herangetragen und berücksichtigt werden können.

Was ich gern im Laufe des Semesters über Wagenschein und seine Didaktik in Erfahrung bringen möchte ist, wie sich der Pädagoge eine ideale Lernumgebung und ideales Lernen vorstellt. Wünscht er sich sehr flache- oder sogar gar keine Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden? Möchte er erreichen, dass SuS nur das lernen, worauf sie Lust haben? Möchte er, dass sie lernen wie sie wollen und auch nur dann, wann sie wollen? Möchte er an den Strukturen der Institution Schule etwas verändern, oder ist es sogar eine gesamtgesellschaftliche Kritik, die sich hinter seinem didaktischen Ansatz verbirgt?

Da mir Wagenscheins Pädagogik im Studium selbst noch nicht begegnet ist, bin ich sehr gespannt zu erfahren, welche Grundideen sich hinter all diesen polarisierenden Thesen verbergen und was ich daraus für mich selbst lernen kann.

2. Positionen Wagenschein

a. Vom Lernen und Lehren

Martin Wagenschein fordert uns mit seiner Idee vom Exemplarischen Unterricht zum Umdenken von Lehr- und Lernprozessen auf. Dabei war es sein zentrales Anliegen, dass die Institution Schule nicht weiter als „Erledigungsmaschine“ funktionieren darf, in der ein mechanisches Bild von Lehr- Lernprozessen entworfen und realisiert wird. Der lineare und systematisch organisierte Lehrgang, nach welchem der heutige Fachunterricht funktioniert, sei ihm zufolge nur logisch nachvollziehbar, keineswegs aber pädagogisch sinnvoll (vgl. Wagenschein 1970c: 28).

Seiner Meinung nach kommt den LuL in einer Schule, in welcher ,darlegender Unterricht[4] praktiziert wird, die Rolle der fordernden Belaster:innen zu, da sie die Kinder dazu drängen (müssen), vordiktierten Schulstoff möglichst lückenlos in sich aufzunehmen, stets mit dem Ziel, ihn in Prüfungssituationen wieder passgerecht abrufen zu können. (Vgl. ebd. 1970a: 333) Wagenschein kritisiert, dass der Unterricht allzu sehr auf das fertige Fach und seine zu- erlernenden-Inhalte ausgelegt sei und nicht auf das Denken der Kinder. Die Systematik des Stoffs werde mit der des Denkens verwechselt (vgl. ebd. 1970c: 29). Im klassischen Unterricht ist das Verhältnis vom ,Lehrstoff und den SuS durch eine Höhendifferenz gekennzeichnet, in welcher der ,Stoff über den Kindern steht. Diese Struktur impliziert, dass äußere Energie benötigt wird (das Schieben und Drücken der LuL), um die SuS zum Thema hin zu bewegen. (Vgl. ebd.)

Wagenscheins Unterrichts-Variante lässt sich als Opposition zum konventionellen Bild vom Lehren und Lernen bezeichnen, dessen Ziel es ist, die eben erwähnte Problematik aufzulösen. Dafür ist es notwendig, dass die Kinder ,über‘ dem Lerngegenstand gestellt werden. Nur dann bedarf es keiner weiteren externen Energie, um eine Annäherung zur Sache zu erzeugen: die SuS werden im besten Fall wie in einem Sog zur Sache hingezogen. Der Grundgedanke dieser Sog-Wirkung verdeutlicht sich auch in Wagenscheins Bildungsbegriff, welcher sich dadurch auszeichnet, dass ein „ergriffenes Ergreifen dazu gehört“ (ebd. 1970c: 40), wodurch die angestrebte Auseinandersetzung von Kind und Objekt herbeigeführt werde (vgl. ebd.). Er appelliert daran, dass effektives, wirksames Lehren und Lernen nur dort möglich sei, wo die LuL die Heranwachsenden für einen Gegenstand, der sie selbst zum Staunen bringt, begeistern und aktivieren können (zum dabei ebenso wichtigen Begriff der Fühlung folgt in 2c mehr).

Der Pädagoge verlangt als Konsequenz einen Wechsel der unterrichtlichen Blickrichtung. Weg vom Verständnis des Lernens als Ertragen, als stoffliches physisches Tun, hin zum Lernen als „helles Erwachen“ (ebd. 1970a: 334) des Kindes. Als „Licht“ (ebd.), welches sich entzünde, um sich greife und durch sich selbst nähre (vgl. ebd.). Wichtig ist dabei vor allem auch das modifizierte Rollenverständnis und -verhältnis von Schülerschaft und der Lehrenden. LuL müssten sich dabei nicht weiter als Fordernde, sondern vielmehr als Erweckende verstehen, die das Aufflammen der SuS durch entsprechende Anreize begünstigen. Auf Seite der Schülerschaft läge insofern ein Wandel vor, als dass sie nicht mehr im „Zerrbild eines Haufens widerspenstig gemachter Schulkinder“ (ebd. 1970b: 296) erscheinen würden, sondern in ihrer wahren Natur erkannt und geschult werden können: als „Inbild des lernenwollenden Menschenkindes.“ (ebd.)

Konkret bedeutet das eine Abkehr von Schule und Unterricht im konventionellen Sinne. Mit seiner Idee vom Exemplarischen Unterricht stellt er sich unzweifelhaft gegen das traditionell lineare und systematische Unterrichtsformat.

Wieso dem so ist, verdeutlicht sich außerdem in seinem für seine Pädagogik und Didaktik relevanten Begriff der Fühlung. Bevor dieser Ausdruck jedoch im weiteren Verlauf (2c) erläutert werden wird, ist es notwendig, sich Wagenscheins Definition von Bildungsprozessen nochmals vor Augen zu führen und resultierend daraus den Begriff des Exempels als Lehr­Lernfokus zu skizzieren:

Zum Gelingen von Bildungsprozessen ist es notwendig, dass zwischen der Sache (=dem Unterrichtsgegenstand in Form eines exemplarischen Phänomens o.Ä.) und den Kindern eine Spannung hergestellt wird. Die Sache muss ihnen also nahegehen, ihren Forscherdrang aktivieren und sie im günstigsten Falle nicht nur fachbezogen, sondern in Gänze (auch persönlich) euphorisieren. Um Kinder in ihrer Gänze erhellen zu können, schlägt Wagenschein eine konkrete Neukalibrierung und Beschränkung der Lerninhalte auf exemplarische Themenkreise und Gesichtspunkte vor. Exemplarischer Unterricht setzt voraus, den Lehrplan anders zu denken und impliziert die Hinterfragung dessen, was es überhaupt wert ist, gelernt und gelehrt zu werden. Dadurch wird der Vorgang des fundamentalen Verstehens in den Fokus des Unterrichts geschoben, statt einer schlichten, oft oberflächlichen Wissensanhäufung. Ein Exempel in Form eines realen und alltäglichen Fallbeispiels soll es den Kindern im Unterricht ermöglichen, ,Fundamentales‘ und ,Wesentliches‘ zu erfahren, zu erfassen und somit begreifen zu können. Sie zeichnen sich durch ihre „Bildhaftigkeit, Anschaulichkeit, Vorstellbarkeit, Eindeutigkeit, Geprägtheit und durch auffallende Nähe zum Konkreten [aus].“ (Eichelberger o.J.: 13). Dabei weisen sie über sich selbst hinaus und dienen dazu, Allgemeingültigkeiten zu veranschaulichen. (ebd.) Mittels Wissenstransfer soll es den Kindern schließlich möglich sein, von diesen elementaren Phänomen auf andere Phänomene und Problemstellungen zu schließen, sie voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen (vgl. Wagenschein. 1970c: 37ff., 40ff., 53).

b. Von (Schul-) Kindern

Die Konzeption dieses entdeckenden, exemplarischen Unterrichtskonzepts fußt auf der festen Überzeugung des Pädagogen, dass Kinder eine angeborene Lernleidenschaft besäßen (vgl. ebd. 1970b: 293). Wagenschein reiht sich mit dieser Geisteshaltung in die Tradition der Philosophie Rousseaus und Hobbes ein. Die Maxime dieser, der romantischen Epoche entstammenden Anthropologie, ist ein besonders respektbehafteter Blick und Umgang mit Kindern. Die Prämisse Wagenscheins Pädagogik ist folglich diese, dass Kinder etwas besäßen, was den Erwachsenen während ihres Aufwachsens verloren gegangen wäre. Erwachsenen ist es demnach ebenso möglich, von Kindern zu lernen, wie es Kinder von Erwachsenen können.

Wagenschein schreibt, dass die Strukturen der Schule (welche „Paukerei, Dressur und Scheinbildung“ (ebd.: 296) bergen) schuld daran seien, dass den Kindern die Freude am Lernen vergehe und sie im schulischen Kontext Widerwillen und Trotz entwickeln. Er nimmt dabei eine deutliche Unterscheidung vor zwischen Kindern und dem, was die Schule unbeabsichtigt aus ihnen formt: das zuvor bereits angedeutete Zerrbild „eines Haufens widerspenstig gemachter Schulkinder “ (ebd.: 296). Das Problem demotivierter, widerspenstiger SuS beruht auf dem modernen Massenbetrieb in den Schulen und auf die „Überfüllung der Köpfe mit sogenannten Lehrstoffen“ (ebd.) reagieren Kinder mit Widerstand und Unlust. Naturgemäß schlummere in den Kindern „die Lust zu lernen, die Bereitschaft zu üben, zur Selbstdisziplin, zur geistigen Zucht und der Wunsch, von uns Hilfe zu finden und Geleit, wo sie nicht weiterwissen.“ (ebd.: 296)

Wagenschein postuliert weiter, dass die falsche Lernumgebung und die Stofffülle früher oder später zu einer „Erstickung des geistigen Lebens“ (ebd.: 293) führen würden, und „eine unrentable und unredliche Scheinarbeit“ (ebd.) zur Folge hätten. Schule sei zu leicht geworden (vgl. ebd.: 297), da sie die Kinder geistig nicht (heraus-)fordere und deshalb auch nicht fördere. Um den SuS die Unlust zu nehmen und in ihnen die Freude am Lernen (also auch: das Kind in ihnen) wieder zu wecken („Glück macht klug!“ vgl. ebd. 1970e: S. 345), sei es notwendig, sie geistig wirklich zu aktivieren. Schulischer Unterricht müsse den Kindern ein Anlass sein, um bildende Begegnungen mit den Dingen der geistigen Welt erleben zu können (vgl. ebd.: 296). Fernab von starren Vorgaben und Disziplinierungen werde dadurch die Freude als entscheidender Faktor des Lernens befreit. Sofern dies geschehe, sei kein weiteres Drängen, Disziplinieren und auch kein Antreibender mehr nötig. Die Kinder drängen dann von selbst nach vorn, ganz in-der-Sache-versenkt, um selbstständig und -tätig Antworten auf ihre Fragen zu finden (vgl. ebd.: 197e: 345).

c. Von Fühlung im Unterricht

Diese (geistige) Aktivierung der Kinder im Unterricht zu erreichen ist, folgt man Wagenschein, also Aufgabe der Schule. Wie das funktioniert, erschließt sich vor allem in seinem Begriff der Fühlung. Die Grundvoraussetzung zum Lernen, um den Funken „der echten und vollkommenden Einsicht [zu entzünden]“ (1970b: 294), liegt (das wurde eben deutlich) bereits in der Natur eines jeden Kindes: in seinem gesunden Menschenverstand und seiner angeborenen Lust zu lernen.

Das im Exemplarischen-Unterricht angestrebte Nahegehen der Sache geht mit dem Zustand der sogenannten Fühlung einher, da dieser es den SuS ermöglicht, sich ganzheitlich in-einer-Sache- versenken zu können. Dieser Zustand kann sich allerdings nur dann einstellen, wenn im Unterricht exemplarische Themen von Welt behandelt werden, welche die Neugierde der SuS wecken und in ihnen so eine intrinsische Motivation zum (selbstständigen) Denken auslösen.

Es gibt zwei verschiedene Wege, um die SuS in Fühlung mit einer Sache zu bringen. Dabei kennzeichnen zwei didaktische Elemente das Prinzip des exemplarischen Verfahrens nach Wagenschein. Je nachdem, ob das Exempel physisch präsentierbar ist und somit für sich selbst stehen kann, oder nicht, entscheidet man zwischen der genetischen (1) und der sokratischen (2) Methode des genetischen Lehrens.

[...]

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Ein Stundeneinstieg im Sinne von Wagenscheins Denk- und Lehrtradition. Martin Wagenschein als Pädagoge und Allgemeindidaktiker
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Erziehungswissenschaften/ Schulpädagogik)
Veranstaltung
Martin Wagenschein als Pädagoge und Allgemeindidaktiker. Genetisch-sokratisch-exemplarisch unterrichten
Note
1,0
Jahr
2021
Seiten
14
Katalognummer
V1304064
ISBN (Buch)
9783346772916
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wagenschein, Genetisches Lernen, Reformpädagogik, Schule, Unterricht, Unterrichtseinstieg, Exemplarisches Lernen
Arbeit zitieren
Anonym, 2021, Ein Stundeneinstieg im Sinne von Wagenscheins Denk- und Lehrtradition. Martin Wagenschein als Pädagoge und Allgemeindidaktiker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1304064

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Im eBook lesen
Titel: Ein Stundeneinstieg im Sinne von Wagenscheins Denk- und Lehrtradition. Martin Wagenschein als Pädagoge und Allgemeindidaktiker



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden