Unterstützung betrieblicher Lernprozesse durch Reflexionsgespräche

Ein konzeptioneller Vorschlag zur Gestaltung von Reflexionsgesprächen als neue Lernform


Diploma Thesis, 2005

102 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Reflexion und betriebliches Lernen
2.1 Reflexion: Definition und theoretische Modelle
2.1.1 Reflexion im wissenschaftlichen Diskurs
2.1.2 Reflexion im Kontext von Lernprozessen
2.1.3 Zusammenfassung und Arbeitsdefinition
2.2 Reflexion in betrieblichen Lernprozessen
2.2.1 Erfahrungslernen durch Reflexion
2.2.2 Reflexive Handlungsfähigkeit als Ziel beruflich-betrieblicher Bildung

3 Reflexionsgespräche zur Unterstützung betrieblichen Erfahrungslernens
3.1 Charakteristika eines Reflexionsgesprächs
3.2 Sprache zur Förderung von Reflexion
3.2.1 Die intrakommunikative Funktion der Sprache
3.2.2 Ericssons und Simons Modell der Verbalisierung
3.2.3 Reflexion impliziten Wissens durch Explikation
3.2.4 Effekte der Verbalisierung für Lern- und Reflexionsprozesse
3.3 Förderung von Reflexion in Gesprächen
3.3.1 Die Bedeutung eines Gesprächspartners
3.3.2 Der Einfluss von W-Fragen
3.3.3 Der Einfluss von Feedback
3.4 Einschränkende Faktoren von Reflexionsgesprächen
3.5 Das Reflexionsgespräch als Methode zur Unterstützung des Erfahrungslernens

4 Reflexionsgespräche in der arbeitsprozess-orientierten IT-Weiterbildung
4.1 Die arbeitsprozessorientierte Weiterbildung als konzeptioneller Rahmen für das Reflexionsgespräch
4.1.1 Das IT-Weiterbildungssystem
4.1.2 Das Konzept der arbeitsprozessorientierten Weiterbildung
4.1.3 Lernprozessbegleitung als zentrales Element des APO-Konzepts
4.2 Konzeption des Reflexionsgesprächs in der arbeitsprozessorientierten IT-Weiterbildung
4.3 Die Anwendung des Reflexionsgesprächs in der arbeitsprozessorientierten Weiterbildung am Beispiel des Projekts ITAQU
4.3.1 Das Projekt ITAQU
4.3.2 Durchführung der Untersuchung
4.3.3 Das Reflexionsgespräch im Projekt ITAQU
4.4 Abschließende Betrachtung des Reflexionsgesprächs in der arbeitsprozessorientierten Weiterbildung

5 Konzeptioneller Vorschlag für die Gestaltung von Reflexionsgesprächen als neue Lernform
5.1 Reflexionsgespräche als Lernform
5.2 Der Coach
5.2.1 Die Rolle des Coachs
5.2.2 Kompetenzen des Coachs
5.3 Phasen und Ablauf
5.3.1 Phasen der Lernform Reflexionsgespräch
5.3.2 Die Gestaltung von Reflexionsgesprächen
5.4 Sicherung von Reflexionsergebnissen
5.5 Rahmenbedingungen des Reflexionsgesprächs

6 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Anhang
I. Abschließender Teilnehmerfragebogen (Auszug)
II. Auszug Interviewleitfaden zur abschließenden Befragung der Teilnehmer 1.Durchgang im Projekt ITAQU
III. Screenshot Codesystem `Reflexionsgespräche´ in MaxQDA
IV. Leitfaden Reflexionsgespräch im Projekt ITAQU

Erklärung

1 Einleitung

Eine Aufgabe der Berufs- und Betriebspädagogik ist das theoriegeleitete und empirisch gestützte Entwickeln betrieblicher und überbetrieblicher Qualifizierungskonzepte. Diese müssen sich an den gegenwärtigen Anforderungen an Beschäftigte und Betriebe orientieren. Beschäftigte und Betriebe sind wiederum betroffen von einer zunehmenden Dynamik wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen im letzten Jahrzehnt. Mit dem Wandel der Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft fand eine Abkehr von tayloristischen Prinzipien hin zu einer verstärkten Flexibilisierung, Enthierarchisierung sowie Deregulierung beruflicher Tätigkeiten statt, die zu teilweise stark veränderten Anforderungen geführt hat. Aus der ökonomischen Sicht der Betriebe steht die Verbesserung und Optimierung von Arbeitsstrukturen und Arbeitsergebnissen im Sinne einer Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund (vgl. Dehnbostel 2001, S.54). Mitarbeiter müssen in der Lage sein, selbstorganisiert und selbstgesteuert zu arbeiten und zu lernen. Insbesondere vor dem Hintergrund der abnehmenden Halbwertszeit einmal erworbenen Wissens gewinnt die Fähigkeit, sich selbständig im Rahmen des lebenslangen Lernens neues Wissen zu erschließen, stetig an Bedeutung.

Dementsprechend besteht ein an Berufs- und Betriebspädagogen gerichteter Bedarf an der Entwicklung von Qualifizierungskonzepten und Lernformen, die es Lernenden erlauben, selbstgesteuert und handlungsorientiert im Prozess der Arbeit zu lernen. Als Ziel des Lernens wird Kompetenzentwicklung im Sinne einer reflexiven Handlungsfähigkeit gesehen. Der Lernende soll in die Lage versetzt werden, nicht nur kompetent die Anforderungen von Arbeit und Gesellschaft zu bewältigen, sondern über sich und seine Umgebung zu reflektieren und so Veränderungen mitzugestalten. Qualifizierungskonzepte, die das Lernen im Prozess der Arbeit beinhalten, sind zumeist durch informelles Lernen, also ein nicht organisiertes Lernen über Erfahrung, geprägt (vgl. Dehnbostel 2005, S.2). Im Rahmen des informellen Lernens hat sich besonders die Reflexion als Schlüsselelement für das bewusste Lernen über Erfahrung herausgestellt. Demzufolge besteht ein berufs- und betriebspädagogischer Bedarf an einer vertiefenden Untersuchung, um festzustellen, welche Funktion Reflexion für beruflich-betriebliches Lernen hat und wie Reflexion über geeignete Lernformen gefördert werden kann, um so ein betriebliches Lernen zu unterstützen.

Die vorliegende Arbeit untersucht vor diesem Hintergrund das Reflexionsgespräch. Ziel der Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie durch Reflexionsgespräche betriebliches Lernen unterstützt werden kann.

Dazu wird in Kapitel 2 zunächst eine grundlegende Vorannahme für die Fragestellung dieser Arbeit überprüft. Um die Frage nach dem „Wie“ beantworten zu können, muss zunächst überprüft werden, ob eine Unterstützung betrieblicher Lernprozesse durch Reflexion möglich ist. Dazu findet eine Begriffsbestimmung von Reflexion sowie deren Einordnung in betriebliche Lernprozesse statt.

In Kapitel 3 wird Bezug auf das Reflexionsgespräch genommen und herausgearbeitet, wie durch die Charakteristika des Reflexionsgesprächs, nämlich das Sprechen und ein Gesprächspartner, der Reflexionsprozess eines Lernenden unterstützt werden kann. Kapitel 2 und 3 stellen eine theoretische Auseinandersetzung mit Reflexion und Reflexionsgesprächen dar und dienen der theoretischen Grundlegung dieser Arbeit.

In Kapitel 4 wird die praktische Umsetzung von Reflexionsgesprächen im Rahmen einer explorativen Untersuchung vorgestellt. Am Beispiel des Reflexionsgesprächs in einer arbeitsprozessorientierten IT-Weiterbildung wird untersucht, wie das Reflexionsgespräch in moderne Arbeitsprozesse integriert werden kann und so ein Lernen in der Arbeit unterstützen kann.

Das Kapitel 5 fasst die Ergebnisse der drei vorangegangenen Kapitel zusammen. Theoriegeleitet und empirisch gestützt wird ein konzeptioneller Vorschlag für das Reflexionsgespräch als neue Lernform entwickelt. Dieser konzeptionelle Vorschlag soll den Transfer von Reflexionsgesprächen aus der arbeitsprozessorientierten IT-Weiterbildung in andere Qualifizierungskonzepte, die ein Lernen in der Arbeit integrieren, sowie vertiefende Untersuchungen ermöglichen. Zudem beantwortet diese konzeptionelle Darstellung die zentrale Frage der Arbeit. Sie zeigt auf, wie mit der Lernform `Reflexionsgespräch´ betriebliches Lernen unterstützt werden kann.

In der folgenden Argumentation wird die Vielzahl an philosophischen Ansätzen, die zu Reflexion und Reflexionsgesprächen entwickelt wurden, bis auf eine Ausnahme, Dewey, ausgeklammert. Genauso werden auch Konzepte zu Reflexionsgesprächen in Beratungs-, Coaching- oder Therapie-Ansätzen nur stellenweise einbezogen. Der Begriff `Reflexion´ wird in diesen großen Bereichen zum Teil sehr verschieden verwendet und die Zielsetzung der, in diesen Ansätzen entwickelten, Reflexionsgespräche entspricht nicht der Fragestellung dieser Arbeit. Es sind deshalb im theoretischen Teil vor allem Ansätze aufgegriffen worden, die Reflexion in den Kontext von Lernen stellen. Ebenso stellt das Praxis-Beispiel, die arbeitsprozessorientierte IT-Weiterbildung, ein Konzept dar, das Reflexionsgespräche zur Unterstützung von Lernprozessen einsetzt, und wird deshalb umfassend beschrieben.

Anlass für diese Themenwahl war die zweijährige Mitarbeit in der wissenschaftlichen Begleitung einer arbeitsprozessorientierten IT-Weiterbildung im Rahmen des Projekts ITAQU. In dieser Zeit wurde deutlich, dass Reflexionsgespräche methodisch im Mittelpunkt der Qualifizierung stehen, sie aber auch hohe Anforderungen an das Bildungspersonal und die Teilnehmer stellen. Das zentrale Konstrukt, die Reflexion, ist nahezu jedem Menschen bekannt und wird tagtäglich verwendet. Trotzdem kann kaum jemand präzise sagen, was Reflexion ist. Vor diesem Hintergrund entstand diese Arbeit.

2 Reflexion und betriebliches Lernen

Dieses Kapitel untersucht die Vorannahme, dass betriebliche Lernprozesse[1] durch Reflexion unterstützt werden können. Dazu erfolgt in diesem Kapitel eine Beschreibung und Definition des, für diese Arbeit grundlegenden, Be­griffs `Reflexion´. Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung wird Reflexion in betriebliche Lernprozesse eingeordnet und die Verbindung zwischen Reflexion und Lernen herausgearbeitet.

2.1 Reflexion: Definition und theoretische Modelle

2.1.1 Reflexion im wissenschaftlichen Diskurs

Der Begriff Reflexion ist auf das lateinische Wort `reflecto´, rückwärts biegen, zurückzuführen. Umgangssprachlich wird unter Reflexion zum einen die physikalische Bedeutung, das Zurückwerfen von Licht, Schallwellen und ähnlichem an Körperoberflächen oder zum anderen das Nachdenken bzw. das vergleichende und prüfende Denken verstanden.

In der geistes- und sozialwissenschaftlichen Verwendung findet sich keine einheitliche Definition des Begriffes Reflexion (vgl. Law/Mandl/Henninger 1998, S.5 f.; Atkins 1993, S.1189). Reflexion ist als Begriff in der Pädagogik, Psychologie und Philosophie zu finden und wird der jeweiligen Perspektive entsprechend verschieden verwendet. Zudem scheint Reflexion für sehr unterschiedliche geistige Tätigkeiten eine Rolle zu spielen. „Perhaps one of the reasons for the confusion around the definition of reflection is the unfortunate use of a single word to signify something that involves so many different facets, given its multiple roles in intellectual activities” (Law/Mandl/Henninger 1998, S.21). Tisdale verweist in diesem Zusammenhang auf die Nähe von Reflexion zu Denkprozessen. Ebenso wie der Begriff des Denkens nicht einheitlich definiert ist und sehr unterschiedlich Verwendung findet, wird auch der Begriff der Reflexion unterschiedlich verwendet (vgl. Tisdale 1998, S.5).

Die Ursprünge der wissenschaftlichen Reflexionsforschung sind auf die Philosophen Sokrates und Platon zurückzuführen. Als Beispiel kann hier der Sokratische Dialog genannt werden (vgl. Weisbach 1990, S.62), dessen Ziel der Erkenntnisgewinn durch Reflexion in Dialogform darstellt (vgl. Zehnpfennig 1987, S.13). Als Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Reflexionsforschung wird der amerikanische Philosoph Dewey mit seinem Werk „How we think“ (1910/1951) gesehen. In diesem überwiegend auf den philosophischen Vordenkern begründeten Werk wird Reflexion als Denkprozess aufgefasst, der Lern- und Problemlöseprozesse unterstützen kann. Fast alle weiteren theoretischen Modelle bauen, zumindest in Teilen, auf Deweys theoretischen Ansatz auf. Diese lassen sich verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen zuweisen, in denen Reflexion aus unterschiedlichen Perspektiven im Fokus der Forschung steht.

In der Entwicklungs- und Pädagogischen Psychologie wird Reflexion in Bezug auf die kindliche Entwicklung untersucht. Als Hauptvertreter ist Piaget mit seiner Stufentheorie der kognitiven kindlichen Entwicklung zu nennen (vgl. Buggle 1997, S.24 ff.). In dieser Theorie entwickelt das Kind mit zunehmendem Alter die Fähigkeit zur Reflexion weiter und ermöglicht damit eine bessere Selbstregulation.

In der beruflichen Bildung sowie der Arbeits- und Organisationspsychologie wird Reflexion vor allem auf ihre Bedeutung für Lernprozesse untersucht. Es sind hierbei zwei Hauptvertreter zu nennen, zum einen Kolb mit seinem Modell des Erfahrungslernens (1984) und zum anderen Schön mit seinem Modell des reflexiven Praktikers (1983). Beide betonen die Bedeutung von Reflexion für die Transformation von Erfahrung in Lernen.

Eine dritte wissenschaftliche Richtung, in der Reflexion als wesentliches Element von Denk- und Handlungsprozessen im Fokus der Forschung steht, ist die Problemlöseforschung. Als Hauptvertreter ist hier Dörner (1979; 2002) zu nennen. Reflexive Prozesse werden in Bezug auf die Problem- und (innere) Konfliktlösung untersucht.

2.1.2 Reflexion im Kontext von Lernprozessen

Jede der beschriebenen Forschungsrichtungen definiert Reflexion unterschiedlich. Es ist deshalb notwendig, eine Einengung des Begriffs auf seine Bedeutung für Lernprozesse vorzunehmen und diesen Aspekt zu vertiefen. Dazu werden nachfolgend drei theoretische Ansätze vorgestellt, die in ihrem Schwerpunkt die Bedeutung von Reflexion für Lernprozesse untersuchen. An diesen Ansätzen werden wesentliche Merkmale von Reflexion im Kontext von Lernprozessen deutlich gemacht. Neben Deweys Modell als Ausgangspunkt der Reflexionsforschung werden die arbeitspsychologischen Modelle von Schön und Kolb beschrieben. Im Vordergrund der Darstellung stehen die Fragen, was Reflexion ist und wie die Verbindung zwischen Reflexion und Lernprozessen aussieht.

Deweys Modell des „reflektierenden Nachdenkens“

Für Dewey (1910/1951) stellt Reflexion eine Art des Denkens dar, mit der ein Problem vor dem Hintergrund vorangegangener Erfahrung gelöst wird. Seine Ideen sind überwiegend durch die Werke von Sokrates, Platon und Locke geprägt. Reflexion hat für Dewey die Funktion, die dialektische Beziehung zwischen Wissen und Handeln zu regulieren. In diesem Sinne ist reflektierendes Denken ein Werkzeug zur Problemlösung und lässt sich als Kreislauf des wiederholten Nachdenkens über das eigene Denken und Handeln darstellen.

„Reflektierendes Denken besteht in einem regem, andauernden, sorgfältigen Prüfen von etwas, das für wahr gehalten wird, und zwar im Lichte der Gründe, auf die sich die Ansicht stützt, und der weiteren Schlüsse, denen sie zustrebt“ (Dewey 1910/1951, S.6).

Dewey unterscheidet zwischen zwei Arten der Reflexion: zum einen dem wahrnehmungsbezogenen Nachdenken und zum anderen dem reflektierenden Nachdenken. Beim wahrnehmungsbezogenen Nachdenken wird sich an die äußerlich wahrnehmbaren Anforderungen einer Situation angepasst. Dadurch werden speziell auf die Situation bezogene ad hoc-Handlungen erreicht. Beim reflektierenden Nachdenken werden innere symbolische Repräsentationen der Person manipuliert und so reflektierte Handlungen erreicht.

Dewey unterscheidet fünf Stufen des reflektierenden Nachdenkens (vgl. Dewey 1910/1951, S.75 ff.): Auf der ersten Stufe tritt ein Problem auf, das zum Beispiel in Form einer Beunruhigung bewusst wird. Dieses wird auf der zweiten Stufe präzisiert und definiert. Auf der dritten Stufe entsteht eine mögliche Erklärung oder Lösung, die auf der vierten Stufe rational überprüft und gegebenenfalls verworfen oder geändert wird. Abschließend wird die herausgearbeitete Lösung „experimentell“ überprüft. Treten die gewünschten Ergebnisse ein, ist damit der Reflexionsprozess beendet. Nach Dewey kann dieses reflektierende Denken durch erzieherische Prozesse geschult werden.

„Wir können denjenigen als geistig geschult bezeichnen, der am besten das Maß an Beobachtung und experimentellem Prüfen beurteilen kann, das der Behandlung eines bestimmten Problems entspricht, und der aus früher begangenen Fehlern den größten Nutzen zieht“ (Dewey 1910/1951, S.82).

Reflektierendes Denken stellt damit gemäß Dewey sowohl eine Methode zum Problemlösen als auch zum Lernen aus Erfahrung dar und ist selber lehr- und lernbar. Schon in diesem Ansatz wird also herausgearbeitet, dass Lernen durch Reflexion unterstützt werden kann. Durch das geistige Bearbeiten von Problemen kann gemäß der im Stufenmodell der Reflexion festgehaltenen Methodik ein Lernen aus Erfahrung stattfinden.

Dewey stellt besonders die Sprache als wichtiges Werkzeug des reflektierenden Denkens heraus (vgl. Dewey 1910/1951, S.181 ff.). Sprache ist ein Bedeutungsträger, der eine bewusste Übertragung von Erfahrungen auf zukünftige Situationen ermöglicht.

„Vergangenes zu verwerten, Neues und Unbekanntes zu beurteilen und Folgerungen zu ziehen setzt voraus, dass, obwohl das Ding nicht mehr vorhanden ist, die Bedeutung erhalten blieb, und zwar in einer Form, die es erlaubt, sie zur Beurteilung der Eigenschaften des Neuen anzuwenden. Die Sprache ist ein wichtiger Träger: Sie ist ein flinkes Gerät, das Bedeutungen von Erfahrungen, die uns nicht mehr länger beschäftigen, dorthin befördert, wo sie benötigt werden, damit sie auf Dunkles und Unverstandenes angewendet werden können“ (Dewey 1910/1951, S.186).

Sieht man diese Darstellung von Sprache im Zusammenhang mit Deweys Gesamtkonzept, können „Kommunikation und Handeln in einem sozialen Setting als Ausdruck nach außen gerichteten reflektierenden Denkens betrachtet werden“ (Henninger/Mandl/Law 1998, S.238). Neben dem inneren Sprechen spielt damit auch die verbale Kommunikation mit sozialen Interaktionspartnern für reflektierende Denkprozesse eine zentrale Rolle.

Schöns Modell des „reflexiven Praktikers“

Schön vertieft in seinem Ansatz Deweys Idee eines Lernens aus Erfahrungdurch Reflexion. Mit „The reflective Practitioner” (1983) hatte er Ende der 1980er im englischsprachigen Raum einen erheblichen Einfluss auf konstruktivistische Ansätze beruflicher Bildung[2], beispielsweise auf die Lehrerbildung (Altrichter 2000, S.201). Reflexion ist in diesem Modell ein Dialog zwischen Denken und Handeln, der es dem Praktiker ermöglicht, seine Aufgaben zu bewältigen. Die Aufgaben zeichnen sich nach Schön in der tatsächlichen Praxis vor allem durch komplexe Probleme aus. Er unterscheidet zur Problemlösung durch professionelles Handeln zwei Reflexionsarten, der Reflexion-während-der-Handlung („reflection-in-action“) und der Reflexion-über-die-Handlung („reflection-on-action“).

Die Reflexion-während-der-Handlung ermöglicht es dem Praktiker, Handlungsprobleme, bei denen ihm sein schweigendes Wissen-in-der-Handlung („tacit knowing-in-action“) nicht mehr hilft, durch Reflexion zu lösen, während die Handlung ausgeführt wird[3]. Diese „reflective conversation with the situation“ (Schön 1983, S.103) ist durch die Phasen Problemdefinition, Erstellung von Rahmenexperimenten und deren Evaluation in der unmittelbaren Situation gekennzeichnet (vgl. Schön 1983, S.141 ff.; Altrichter 2000, S.205 ff.). Reflexion dieser Art setzt ein Bewusstsein über eigenes Wissen voraus, muss aber von dem Praktiker nicht unbedingt in verbalisierter Form stattfinden. Das Ergebnis ist ein auf den gegenwärtigen Augenblick abgestimmtes Handeln.

Die zweite von Schön beschriebene Reflexionsart, der Reflexion-über-die-Handlung, ist ein Zurücktreten und Aussteigen aus dem Handlungsfluss zum Zwecke der Reflexion über eine bereits ausgeführte Handlung oder noch auszuführende Handlungen. Die reflexive Betrachtung erfolgt, indem die Handlung kognitiv begrifflich oder bildhaft gefasst, gespeichert und analysiert wird. Dazu wird das Handlungswissen explizit formuliert, es wird so analysierbar und reorganisierbar. Gravierende Handlungsprobleme, die auf Unzulänglichkeiten oder Fehler in dem Handlungswissen zurückzuführen sind, können durch eine Veränderung des Wissens behoben werden. Zudem wird das Wissen mitteilbar, so dass es besprechbar und kritisierbar wird. Allerdings verlangsamt diese Bewusstmachung im Rahmen der Reflexion Handlungen und schafft Unsicherheit bei Handlungen, die vorher eingespielt waren. Diese Art der Reflexion wird zudem durch situative Gegebenheiten eingeschränkt. Sie ist abhängig von der Möglichkeit, dass eine Handlung unterbrochen werden kann und diese Unterbrechung so lange andauern kann, bis die Reflexion abgeschlossen wurde (vgl. Altrichter 2000, S.208).

Altrichter stellt in einer zusammenfassenden Darstellung Reflexion-über-die-Handlung als das heraus, „was alltags- und vielfach auch wissenschaftssprachlich als `Reflexion´ bezeichnet wird“ (Altrichter 2000, S.210). Gemäß Schön ist aber die Reflexion-während-der-Handlung für das beruflich-professionelle Handeln von größerer Bedeutung. Sie ist „konzeptuell komplexer, weiter entwickelt und funktionell bedeutsamer als die Reflexion über das Handeln“ (Henninger/Mandl/Law 1998, S.241; Hervorhebung im Original), da diese Reflexionsart ständig und unmittelbar im Einsatz ist, während die Reflexion-über-die-Handlung eine Ergänzung zum Beispiel bei der Lösung größerer Probleme darstellt. Die Entwicklung einer umfassenden Handlungsfähigkeit verläuft nach Schön allerdings in drei Phasen: zunächst erfolgt die fachlich-technische Qualifikation, dann wird durch die Reflexion-über-die-Handlung gelernt, um schließlich durch die Reflexion-während-der-Handlung in der laufenden Handlung Probleme zu beseitigen oder dauerhaft zu lernen (vgl. Kap. 3.3.2; Henninger/Mandl/Law 1998, S.241).

Den Kontext für diese Entwicklung stellt das Praktikum als „die `probemäßige´ Teilnahme an einer Expertenkultur“ dar. Durch die soziale Interaktion zwischen dem Lernenden und einem erfahrenen Experten kann wirksam eine Lernumgebung geschaffen werden, in der durch reflektierende Dialoge gelernt wird. Kommunikation ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung für Schöns Konzept (vgl. Altrichter 2000, S.211). Gespräche müssen dabei immer auf Lern- und Arbeitshandlungen bezogen sein und sollten durch sie konkretisiert werden. Reflexion kann zum Beispiel durch Fragen von außen angeregt werden (vgl. Henninger/Mandl/Law 1998, S.241).

Kolbs Theorie des Erfahrungslernens

Kolb stellt mit seiner „experiential learning theory“ (1984) ein eklektisches Modell von Reflexion vor, das auf den Ansätzen von Dewey und den Entwicklungspsychologen Piaget und Vygotsky aufbaut. Grundannahme des Modells ist eine Definition von Lernen als den „process whereby knowledge is created through the transformation of experience. Knowledge results from the combination of grasping and transforming experience” (Kolb 1984, S.38). Reflexion stellt in diesem Sinne einen adaptiven Mechanismus dar, um Erfahrung in Wissen zu transformieren. Erfahrungslernen wird in dem Konzept als ein Zyklus von vier Lernphasen gesehen. Die vier Lernphasen dienen der Bewältigung eines Problems und werden so lange durchlaufen, bis dieses Problem durch effizientes, neu erworbenes Verhalten bewältigt werden kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Zirkuläres Lernprozessmodell von Kolb (in Erpenbeck 2002, S.149)

Die in Abbildung 1 dargestellt, steht am Beginn des Reflexionsprozesses die konkrete Erfahrung, auch hier in Form eines Problems. Um dieses Problem weiter zu bearbeiten, muss die Person ihm einen Sinn zuschreiben. Dazu werden die persönlich gewonnen Erfahrungen zu Beobachtungen zusammengefasst und in Reflexionen durchdacht. Auf Basis dieser Reflexionen können alternative Lösungskonzepte entwickelt bzw. abstrahiert werden. Dazu werden die Reflexionen zu fachlich-methodischen Konzepten verallgemeinert. In einem vierten Schritt wird durch aktives Experimentieren der Erfolg der Lösungsansätze „…in der Regel in sozial-kommunikativen, lernintensiven Abstimmungsprozessen…“ (Erpenbeck 2002, S.149) überprüft. Der Lernprozess endet, wenn ein Lösungsansatz erfolgreich in das Handeln integriert werden kann. Aus der aktiven Anwendung in neuen Situationen resultieren wiederum neue konkrete Erfahrungen, der Zyklus kann sich erneut abspielen. In diesem Prozess ist die Erfahrung also der Auslöser, während Reflexion das Lernen aus Erfahrung möglich macht.

„Simple perception of experience alone is not sufficient for learning; something must be done with it. Similarly, transformation alone cannot represent learning, for there must be something to be transformed, some state or experience that is being acted upon” (Kolb 1984, S.42).

Sowohl Reflexion als auch Erfahrung sind nach Kolb somit Voraussetzungen, dass Erfahrungslernen stattfinden kann.

Kolb konnte durch empirische Untersuchungen den Begriff des Erfahrungslernens in Anlehnung an sein Modell in vier Lernstile differenzieren (vgl. Kolb 1984, S.61 ff.). Jeder dieser Lernstile fokussiert eine andere Vorgehens- und Lernweise bei Problemlöseprozessen, jeder hat situationsabhängig verschiedene Stärken und Schwächen und setzt verschiedene Fähigkeiten des Lernenden voraus. Dementsprechend gibt es keine hierarchische Rangordnung der Lernstile, bei der zum Beispiel ein theoretisch-abstraktes Lernen an höchster Stelle steht. Das Ziel einer Weiterentwicklung der Fähigkeiten einer Person zum Erfahrungslernen ist nicht die Höherentwicklung zu mehr Theorie und Abstraktion, sondern eine Ausdifferenzierung der einzelnen Lernstile. „Der Aufbau eines immer differenzierteren geordneten Erfahrungsschatzes verdient dann die gleiche Anerkennung wie die Erarbeitung einer differenzierten Theorie“ (Dohmen 2001, S.30 f.).

Bezogen auf Reflexion bedeutet dies, dass ein Lernen durch die tiefgehende persönliche Reflexion konkreter Erfahrungen und individueller Beobachtungen vorrangig Menschen möglich ist, die diesbezüglich entsprechende Fähigkeiten mitbringen. Das bedeutet allerdings ebenfalls, dass auf Reflexion basierende Lernprozesse durch die (Weiter-)Entwicklung entsprechender Fähigkeiten und Kompetenzen unterstützt werden können (vgl. Erpenbeck 2002, S.151).

2.1.3 Zusammenfassung und Arbeitsdefinition

Die dargestellten Reflexionsmodelle zusammenfassend, lässt sich Reflexion wie folgt beschreiben: Reflexion ist ein kognitiver Prozess, der Denken und Handeln miteinander verbindet. Reflexion wird im Rahmen von Lern- oder Problemlöseprozessen zielgerichtet eingesetzt (Dewey 1910/1951). Auslöser für Reflexionen können Probleme in Handlungsabläufen oder auch Emotionen wie Zweifel oder Erstaunen sein (Kolb 1984; Schön 1983; Piaget 1953). Reflexion im Kontext von Lernprozessen wird in den dargestellten Ansätzen als bewusste

Aktivität einer Person gesehen[4]. Erst nachdem der Aufmerksamkeitsfokus auf den Reflexionsinhalt verschoben und dieser damit ins Bewusstsein gerückt wurde, kann Reflexion stattfinden.

Grundlegend und allen dargestellten Modellen gemeinsam scheint ein konstruktivistisches Verständnis von Lernen zu sein. Lernen im konstruktivistischen Verständnis bedeutet, dass Lernprozesse eine aktive Konstruktion von Wissen durch einen Lernenden darstellen. Die Konstruktion erfolgt durch die Verbindung von neuen Informationen mit vorhandenem Wissen. Dabei wird durch Reflexion unter anderem das bereits bestehende Wissen bewusst gemacht und in Verbindung mit den neuen Informationen neu organisiert und strukturiert (vgl. Siebert 1996, S.30 f.). Situationsbezogenes Wissen kann durch Reflexion dekontextualisiert und auf andere Situationen übertragen werden. Das bedeutet, dass durch Lernen bestehendes Wissen verändert bzw. transformiert wird.

Die zentrale Funktion von Reflexion für Lernprozesse besteht damit in der Unterstützung dieses Transformationsprozesses. Reflexion kann nach bzw. vor und während einer Handlung stattfinden. Während einer Handlung können Aktivitäten bewusst beeinflusst und so optimiert werden. Das erfahrungsgeleitete Expertenhandeln zeichnet sich durch eine effektive Reflexion-während-der-Handlung aus. Nach der Handlung dient sie der Bewertung von durchgeführten Aktivitäten. Vor der Ausführung einer Handlung kann durch Reflexion eine Art Handlungsplanung stattfinden (Schön 1983, S.40). Reflexion in Reflexionsgesprächen entspricht der Reflexion-über-die-Handlung.

Ursache für diesen Transformationsprozess kann zum einen sein, dass durch neue Erfahrungen altes Wissen aktualisiert wird, oder zum anderen, dass das bestehende Wissen nicht mehr ausreicht, um eine Situation während des beruflichen Handelns zu bewältigen (vgl. Schön 1983, S.61 f.). In diesem Moment wird die Aufmerksamkeit auf diese Situation gerichtet, das Problem wird bewusst und kann so zielgerichtet bearbeitet werden. Im weiteren Verlauf des Prozesses werden dann, basierend auf Erfahrungen und unter zu Hilfenahme neuer Informationen, neue Handlungsoptionen entwickelt und erprobt (vgl. Phasenmodelle Dewey 1910/1951; Kolb 1984).

Die beschriebenen Modelle weisen einen Zusammenhang zwischen reflexionsunterstütztem Lernen und Problemlöseprozessen auf, Lernen als Konstruktionsprozess scheint auf problemhaltige Situationen angewiesen zu sein. Ein Grund dafür kann der Aspekt Motivation sein, der für die bewusste Entscheidung für oder gegen die Reflexion bestimmter Erfahrungen verantwortlich sein kann (vgl. Latzel 2004, S.30). Probleme im Arbeitsalltag, die unter Umständen sogar auf die emotionale Ebene ausstrahlen, können eine hohe extrinsische Motivation[5] auslösen.

Die Ansätze von Schön (1983) und Dewey (1910/1951) verweisen auf die Bedeutung der Sprache für Reflexionsprozesse. Besonders soziale Interaktion, zum Beispiel in Form von Gesprächen mit Experten, kann einen positiven Effekt auf den Reflexionsprozess eines Lernenden haben (Schön 1983). Wie genau die Effekte von Verbalisierung und Konversation in Hinsicht auf Reflexionsgespräche einzuordnen sind, wird im Folgenden noch zu klären sein.

Aus dieser Zusammenfassung lassen sich verschiedene Merkmale von Reflexion im Kontext von Lernprozessen entnehmen:

- Lernen durch Reflexion findet als aktive Konstruktion von Wissen statt und baut auf bestehendem Wissen auf oder verändert dieses. Es ist dementsprechend ein individueller und selbstbezogener Vorgang.
- Auslöser von Reflexionsprozessen sind vor allem Probleme in Handlungs-abläufen.
- In Reflexionsprozessen wird die Aufmerksamkeit auf das Problem und mögliche Handlungsoptionen verschoben, Bewusstsein stellt ein Merkmal von Reflexionsprozessen dar.
- Reflexion verläuft als zirkulärer, sich wiederholender Prozess.
- Erfahrungen sowie bestehendes Wissen können durch Reflexion bewusst gemacht bzw. rekapituliert werden.

Aus diesen Merkmalen lässt sich für diese Arbeit folgende Arbeitsdefinition entwickeln:

Reflexion ist ein kognitiver Prozess, den eine Person bewusst im Rahmen von Lern- und Problemlöseprozessen vor, während und nach einer Handlung einsetzen kann, um zielgerichtet, durch die vergleichende Analyse und begründete Bewertung von Erfahrungen und Wissen, Handlungsoptionen zu entwickeln, diese auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und sie bei Erfolg in zukünftiges Handeln und bestehende Wissensbestände im Sinne einer Entwicklung und Verbesserung der reflexiven Handlungsfähigkeit[6] zu integrieren.

Reflexion ist dementsprechend nicht wie umgangssprachlich verwendet nur das Nachdenken bzw. vergleichende Denken, sondern stellt darüber hinaus einen ganzheitlichen Prozess dar, der vor allem durch Probleme ausgelöst und zu deren Lösung verwendet wird. Das vergleichende Analysieren und begründete Bewerten sind ebenso wie die Erstellung von Handlungsoptionen und deren Integration zentrale Bestandteile in dieser Definition von Reflexion. Lernen und Wissensaneignung erfolgt dabei vor allem auf der Basis von Erfahrungen.

2.2 Reflexion in betrieblichen Lernprozessen

2.2.1 Erfahrungslernen durch Reflexion

Im Folgenden wird nun der vorgestellte Begriff der Reflexion in betriebliche Lernprozesse eingeordnet. Dazu wird als Ausgangspunkt das Modell betrieblichen Lernens von Dehnbostel (Dehnbostel 2002, S.47 f.) herangezogen, das eine umfassende Darstellung betrieblicher Lern- und Wissensarten vornimmt.

Betriebliches Lernen lässt sich, wie in Abbildung 2 dargestellt, gemäß Intentionalität und Organisationsgrad in formelle und informelle Lernprozesse unterteilen (vgl. Dehnbostel 2004a, S.5).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Betriebliche Lern- und Wissensarten (Dehnbostel 2004, S.6)

Formelle Lernprozesse sind institutionell organisierte Lernprozesse zur Vermittlung festgelegter Lerninhalte und Lernziele. Das Lernen ist methodisch-didaktisch auf ein angestrebtes oder vorgegebenes Lernergebnis ausgerichtet und wird von Lehrenden oder sonstigem Bildungspersonal begleitet (vgl. KomNetz 2004, S.40). Demgegenüber ist informelles Lernen eine Lernart, bei der sich Lernergebnisse einstellen, ohne dass diese geplant wurden. Der Lernkontext ist weder nach pädagogischen Kriterien organisiert noch wird er pädagogisch begleitet. Lernergebnisse entstehen im Kontext von Arbeitshandlungen in Form von Situationsbewältigungen und Problemlösungen, so dass informelles Lernen auch als Lernen über Erfahrungen bezeichnet wird (Dehnbostel 2004a, S.6). Während das formelle Lernen auf ein Lernen durch Speicherung und Reproduktion theoretischen Wissens ausgerichtet ist, entspricht die Lernart des informellen Lernens dem Lernen in der Handlung bzw. über Erfahrungen, so dass Reflexion zur Unterstützung von Lernen vorrangig in diesem Zweig einzuordnen ist. Das bedeutet nicht, dass Reflexion in formellen Lernprozessen keine Rolle spielt. Jedoch wurde bereits in den dargestellten Ansätzen zur Reflexion deutlich, dass ihre wesentliche Bedeutung in einem Lernen aus Erfahrungen liegt. Im Folgenden wird deshalb informelles Lernen als betriebliche Lernart näher vorgestellt.

Nach Gonon ist es vermutlich Dewey gewesen, der den Begriff des informellen Lernens als Erziehungsbegriff eingeführt hat (vgl. Gonon 2002, S.16 ff.). Dewey beschreibt informelles Lernen als die Grundlage betrieblicher Lernprozesse, auf der formelles Lernen als der, aus den Erfordernissen der Zeit und Gesellschaft entwickelte Spezialfall wurzelt. Die besondere Bedeutung von Dewey`s Überlegungen für das informelle Lernen zeigt schon an dieser Stelle, dass das heutige Verständnis von informellem Lernen und Reflexion auf den gleichen theoretischen Ansatz zurückzuführen ist und eine enge Verbindung aufweist. Ähnlich wie der Begriff der Reflexion gibt es auch zu dem Begriff des informellen Lernens keine einheitliche und eindeutige Definition. Modelle und Begriffsklärungen unterscheiden sich zum Teil stark in Aspekten wie Intentionalität und Prozessorientierung (vgl. Overwien 2002, S.16 ff.). Im Folgenden wird deshalb informelles Lernen gemäß dem bereits vorgestellten Modell Dehnbostels näher beschrieben.

Gemäß diesem Modell ist informelles Lernen weder nach pädagogischen Kriterien organisiert noch wird es pädagogisch begleitet. Lernen findet im Kontext von Handlungen statt, genauer gesagt von Arbeitshandlungen. Die Intention der Handlungen ist aber nicht auf das Lernen gerichtet, sondern auf die Erfüllung von Arbeitsaufgaben wie Routinen und Problemlösungen. Lernergebnisse sind dementsprechend auf die Bewältigung von Arbeitsaufgaben zurückzuführen (KomNetz, S.48). „Es ist kein praxisfernes auf-Vorrat-Lernen, sondern es wird in seiner `natürlichen´ Lebens- und Überlebenshilfe-Funktion unmittelbar erfahren“ (Dehnbostel/Molzberger/Overwien 2003, S.31). Mit anderen Worten muss eine Erfahrung erst gemacht werden, bevor sie auf eine andere Situation übertragen werden kann. In dem Moment, in dem man sie macht, ist sie von unmittelbarer Relevanz. Im Unterschied dazu wird im Unterricht vermitteltes Theoriewissen erst in späteren Situationen relevant. Wie dargestellt, wird das informelle Lernen in Erfahrungslernen bzw. reflexives Lernen und implizites Lernen untergliedert (vgl. Abb.2). Erfahrungslernen und implizites Lernen werden als spezifische Akzentuierungen des informellen Lernens gesehen (vgl. Dohmen 2001, S.36).

Implizites Lernen verläuft zum größten Teil unbewusst und damit auch nicht reflektiert. Implizites Lernen erfolgt durch die Ausübung einer Handlung, ohne dass Lernverlauf und -ergebnisse bewusst werden (vgl. Dehnbostel 2004a, S.6 f.). Die hinter den Handlungen stehenden Regeln und Gesetzmäßigkeiten werden häufig nicht erkannt und können nur eingeschränkt verbalisiert werden (vgl. Herbig/Büssing 2003, S.37 ff.). Als einschlägige Beispiele werden in der Literatur Lernprozesse aufgeführt, die zum Schwimmen oder Fahrradfahren befähigen (vgl. Dehnbostel/Molzberger/Overwien 2001, S.33).

Im Unterschied dazu erfolgt Erfahrungslernen immer bewusst. Das Bewusstsein zeigt sich in Form von Reflexion, der Reflexion von Erfahrungen. Die wesentlichen Elemente des Erfahrungslernens sind dementsprechend Erfahrung und Reflexion. Erfahrungen, zum Beispiel in der Arbeit, werden in sinnlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Prozessen gemacht und aktiv, vor allem über die Sinnesorgane, wahrgenommen. Dehnbostel beschreibt Erfahrungslernen in Anlehnung an Dewey als „die Abfolge von Handlung - Erfahrung - Reflexion und deren kontinuierliche Fortführung unter Berücksichtigung vorheriger Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse“ (Dehnbostel/Molzberger/Overwien 2003, S.34).

Erkenntnisse werden erworben, wenn in den Handlungen Fragestellungen enthalten sind. Erfahrungslernen in diesem Sinne verläuft durch den Lerner selbsttätig und weitgehend selbstbestimmt. Lernen durch Erfahrung ist die individuelle Konstruktion von Handlungswissen. Der hinter dem Erfahrungslernen stehende Begriff der Erfahrung stellt in dieser Abfolge eine Voraussetzung für, aber auch Konsequenz von, Reflexionsprozessen dar (vgl. Gruber 1999, S.216 f.). Erfahrungen müssen erst gemacht werden, damit eine Person Erfahrung haben kann. Mit anderen Worten ist Erfahrung die Konstruktion von Wissen auf Basis von Informationen, die vorher erfahren wurden. Die Wissenskonstruktion erfolgt durch Reflexion. Neue Informationen werden dabei mit bereits vorhandenem Wissen bzw. mit bereits gemachten Erfahrungen abgeglichen. „Lernstoff außerhalb dieser Erfahrungen der Lernenden wird in der Regel bedeutungslos bleiben“ (Erpenbeck 2002, S.148). Das bedeutet wiederum, dass bereits vorhandenes Wissen und Erfahrung den Lernerfolg des Erfahrungslernens beeinflusst (vgl. Daley 2001, S.41). Eine bereits erfahrene Person ist in der Lage, neue Erfahrungen in einer aktiven Konzeptintegration[7] strukturiert einzuordnen und mit bestehendem Wissen zu verknüpfen. Dem hingegen verwenden Unerfahrene zunächst Elemente der Erfahrung, um ein Konzept zu bilden, das erst in weiteren Erfahrungen bestätigt werden muss (vgl. Latzel 2004, S.27).

Dehnbostel, Molzberger und Overwien verweisen auf die Nachteile von informellem Lernen und Erfahrungslernen. Insbesondere die Abhängigkeit von den jeweiligen Arbeits- und Handlungsprozessen und der damit verbundenen Zufälligkeit sowie der betrieblichen Vereinseitigung werden in diesem Zusammenhang genannt. „Erfahrungslernen und informelles Lernen ohne berufspädagogische Arrangements, Organisation und Zielorientierung läuft Gefahr, zufällig und situativ zu verbleiben“ (vgl. Dehnbostel/Molzberger/Overwien 2003, S.36). Daraus ergibt sich aus dem Einsatz von informellen Lernformen wie dem Erfahrungslernen für die betriebliche Bildung das Problem, dass keine konkreten Vorhersagen über Dauer und Ergebnis von informellen Qualifizierungsmaßnahmen gemacht und gewährleistet werden können. Es besteht infolgedessen aus betriebspädagogischer Perspektive ein Bedarf, auf informelle Lernprozesse Einfluss zu nehmen.

Als Ergebnis des informellen Lernens in Form reflexiver und impliziter Lernprozesse führt Dehnbostel das Erfahrungswissen an (vgl. Dehnbostel 2002, S.47 f.). Erfahrungswissen stellt in diesem Sinne eine Kombination von Ergebnissen reflektierter und nicht-reflektierter Lernprozesse dar und steht im Gegensatz zu dem Theoriewissen, das über formelle Lernprozesse erworben wurde. Auch Erfahrungswissen kann aber, wie in Abbildung 2 dargestellt (S.16), über formelles Lernen erworben werden.

„Dies ist darauf zurückzuführen, dass in nahezu allen Lebens- und Handlungssituationen – wenn auch beiläufig – informell gelernt wird. Umgekehrt wird das Theoriewissen durch Erkenntnisse aus dem Erfahrungslernen angereichert, die sich als theoretisches Wissen über die Reflexionen von Erfahrungen herausbilden“ (Dehnbostel 2001, S.74).

Erfahrungswissen sowie das über formelle Lernprozesse aufgebaute Theoriewissen ergeben zusammen die berufliche Handlungskompetenz bzw. reflexive Handlungsfähigkeit.

2.2.2 Reflexive Handlungsfähigkeit als Ziel beruflich-betrieblicher Bildung

Als das Ziel beruflich-betrieblichen Lernens, einschließlich des Erfahrungslernens, wird in der beruflichen Bildung allgemein die Entwicklung einer beruflichen Handlungskompetenz gesehen (vgl. Dehnbostel/Molzberger/Overwien 2001, S.26). Dabei werden unter Kompetenzen Fähigkeiten, Methoden, Wissen, Einstellungen und Werte verstanden, deren Erwerb, Entwicklung und Verwendung sich auf die gesamte Lebenszeit eines Menschen bezieht. Berufliche Handlungskompetenz meint die Einheit von Fach-, Sozial- und Humankompetenz, denen andere Kompetenzen wie die Methodenkompetenz untergeordnet sind (vgl. Dehnbostel/Gillen 2005, S.32 f.). Berufliche Handlungskompetenz ist damit die Grundlage der Handlungsfähigkeit einer Person in ihrem Arbeitsumfeld. Als reflexive Handlungsfähigkeit ermöglicht sie der Person die individuelle, selbst gesteuerte Anwendung erworbener Kompetenzen auf Handlungen und Verhaltensweisen sowie auf Arbeits- und Sozialstrukturen. „Kompetenzentwicklung muss eine reflexive Handlungsfähigkeit zum Ziel haben“ (Elsholz 2002, S.38). Folglich muss der beruflichen Handlungskompetenz die reflexive Handlungsfähigkeit als Ziel beruflicher Bildung übergeordnet werden. Mit Bezugnahme auf den amerikanischen Soziologen Lash ist dabei die Reflexivität zweigeteilt: Zum einen geht es um eine strukturelle Reflexivität, zum anderen um eine Selbst-Reflexivität. Die Erste meint das Hinterfragen und Mitgestalten der Gesellschaft und Arbeitsstruktur z.B. in Form der Arbeitsumgebung oder Arbeitsbedingungen. Die Zweite meint die Reflexion über eigene Kompetenzen sowie das Gestalten der individuellen Kompetenzentwicklung.

„Es geht also in dieser Erweiterung der `traditionellen´ beruflichen Handlungskompetenz darum, die Arbeitnehmer dazu zu befähigen, aus der Vogelperspektive ihre Arbeitsumgebung und ihre berufliche Entwicklung kritisch zu reflektieren und mitzugestalten. Diese Distanzierungsfähigkeit gilt es daher als Ziel der Kompetenzentwicklung mit zu verfolgen“ (Elsholz 2002, S. 39).

Aus dieser Forderung nach reflexiver Handlungskompetenz lässt sich ebenfalls der Bedarf ableiten, gezielt Reflexion bzw. reflexive Momente in betriebliche Lernprozesse zu integrieren. Nur so kann neben der Entwicklung von Erfahrungswissen auch die Fähigkeit zu Reflexion entwickelt und gefördert werden. Begrifflich ist in diesem Zusammenhang die Reflexionsfähigkeit von der reflexiven Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Die Reflexionsfähigkeit meint die Fähigkeit einer Person zur Reflexion. Die reflexive Handlungsfähigkeit meint die, allen Kompetenzen und Fähigkeiten übergeordneten, Fähigkeit einer Person zu reflexivem Handeln.

[...]


[1] Lernen wird im Rahmen dieser Diplomarbeit als „die selbstgesteuerte Wissenskonstruktion“ (Reinmann/Rothmeier/Mandl 2001, S.195) einer Person gesehen.

[2] Eraut (1995) spricht in diesem Zusammenhang von dem „Schön-shock“.

[3] Henninger, Mandl und Law beschreiben die Reflexion-während-der-Handlung als Reflexion `online´, die Reflexion-über-die-Handlung als Reflexion `offline´ (Henninger/Mandl/Law 1998, S.241).

[4] Unter dem Begriff der Automatizität werden in der Kognitionspsychologie die unbewusste Auslösung von Reflexion und deren unbewusster Verlauf untersucht. Befunde, inwiefern dieser Vorgang Auswirkungen auf das reflexive Erfahrungslernen haben kann, liegen bislang nicht vor (vgl. Latzel 2004, S.8 f.).

[5] Von extrinsischer Motivation wird bei zielgerichteten Verhaltensweisen gesprochen, „die in erkennbarem Bezug zu äußeren Anlässen oder Konsequenzen an- oder ablaufen“ (Fröhlich 2000, S.173).

[6] Reflexive Handlungsfähigkeit in Verbindung mit beruflicher Handlungskompetenz stellt die übergeordnete Zielsetzung beruflich-betrieblichen Lernens dar (vgl. Kap. 2.2.2; Dehnbostel 2004a, S.7).

[7] Kognitionspsychologisch stellt der Begriff des Konzepts die individuelle Erfassung von Aspekten, Eigenschaften oder Relationen von Sachverhalten und Gegenständen dar (vgl. Fröhlich 2000, S. 273).

Excerpt out of 102 pages

Details

Title
Unterstützung betrieblicher Lernprozesse durch Reflexionsgespräche
Subtitle
Ein konzeptioneller Vorschlag zur Gestaltung von Reflexionsgesprächen als neue Lernform
College
Helmut Schmidt University - University of the Federal Armed Forces Hamburg  (Institut für Arbeits- und Berufspädagogik)
Grade
1,3
Author
Year
2005
Pages
102
Catalog Number
V148813
ISBN (eBook)
9783640733033
ISBN (Book)
9783640733125
File size
742 KB
Language
German
Keywords
berufliches Lernen, Erfahrungslernen, Reflexion, Reflexionsgespräche, Lernprozessbegleiter, informelles Lernen, implizites Wissen, Lernen im Prozess der Arbeit, arbeitsprozessorientierte Weiterbildung, Lernprozessbegleitung, berufliche Handlungskompetenz, reflexive Handlungsfähigkeit, IT-Weiterbildung, IT-Spezialist, Lernen am Arbeitsplatz
Quote paper
Dirk Mertins (Author), 2005, Unterstützung betrieblicher Lernprozesse durch Reflexionsgespräche, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148813

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