Pädagogik und Anthropotechnik


Tesis de Máster, 2010

98 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG: VOM MENSCHEN IM ZEITALTER SEINER TECHNISCHEN REPRODUZIERBARKEIT

2. REGELN FUR DEN MENSCHENPARK: ANTHROPOTECHNISCHE DAMMERUNG
2.1 Vom pAdagogischen Humanismus
2.2 Biomacht
2.3 Das Menschentreibhaus
2.4 Von der falschen Harmlosigkeit
2.5 Anthropotechnik
2.6 Der operable Mensch
2.7 Technologien des Selbst
2.8 Das Skandalon
2.9 Die Grenzen des pAdagogischen Diskurses

3. DU MUSST DEIN LEBEN ANDERN: VOM PLANET DER UBENDEN
3.1 Homo immunologicus
3.2 Ein Leben unter Vertikalspannung
3.3 Die ethische Unterscheidung
3.4 Die Frage des Subjekts
3.5 Der Mensch als Maschine
3.6 Der Neue Mensch
3.7 Rehabilitation des Ubungsbegriffs

4. AUSBLICK: VON DER KUNST, ES NICHT GEWESEN ZU SEIN

5. LITERATURVERZEICHNIS

1. Einleitung: Vom Menschen im Zeitalter seiner technischen Rep roduzierbarkeit

,,Der Mensch ist ein Seil, geknupft zwischen Thier und Ubermensch, ein Seil uber einem Abgrunde. Was grofi ist am Menschen, das ist, dass er eine Brucke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Ubergang und ein Untergang ist. “

Friedrich Nietzsche

„ Viel Ungeheures ist, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch. “ Sophokles

Mit diesen beruhmten Worten setzt das zweite Standlied des Chores in der Tragodie ,Antigone’ des antiken griechischen Dichters Sophokles ein, worin die Ungeheuer- lichkeit des Menschen, der in die Natur eingreift, um sie zu verandern und neu zu erschaffen, besungen wird. Unter samtlichen gewaltigen und geheimnisvollen Dingen gilt Sophokles der Mensch als das unheimlichste aller Wesen, weil es sich selbst un- endlich ubersteigt. Von Sophokles Tagen an bis hinein ins 20. Jahrhundert waren es hauptsachlich grobschlachtige Techniker, die dem Menschen im Dienste der Heil- kunst oder des Fortschritts allerlei Organe aus dem eigenen Leib - oder gar aus dem fremder Arten - schnitten, um sie anschlieBend wieder einzufugen. Mit der Erfor- schung des menschlichen Genoms und der beginnenden Les- sowie Veranderbarkeit der genetischen Partituren tritt nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Paradigmen- wechsel ein, der dem Humandesign kunftig vollig neue Moglichkeiten eroffnet. Die Menschheit tritt ein in eine Ara des Posthumanismus, in der zur herkommlichen Men- schenformung durch die Padagogik eine zweite Technik, die der genetischen Veran- derung, tritt. Dadurch wird die Frage nach der conditio humana und damit nach dem ontologischen Status des Menschen - seinen Korper-, Art- und Gattungsgrenzen - sowie nach dem Verhaltnis von Padagogik und Gentechnik aufgeworfen (vgl. Vallant 2008: 87, 105).

Bis ins vergangene Jahrhundert bestanden zwischen Pflanze, Tier, Mensch und Ma- schine noch klare Grenzen. Ausgelost durch die jungeren Forschungen der Human- wissenschaften und die durch sie bewirkten Eingriffe des Menschen in die Prozesse des Lebens sowie die damit einhergehende ansteigende Kunstlichkeit des Organi- schen sind diese Grenzen gegenwartig zunehmend im Auflosen begriffen. Der Mensch, als „das noch nicht festgestellte Thier“ (Nietzsche 1988c: 81)1, uberschreitet seine eigene Ursprungsnatur und macht sich selbst durch verschiedene Techniken zu einem Kunstwerk, zu einem technischen Menschenwerk. Die traditionellen metaphy- sischen Vorstellungen von Geist, Bewusstsein, Seele, Fortpflanzung, Schopfung und Evolution geraten dabei zunachst durch die Vorstellung vom Menschen als Maschine, spater durch eine von der neueren Informationstheorie angeregte kybernetische Rhe- torik ins Wanken. Vor diesem Hintergrund stellt sich heute die Frage, was der Mensch noch sein kann, angesichts der ,Morgenrote’ eines von Feuilletonisten und Wissenschaftlern ausgerufenen biotechnologischen bzw. anthropotechnischen Zeital- ters (vgl. Vallant 2008: 9 f.): „Seit der Publikation der Botschaft von der schafgewor- denen Klonzelle im Februar 1997 ist in den Kopfen der Menschen nichts mehr wie zuvor. Man spurt mit einem Mal, dass der Eintritt in die Ernstfallphase der Biotechnik bereits hinter uns liegt.“ (Heinrichs/Sloterdijk 2001: 108)

Tatsachlich selektieren schon heute Versicherungsgesellschaften in den USA ihre Klientel anhand genetischer Prognosen, Studenten bringen sich per ,Gehirndoping’ fur Prufungen in Form (vgl. Blech 2009), eine nachfrageorientierte Eugenik befindet sich auf dem Vormarsch. Im Angesicht der neueren Anthropotechniken kann sich der Mensch kaum noch vorstellen, was er kunftig alles wird herstellen konnen. Die Ge- fahr, die von den neuen biotechnischen Moglichkeiten ausgeht, besteht dabei weniger in der ,Verschworung einer Elite von Frankensteins’ (Rudiger Safranski), sondern vielmehr in der ,unsichtbaren Hand des Marktes’ (Adam Smith). So rufen die Mog- lichkeiten pranataler Diagnostik Visionen einer neuen, eugenisch modellierten Klas- sengesellschaft hervor, in der die auf herkommlichem Wege zur Welt gekommenen Menschen nicht mehr werden mithalten konnen. In diesem Kontext stellen sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Fragen von nicht zu unterschatzender Trag- weite: Welche Konsequenzen wird es fur die Padagogik nach sich ziehen, wenn El- tern sich in ein Kollektiv aus Samenspendern, Muttern, Leihmuttern, Laborangestell- ten und Genbanken verwandeln? Wird der kunftige Mensch Kataloge studieren mus- sen, mit deren Hilfe seine Eigenschaften zusammengekauft wurden, um uberhaupt noch so etwas wie Ich-Identitat erfahren zu konnen? Wird es vielleicht sogar Prozesse von Kindern gegen ihre Eltern geben, die einen Schadenersatz einklagen wegen zu billiger Machart (vgl. Safranski 1999b)?

Der Terminus Anthropotechnik ist eng mit dem Namen des derzeit wohl prominentes- ten deutschen Philosophen, Kulturwissenschaftlers und Essayisten Peter Sloterdijk verbunden. Sloterdijk, seit 2001 Rektor der Staatlichen Hochschule fur Gestaltung in Karlsruhe sowie dort Professor fur Philosophie und Asthetik, hatte den Ausdruck zwei Jahre nach der Bekanntgabe von der Existenz des Klonschafs Dolly und der daraufhin entbrannten Gentechnikdebatte im Rahmen seiner umstrittenen Rede ,Re- geln fur den Menschenpark’ wiederbelebt.2 Obwohl Sloterdijk dem Begriff seinerzeit einiges zugetraut hatte konnte sich dieser bislang nicht entscheidend durchsetzen. So sucht man den Terminus nicht nur in padagogischen Handbuchern,3 sondern etwa auch in dem von Holger Freiherr von Dobeneck herausgegebenen ,Sloterdijk- Alphabet’ vergebens (vgl. von Dobeneck 2006). Ziel dieser Arbeit soll es daher zu- nachst sein, die von weiten Teilen der Offentlichkeit als Skandalon empfundene Rede Sloterdijks sowie ihren theoretischen Hintergrund zu diskutieren, mogliche Grunde fur die offentliche Erregung zu finden sowie das Verhaltnis von Anthropotechnik und Padagogik naher zu bestimmen. Wollte Sloterdijk tatsachlich dafur pladieren, dass wir es lange genug mit den Padagogen probiert haben, die Resultate nicht genugen und nun uber hartere MaBnahmen gesprochen werden muss, wie etwa Josef Fragner - stellvertretend fur viele - behauptet (vgl. Fragner 2000)? Hat Sloterdijk in der Gen- technik jenes uber dem Abgrund gespannte Seil erkannt, auf dem sich der Mensch zum Ubermenschen heraufschwingen wird? Ist seine Elmauer Rede letztlich nicht mehr als eine eugenische Zuchtungsphantasie? Diesen Fragen mochte ich mich im ersten Teil dieser Arbeit zuwenden.

Nachdem sich die Aufregung um Sloterdijks Vortrag ebenso schnell wieder gelegt hatte wie sie aufgekommen war, so ist gut zehn Jahre spater in seinem neuen Werk ,Du musst dein Leben andern’ im Untertitel erneut die Rede von Anthropotechnik. Der zweite Teil dieser Arbeit gilt der inhaltlichen Vertiefung und teilweisen Neujus- tierung, die Sloterdijk im Rahmen seines uber siebenhundert Seiten starken Buches hinsichtlich des Begriffs Anthropotechnik vornimmt. Sloterdijk will den Menschen nicht langer als homo oeconomicus oder homo faber verstanden wissen, sondern als homo immunologicus, der mittels verschiedener Anthropotechniken, die nunmehr als mentale und physische Ubungsverfahren definiert werden, bemuht ist, seinen sozialen und symbolischen Immunstatus zu optimieren. Uber fast dreitausend Jahre Philoso- phiegeschichte zeigt Sloterdijk auf, mithilfe welcher Ubungsformen Menschen versu- chen, ihrer Vertikalspannung - das stete Streben, sich selbst ubend zu verbessern, weiterzuentwickeln und uber den bisherigen status quo hinauszuwachsen - Genuge zu tun. Die Padagogik, verstanden als ,Griff an die Wurzeln der Gewohnheit’, tritt dabei in dem Moment auf die Buhne, in dem durch die zunehmende Sakularisierung der menschlichen Psyche die religiose Logik der Besessenheit des Menschen in Pro­gramme der Disziplin uberfuhrt werden konnte. Schuler werden dadurch zu Athleten oder Akrobaten, Lehrer zu Trainern, die Schule zu einer integralen Lernmaschine, das gesamte Leben zu einem einzigen groBen paedagogicum.

Sloterdijks Analyse der Gegenwart kulminiert in der Einsicht: So wie bisher kann es angesichts der okonomischen, sozialen und zu erwartenden okologischen Katastro- phen nicht weitergehen. Aus der globalen Krise hort er den absoluten Imperativ spre- chen: ,Du musst dein Leben andern!’ Eine mogliche Losung „zur Rettung der Welt“ (Brinkmann 2009a: o. S.) sieht er in Form der von ihm entwickelten Theorie einer Allgemeinen Immunologie, die individuelle Egoismen in ubergeordnete Ko- Immunitatsstrukturen einzuflechten sowie eine Transzendierung der bisherigen Diffe- renzen von Eigenem und Fremden zu bewirken hat. Dadurch soll der Mensch zu dem Bewusstsein gelangen: ,Wenn Du die Erde ausbeutest, schadest Du letztlich nur Dir selbst’. Sloterdijk sucht zu zeigen, dass Ko-Immunitat nicht auf einem utopischen Idealismus basiert, sondern dass es heute im eigenen Interesse des Einzelnen liegt, zusammen mit den anderen Kulturen zu einem gemeinsamen Uberlebensmodell zu kommen. Lassen sich beispielsweise die Chinesen nicht davon abhalten, die westli- chen Industrienationen erfolgreich nachzuahmen, so ist zu befurchten, dass die ge­samte Menschheitsgattung an gegenseitiger Nachahmung im Bereich des Falschen - des nicht Verallgemeinerbaren - aussterben wird. Die Menschheit muss neue Le- bensformen entwickeln, die mit der Hervorbringung eines gemeinsamen, globalen Immunsystems identisch sind, das samtliche Mitglieder der zivilisatorischen Okume- ne unter seinen Schutz nimmt. Im abschlieBenden Kapitel soll daher diskutiert wer­den, inwiefern die Padagogik einen Beitrag zu dem von Sloterdijk proklamierten Ko- Immunismus als einer neuen Form von globalem Okomanagement leisten kann.

2. Regeln fur den Menschenpark: Anthropotechnische Damme- rung

Am 16. Juli 1999 halt Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau, gelegen im beschaulichen Oberbayern, nahe der kleinen Ortschaft Klais zwischen Garmisch und Mittenwald, im Rahmen eines Philosophenkongresses uber Martin Heidegger einen Vortrag unter dem Titel ,Regeln fur den Menschenpark’, ein imaginares ,Antwortschreiben zu Hei­deggers Brief uber den Humanismus’. Das Auditorium, welches bei dem fortan nur noch als ,Elmauer Rede’ bekannten Vortrag Sloterdijks zugegen ist, zeigt sich zu- nachst unbeeindruckt und stellt an diesem Tag nur eine einzige Ruckfrage (vgl. Nehr- korn 2000). Bereits zwei Jahre zuvor hatte Sloterdijk die Rede vor einem groBen Pub- likum in Basel als Schlussvortrag einer Reihe von Reflexionen uber gegenwartige Aspekte des Humanismus nach eigener Aussage „in einer Atmosphare von Heiterkeit und Angeregtheit“ (Heinrichs/Sloterdijk 2001: 104) gehalten.

2.1 Vom padagogischen Humanismus

Sloterdijk beginnt seine Rede mit einem Verweis auf den Dichter Jean Paul, der Bu­cher als dickere Briefe an Freunde bezeichnet habe, worin Sloterdijk sowohl das We- sen als auch die Funktion des Humanismus erkennt: „Er ist freundschaftsstiftende Telekommunikation im Medium der Schrift.“ (Sloterdijk 2001a: 302)4 In diesem Sin- ne ist das, was seit mehr als zweitausend Jahren unter dem Begriff humanitas (Menschlichkeit) verstanden wurde, als eine Folge des Alphabetisierungsprozesses zu verstehen.5 In diesem Zusammenhang interpretiert Sloterdijk die Geschichte der Phi- losophie als einen „Kettenbrief durch die Generationen“ (ebd.), welcher durch seine Rede uber die Liebe zur Weisheit auch andere zu dieser Liebe bewegen wollte. Von zentraler Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Aneignung der alten griechi- schen Texte durch die Romer, welche die antiken Botschaften auch uber den Verfall

Westroms hinaus den spateren europaischen Kulturen zuganglich machten und sich so das Phanomen Humanismus uberhaupt erst etablieren konnte. Indem der Huma- nismus, verstanden als eine „Sekte der Alphabetisierten“ (ebd.: 305), demnach auf dem Modell einer literarischen Gesellschaft basiert, welche ihre Mitglieder uber ka- nonische Lekturen rekrutiert, kommt der Fahigkeit des Lesen- und Schreibenkonnens eine zentrale Bedeutung zu. In diesem Sinne deutet Sloterdijk die burgerlichen Natio- nalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts als „durchalphabetisierte Freundschaftsver- bande“ (ebd.), weshalb das Zugehorigkeitsgefuhl zu einer bestimmten Nation vorran- gig in einem pragmatisch gewendeten Humanismus grundet, dessen zentraler Gedan- ke sich unter der Formel ,Solidaritat durch das Privileg, lesen zu konnen’ subsumie- ren lieBe:

„Was sind die neuzeitlichen Nationen anderes als die wirkungsvollen Fiktionen von lesenden Offentlichkeiten, die durch dieselben Schriften zu einem gleichgestimmten Bund von Freunden wurden? Die allgemeine Wehrpflicht fur die mannliche Jugend und die allgemeine Klassiker- Lesepflicht fur Jugendliche beider Geschlechter charakterisieren die klassische Burgerzeit, [...] auf welche die neuen und alten Konservativen von heute zuruckblicken, nostalgisch und hilflos zugleich und vollig unfahig, sich uber den Sinn eines Lekture-Kanons medientheoretisch Re- chenschaft zu geben.“ (ebd.: 305)

Das Zitat deutet bereits Sloterdijks zentrale These seiner Rede an. Aus seiner Sicht ist die Epoche der „lesefreudigen Nationalhumanismen“ (ebd.: 306) heute unwiderruf- lich abgelaufen, und damit hat auch die Macht der Philologen und Lehrer - welche aus der privilegierten Kenntnis eben solcher Autoren resultierte, aus deren Schriften sich die Fiktion einer nationalen Identitat hatte entwickeln sollen - ihr jahes Ende gefunden. Der burgerliche bzw. padagogische Humanismus „als die Vollmacht, der Jugend die Klassiker aufzuzwingen und die universale Geltung nationaler Lekturen zu behaupten“ (ebd.), ist nach Sloterdijk gescheitert, weil er aufgrund der neuen me- dialen Vernetzungsmoglichkeiten - dem Rundfunk nach 1918, dem Fernsehen nach 1945, dem Internet nach 1993 - nicht mehr dazu in der Lage ist, „das telekommuni- kative Band zwischen den Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knup- fen“ (ebd.). Das Miteinander der Menschen ist durch diese Entwicklungen auf vollig neue Grundlagen gestellt worden, und diese gelten als „entschieden post-literarisch, post-epistolographisch [literaturwissenschaftliche Bezeichnung fur Briefsammlungen, R. K.] und folglich post-humanistisch“ (ebd.: 307). Dabei raumt Sloterdijk zwar ein, dass die Literatur kunftig keineswegs vollig bedeutungslos sein wird, macht aber dar- auf aufmerksam, dass sie ihren maBgeblichen Stellenwert als „Trager der National- geister“ (ebd.: 307), d. h. als Agens und zentrales Element zur Herstellung von Soli- daritat und Integration in einer Gesellschaft, unwiderruflich verloren hat. In der tech- nischen Welt ist die Sprache mit der Aufgabe der Befreundung uberfordert, wahrend nun andere „Naherungstechniken“ (Sloterdijk 2001b: 210) an ihre Stelle treten. Slo- terdijks These vom Ende des Humanismus lauft damit auf eine insbesondere fur Pa- dagogen zunachst ernuchternd anmutende Desillusionierung hinaus: „Die Ara des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht langer sich halten lasst, politische und okonomische GroBstrukturen konnten nach dem amiablen Modell der literarischen Gesellschaft organisiert wer- den.“ (Sloterdijk 2001a: 307)

2.2 Biomacht

Bereits Michel Foucault hatte in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in ,Die Ordnung der Dinge’ (Les mots et les choses, 1966) den Humanismus direkt auf erkenntnistheoretische und indirekt auf politische Weise kritisiert (vgl. van Tuinen 2006: 103). Uberzeugend konnte Foucault dabei die Geschichtlichkeit, die Unwissen- schaftlichkeit sowie die „geheime Komplizenschaft mit den Strategien der Macht“ (Brinkmann 2004: 92) der Humanwissenschaften nachweisen, durch deren gleicher- maBen subjektivierenden wie objektivierenden Operationsmodus der Mensch qua Subjekt schlieBlich als Produkt des humanwissenschaftlichen Macht-Wissen- Komplexes erscheint und sich so „immer tiefer in den Maschen der Macht verfangt“ (ebd.).

Den theoretischen Hintergrund dazu liefert Foucaults Konzept der Biomacht, mit welchem er das Prinzip einer lebensbezogenen Macht verbindet, die sich sowohl der Individuen als auch der Bevolkerung6 bemachtigt, mit dem Ziel, deren Lebensfunkti- onen im Sinne einer hoheren Produktivitat sowie einer besseren Kontrolle zu formen und zu steigern. Im Gegensatz zur Repressionsmacht, deren Macht uber das Leben sich darin offenbart, es durch den Tod zu beenden, konzentriert sich die Biomacht auf das Leben selbst, das gefordert und zur Entwicklung angehalten werden soll. Dabei tritt ein durchaus produktiver Charakter der Macht in Erscheinung, welcher dem Ver- haltnis von Leben und Tod eine neue Bedeutung beimisst: „Man konnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wurde abgelost von einer Macht,

leben zu machen oder in den Tod zu stofien.“ (Foucault 2008a: 134; Hervorh. im Orig.) Mit der Fokussierung auf das Leben soll die Biomacht die von Foucault auf verschiedenen Ebenen durchgefuhrten Machtanalysen gewissermaBen zusammenfuh- ren. Auf der einen Seite steht dabei die uber die Machtprozeduren der Disziplin ge- leistete politische Anatomie des menschlichen Korpers, die sich im 17. Jahrhundert nach dem Vorbild des Korpers als Maschine (Rene Descartes, vgl. Kapitel 3.5) auf den individuellen Korper des Einzelnen richtet. Auf der anderen Seite findet sich die regulierende Kontrolle einer Biopolitik der Bevolkerung, bei der die Untersuchung und Besorgnis um ganze Bevolkerungsgruppen - unter Einbeziehung von Erkenntnis- sen der Demographie - im Mittelpunkt steht, wodurch der Gedanke einer Normalisie- rung, bzw. einer Absonderung von Wahnsinnigen als besondere Geisteskranke, mog- lich wird (vgl. Kogler 1994: 102 f.). Foucaults Kritik des Humanismus - genauer: der Humanwissenschaften - liegt nun darin begrundet, dass die Biomacht vom humanis- tischen Machbarkeitsideal ausdrucklich legitimiert wird:

„Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendlandi- schen Menschen eingeredet hat: ,Auch wenn du die Macht nicht ausubst, kannst du sehr wohl souveran sein. Ja: [...] je besser du dich der Macht unterwirfst, die uber dich gesetzt ist, umso souveraner wirst du sein. ’ Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveranitaten herum aufgebaut worden ist: die Seele (souveran gegenuber dem Leib, Gott unterworfen), das Gewissen (frei im Bereich des Urteils, der Ordnung der Wahrheit unterworfen), das Individuum (souveraner Inhaber seiner Rechte, den Gesetzen der Natur oder den Regeln der Gesellschaft unterworfen), die grundlegende Freiheit (innerlich souveran - au- Berlich ,in Ubereinstimmung mit ihrem Schicksal’)." (Foucault 2000: 94; Hervorh. R. K.).

Dadurch, dass Foucault das Subjekt als ein Resultat von Machtbeziehungen denkt, fur dessen Disziplinierung bzw. Unterwerfung eine (human-)wissenschaftliche Analyse des Individuums obligatorisch ist, um ein Wissen uber den Einzelnen zu gewinnen, ist die Biomacht untrennbar mit der Frage nach der Zukunft des Lebens verbunden, welche gegenwartig vor dem Hintergrund der zunehmenden Moglichkeiten der Gene- tik diskutiert wird (vgl. van Tuinen 2006: 103). Wenn Foucault - und dies gilt genau- so fur Sloterdijk - vom Ende des Humanismus spricht, so nicht um die Bestialitat zu propagieren, sondern um sich von einem alten Menschenbild zu verabschieden, wel­ches den Menschen nicht befreit oder emanzipiert, sondern vielmehr an der freien Entfaltung seiner Zukunft hindert, weil der Humanismus die humanitas des Men­schen nicht hoch genug ansetzt (vgl. ebd.: 106 sowie die Anmerkungen zu Nietzsches Zarathustra in Kapitel 2.6).

Sozialgeschichtlich ordnet Sloterdijk das Ende des Humanismus dem Ersten Welt- krieg zu, raumt allerdings ein, dass das humanistische Modell in den Jahren nach 1945 noch einmal eine Renaissance erlebt, indem durch die Wiederentdeckung christ- licher Bibellekturen ein weiterer Versuch zur „Rettung der europaischen Seele durch eine radikalisierte Bibliophilie“ (ebd.: 308) im oben beschriebenen Sinne unternom- men wird. Daran wird deutlich, dass der Humanismus „als Wort und Sache [...] im- mer ein Wogegen [hat], denn er ist das Engagement fur die Zuruckholung des Men- schen aus der Barbarei“ (ebd.). Daraus erklart sich fur Sloterdijk, weshalb der Ruf nach Humanismus insbesondere in Zeiten gewalthafter Konflikte zwischen Staaten und Parteien besonders laut wird. So lautet die latente These des Humanismus: „Rich- tige Lekture macht zahm.“ (ebd.: 309) Analog zu Sigmund Freud7 geht Sloterdijk davon aus, dass Menschen in der Hochkultur immer von zwei Bildungsmachten zugleich in Anspruch genommen werden: den hemmenden und den enthemmenden Einflussen, wobei der Humanismus dann als Kampfansage gegen die letztgenannten, bestialisierenden Tendenzen des Menschen verstanden werden muss. Sloterdijk be- merkt, dass „Verwilderungen, heute wie immer, gerade bei hoher Machtentfaltung aufzubrechen pflegen“ (ebd.). Als historisches Beispiel verweist er auf die Amphithe­ater, die Kampfspiele und Hinrichtungsspektakel der Romer; in der Moderne hinge- gen sei „erst mit dem Genre der Chain Saw Massacre Movies [eine besonders blut- runstige Art von Horrorfilmen, R. K.] [...] der Anschluss [...] an das Niveau des an­tiken Bestialitatenkonsums vollzogen“ (ebd.: 309 f.). Menschlichkeit besteht dann letztlich darin, „zur Entwicklung der eigenen Natur die zahmenden Medien zu wahlen und auf die enthemmenden zu verzichten“ (ebd.: 310). Bei der Humanismusfrage geht es somit um „eine Bestimmung des Menschen angesichts seiner biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz“ (ebd.), also darum, durch den Gebrauch welcher Medien der Mensch selbst zu einem „wahren oder wirklichen Menschen“ (ebd.: 311) werden kann.

Fur Immanuel Kant liefen die groBen Fragen ,Was kann ich wissen?’, ,Was soll ich tun?’ und ,Was darf ich hoffen?’ noch in der einen groBen Frage zusammen: ,Was ist der Mensch?’ Wenn Foucault vom Erscheinen des Menschen am Ende des 18. Jahr- hunderts spricht, der ebenso schnell wieder verschwinden konne „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 2003 a: 462), so sucht er zu zeigen, dass es sich bei der von Kant eingeleiteten anthropologischen Wende um ein neues Phanomen im philosophischen Diskurs handelt. Doch was der Mensch tatsachlich ist, das ist heute sowohl in ontologischer als auch in anthropologischer Hinsicht ungeklarter denn je.8 So wird gegenwartig weniger danach gefragt, was der Mensch ist, sondern vielmehr danach, welches Bild wir uns vom Menschen machen sollen, d. h. nach welchem Bil- de sich der Mensch selbst erschafft:9 „Anstelle vermeintlicher anthropologischer Ge- wissheiten, die den Menschen als das vernunftige, politische, arbeitende, herstellende, religiose, sprechende oder produzierende Tier sahen, sind langst Modelle und Ent- wurfe getreten, die den Menschen immer wieder neu konstruieren. [...] Nicht: Wer sind wir? ist die Frage, sondern: Wie sehen wir uns?“ (Liessmann 2009: 431)

2.3 Das Menschentreibhaus

Indem Sloterdijk vom Ende des Humanismus spricht, stellt er jenes Menschenbild in Frage, welches sich einer Humanisierung des Menschen durch Literatur und Bildung verschrieben hatte. Sozusagen als ,Kronzeugen’ fur seine These fuhrt er dabei Martin Heidegger ins Feld, der mit seinem ursprunglich an den franzosischen Philosophen Jean Beaufret adressierten ,Brief uber den Humanismus’ (1946) einen „trans- humanistischen oder post-humanistischen Denkraum“ (Sloterdijk 2001a: 312; Her- vorh. R. K.) betreten wollte.10 Sloterdijk fuhrt aus, Heidegger habe den Begriff des Humanismus aufgeben wollen, um auf diese Weise der letzten Radikalitat im Hin- blick auf die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht auszuweichen: „Wozu er- neut den Menschen und seine maBgebliche philosophische Selbstdarstellung im Hu­manismus als die Losung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegen- wart gezeigt hat, dass der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstuberhohung und Selbsterklarung das Problem ist?“ (ebd.: 313)

Heidegger, der unter dem Eindruck der von Menschen geplanten und an Menschen industriell exekutierten Massenvernichtung stand, attackiert in seinem Brief den Hu- manismus als den rechtmaBigen Anteilhaber an dieser millionenfachen Ermordung. Weil der Humanismus eine industriell selektionierende und vergasende Technik her- vorbringen konnte, gilt dieser Heidegger als Verrat am Menschen, welchen wiederum der Humanismus selbst herangezuchtet hat (vgl. Mainberger 2001). Wahrend Hei­degger zu Beginn der nationalsozialistischen Machtubernahme in Deutschland noch selbst Teil des ,zeitweiligen Bundnisses zwischen Mob und Elite’ (Hannah Arendt) war, so bewertet er den Faschismus nunmehr als eine Synthese aus dem Humanismus und dem Bestialismus, eine „paradoxe Koinzidenz von Hemmung und Enthemmung“ (ebd.: 319). Vor diesem Hintergrund habe Heidegger - so Sloterdijk - die Frage nach dem Grund der Menschenzahmung und -bildung in Form einer Epochenfrage neu formuliert:

„Was zahmt oder erzieht noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschen- formung scheitert? [...] Was zahmt oder erzieht den Menschen, wenn nach alien bisherigen Ex- perimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht?11 Oder lasst sich die Frage nach der Hegung und Formung des Men­schen im Rahmen bloBer Zahmungs- und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?“ (ebd.)

Heidegger wollte den Humanismusbegriff vorrangig deshalb verwerfen, weil die Fra- ge nach dem Menschen aus seiner Sicht solange nicht geklart werden kann, wie er traditionell als animal rationale oder - bereits bei Aristoteles - als zoon logon echon definiert wird, d. h. als Tier mit einem Zusatz an Vernunft. Fur den Philosophen ist die Frage nach dem Wesen des Menschen untrennbar mit der Frage nach dem Sein verbunden. Heidegger behauptet, dass der Mensch sich selbst noch gar nicht kennt, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er noch nie richtig nach sich selbst gefragt hat. So ist der Mensch bereits von seinem ontologischen Grundzug her von allen an- deren Lebewesen grundlegend verschieden, „denn der Mensch hat Welt und ist in der Welt, wahrend Gewachs und Getier nur in ihren jeweiligen Umwelten verspannt sind“ (ebd.; Hervorh. R. K.). Dennoch will Heidegger die weiter oben beschriebene zentrale Funktion des Humanismus - das Befreundungsmotiv (vgl. Kapitel 2.1) - nicht aufgeben, sondern im Gegenteil sogar radikalisieren, indem er es „aus dem pa- dagogischen Feld ins Zentrum der ontologischen Besinnung“ (ebd.: 316) versetzt. Auf diese Weise antwortet Heidegger auf die Epochenfrage, indem er den Menschen als Hirten des Seins, die Sprache als das Haus des Seins12 und die Lichtung als den Ort definiert, an dem das Sein aufgeht. Mithilfe dieser pastoralen Metaphern sucht der Autor von ,Sein und Zeit’ (1927) zu umreiBen, dass der Mensch einer ek- statischen Verhaltenheit unterworfen ist, die weiter reicht als es fur padagogische Bemuhungen qua Bildung jemals moglich ware. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bzw. Solidaritat werden somit mittels einer besinnlichen Askese bewirkt, die uber alle humanistischen Erziehungsziele hinausweist. ,Der Mensch als Hirte des Seins’ - da- mit vertritt Heidegger die These, dass es auch in der modernen Welt nicht so sehr auf den Menschen ankommt, sondern vielmehr auf etwas, das uber den Menschen hi- nausgeht und wofur er nur Medium sein kann. Nachdem Nietzsche den Tod Gottes ausgerufen hatte, kann fur Heidegger in der modernen Gesellschaft nur das Sein selbst diesen Resonanzboden bilden (vgl. Safranski 1994): „So kommt es bei der Be- stimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, dass nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz.“ (Heidegger 1949: 22)

Fur Heidegger gilt der Mensch als das Wesen, das in der Welt ist. Sloterdijk versucht nun naher zu charakterisieren, mittels welcher gattungsgeschichtlicher Wurzeln der Mensch uberhaupt dieses Wesen werden konnte, das in der Welt ist. Mit anderen Worten: Er versucht, Heideggers Metapher der Lichtung zu historisieren. Sloterdijk nennt die hierfur zentralen Begriffe in seiner Rede nur kurz und verweist fur eine de- tailliertere Darstellung auf seinen Essay mit dem Titel ,Domestikation des Seins. Die Verdeutlichung der Lichtung’. Darin fuhrt er insgesamt vier Mechanismen13 auf, die fur den „Eintritt in die menschenbildende Situation“ (Sloterdijk 2001b: 175) obligato- risch sind. Mithilfe dieser Formulierung unternimmt Sloterdijk den Versuch, „den Menschen als Produkt zu denken und ihn [gleichzeitig] in keiner Weise vorauszuset- zen [...]“ (ebd.: 174). Dabei legt er besonderen Wert auf die raumliche Situation, in der sich bei den Tieren vor Millionen von Jahren der Sprung zur Menschwerdung vollzog. Ahnlich wie Heidegger, der damit begonnen hatte, eine Sprache fur den er- lebten Raum und fur den Menschen als raumteilendes Wesen zu finden, versucht Slo­terdijk auf diese Weise zum Verstandnis einer elementaren menschlichen Grunder- fahrung beizutragen, der Raumerfahrung.14 Im Gegensatz zum traditionellen Subjekt- Objekt-Denken steht der Mensch der Welt nicht gegenuber, sondern ist immer schon in etwas enthalten. So geht Sloterdijk davon aus, dass zunachst ein isolierter Schon- raum vorhanden sein musste, der seinen Bewohnern - dem kunftigen Menschenge- schlecht - in seinem Innenraum Schutz ermoglicht und sich gleichzeitig gegen die Umwelt absetzt. Erst durch diese Interieur- bzw. Spharenbildung konnte letztlich der Treibhauseffekt eingespielt werden, „der das Aufbluhen der menschlichen Ekstase ermoglichte“ (ebd.: 175).

Der erste und grundlegendste der von Sloterdijk beschriebenen Mechanismen ist das von dem schottischen Geologen Hugh Miller formulierte Theorem des Insulationsef- fekts. Miller geht davon aus, dass Lebewesen, die sich in der Peripherie einer jeweili- gen Lebensgemeinschaft aufhalten, als eine Art lebende Wand fur diejenigen Mit- glieder der Population wirken, die sich im Zentrum aufhalten. Durch diesen „Treib- hauseffekt erster Stufe“ (ebd.: 176) lasst der auBere Selektionsdruck nach, was dar- aufhin in der Entfaltung eines Mutter-Kind-Raumes sowie einer erhohten Kindlich- keit resultiert. Erst durch die Insulation und die damit verbesserten Sicherheitsbedin- gungen kann sich eine riskantere Lebensform evolutionar durchsetzen. Fur Sloterdijk ist dieser Mechanismus deshalb von so grundlegender Bedeutung, weil er - formu- liert mit den Worten des Biologen und Kunstlers Jonathan Kingdon - das Kind sozu- sagen als wesentliches Agens allen menschlichen Kulturverhaltens ansieht: „Auf den entstehenden Human-Inseln ,durchdringt die Anwesenheit von Kindern die menschli- che Gesellschaft wie keine andere [...]. Kinder haben mit ihren Anspruchen viele, wenn nicht alle Aktivitaten der Erwachsenen verandert.’“ (Jonathan Kingdon, zit. n. Sloterdijk 2001b: 177)

Der zweite Mechanismus ist die von dem Mediziner und Anthropologen Paul Alsberg in seinem 1922 veroffentlichten Buch ,Das Menschheitsratsel’ beschriebene Korper- ausschaltung. Alsberg schildert, wie durch die Insulation eine Emanzipation des Vor- menschen von der Notwendigkeit der direkten organismischen Anpassung an die Umwelt ermoglicht wird. Dadurch kommt der Vormensch zu einem erst zufalligen, spater dann elaborierten und chronischen Werkzeuggebrauch. Der Werkzeuggebrauch wiederum gibt ihm die Chance, - mit Heidegger gesprochen - in die Lichtung her- vorzutreten, d. h. der Vormensch bekommt die Gelegenheit, in die Welt zu kommen, indem er „erste Locher und Risse im Umwelt-Ring“ (ebd.: 180) erzeugt. Der von Alsberg gepragte Begriff der Korperausschaltung bezieht sich dabei auf die Entlas- tung vom Korperkontakt mit Objekten in der Umwelt. Indem der werdende Mensch Korperberuhrung durch Steinberuhrung ersetzt, eroffnet sich ein neuer Raum, eine weltoffene Sphare des Menschlichen, in der es nun so etwas wie Resultate und sogar eine erste Form von Wahrheitsfunktion15 geben kann: „Die Wirkungen von Schlagen, Wurfen und Schnitten stiften das Band zwischen Erfolg und Wahrheit, das in hoheren Kultursituationen zwar stark gedehnt, aber nie zerrissen werden kann. [...] Sie [die Wahrheit, R. K.] erscheint im Treffer eines Wurfs, in der Passung eines Griffs, im Durchgang eines Schnitts an der richtigen Stelle.“ (ebd.: 183 f.)

Dadurch, dass die Vormenschen von dem Zwang zur naturlichen Anpassung an die auBere Umwelt zunehmend freigesetzt werden, beginnen ihre Korper gewissermaBen zu „luxurieren“ (ebd.: 186). Exemplarisch fuhrt Sloterdijk in diesem Zusammenhang das Luxurieren der weiblichen Formen, des Gehirns und das Aufklaren der Men- schengesichter an. Indem die Selektion mehr und mehr treibhausrelativ wird fuhrt sie nicht primar zur Anpassung an eine druckausubende Umwelt, sondern belohnt im Gegenteil diejenigen Eigenschaften, die dem werdenden Menschen eine erhohte Dis- tanzierung von der Umwelt - und damit eine weitere Nichtanpassung an eben diese - erleichtern: „Im Treibhaus der Gruppe uberlebt nicht der Tuchtigste im Sinne einer Bewahrung an der Front von vorgegebenen Umweltharten, sondern der Glucklichste im Sinne der Klimaausnutzung und der treibhausinternen Chancenverwertung.“ (ebd.: 187)

Der dritte von Sloterdijk genannte Mechanismus ist die Neotenie, die progressive Verkindlichung und Retardierung von Korperformen. Der Begriff wurde 1885 von dem Evolutionsbiologen Julius Kollmann gepragt, um die Verlangerung und Stabili- sierung von jugendlichen (juvenilen) Formen bis in die erwachsenen oder ge- schlechtsreifen Zustande zu bezeichnen. Mit dem Amsterdamer Palaoanthropologen Louis Bolk geht Sloterdijk davon aus, dass das zentrale Charakteristikum des wer­denden Menschen der „beispiellose Ausbau der Infantilitat“ (ebd.: 190) ist, ausgelost durch die enorme VergroBerung des Gehirnvolumens und den damit verbundenen

Zwang zur Fruhgeburt. Dadurch, dass das Menschentreibhaus gewissermaBen die Funktion eines externen Uterus ubernimmt, entsteht fur Sloterdijk eine Ruckkopplung zwischen Verwohnung und Vorsorge, wie sie auch fur den modernen Menschen cha- rakteristisch ist:

„Weil die Korper der Vormenschen zu Luxuskorpern werden - und aller Luxus beginnt damit, unreif sein zu durfen und eine infantile Vergangenheit aufzubewahren und auszuleben -, mus- sen die Menschen ,sich selbst’ und mehr noch ihren Kulturbrutkasten [...] in Hut nehmen. Sie mussen Sorge-Tiere werden [...]. Daher ist der Zwiespalt im Menschenwesen: das Streben nach der verwohnten Sorglosigkeit und der Gehorsam gegenuber dem Imperativ der Sorge, unuber- windlich.“ (ebd.: 193; Hervorh. R. K.)

In Sloterdijks bildhafter Metaphorik kann - zusammengefasst - die Sphare des Menschlichen also als ein Treibhaus vorgestellt werden, als ein offener Brutkasten, der dem werdenden Menschen eine gewisse Umweltdistanzierung gewahrt. Das von ihm erzeugte Interieur wird geordnet bzw. ,klimatisiert’ durch Medien im engeren Sinne, dabei vor allem durch die Sprache.16 Die Sprache wiederum sieht Sloterdijk als das zentrale Element des vierten Mechanismus, der Ubertragung. Damit sollen all diejenigen Prozesse bezeichnet sein, welche die werdenden Menschen anwenden, wenn der weiter oben beschriebene Insulationsschutz aufgehoben wird. Dies kann etwa der Fall sein, sobald Naturkatastrophen ausbrechen, oder aber wenn der Mensch sich selbst zum Feind wird, wenn beispielsweise Lagerstellen verwustet, andere Men­schen verletzt oder gar verschleppt werden. Der Mechanismus der Ubertragung sorgt dafur, dass Menschen nach derartigen Zusammenbruchen „auf einen Vorrat an Routi- nen zuruckgreifen konnen, die eine wie auch immer veranderte Wiederholung fruhe- rer Ordnungs- und Integritatszustande erlauben“ (ebd.: 208). In Form einer „symboli- schen Immunologie“ (ebd.; vgl. dazu auch Kapitel 3.1) dient die Ubertragung dazu, dass Menschen in Situationen der Not auf Routinen aus alteren, stabilen Zusammen- hangen zuruckgreifen konnen, um auf diese Weise ihre Integritat zuruckzugewinnen.

2.4 Von der falschen Harmlosigkeit

Als „anthropogenetische Revolution“ (Sloterdijk 2001a: 320) bezeichnet Sloterdijk die „Aufsprengung der biologischen Geburt zum Akt des Zur-Welt-Kommens“ (ebd.), indem der Mensch gewissermaBen durch sein Scheitern, ein Tier zu bleiben, als unbestimmtes Wesen aus der Umwelt herausfallt und sich an das (Da-)Sein uber- eignet, sich also der Welt aussetzt. Dabei nimmt das menschliche Zur-Welt-Kommen, welches - wie gezeigt - allein mit der Geburt noch nicht erledigt ist, von fruh auf Zuge eines Zur-Sprache-Kommens an, indem die traditionellen Sprachen den Men- schen ermoglichen, ihr „Sein bei der Welt zugleich als Bei-sich-selbst-Sein“ (ebd.: 321) zu erleben. Mit Maurice Merleau-Ponty spricht Sloterdijk hier vom Menschen als einem durch das Wohnen im Raum herangezuchteten, verwohnten Wesen: „Der Korper ist nicht im Raum, er wohnt ihm ein.“ (Maurice Merleau-Ponty, zit. n. Sloter­dijk 2001b: 198) Diesen Gedanken greift Sloterdijk in ,Regeln fur den Menschen- park’ wieder auf, wenn er davon spricht, dass insbesondere die Sesshaftwerdung und damit die Hauslichkeit das Verhaltnis zwischen Mensch und Tier grundsatzlich ver- andert haben: „Mit der Zahmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich das Epos von den Haustieren. Deren Bindung an die Hauser der Menschen ist aber nicht blob eine Sache von Zahmungen, sondern auch eine von Abrichtungen und von Zuch- tungen.“ (Sloterdijk 2001a: 322) In Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra. Ein Buch fur Alle und Keinen’ (1883-1885) meint Sloterdijk in diesem Zusammen- hang einen Diskurs uber den Menschen als eine zahmende bzw. zuchtende Gewalt zu erkennen, in dem der Mensch als Geschopf einer ,Verwohnungsgeschichte’ erscheint:

„Denn er wollte in Erfahrung bringen, was sich inzwischen mit dem Menschen zugetragen ha- be: ob er groBer oder kleiner geworden sei. Und einmal sah er eine Reihe neuer Hauser; da wunderte er sich und sagte: ,Was bedeuten diese Hauser? Wahrlich, keine groBe Seele stellte sie hin, sich zum Gleichnisse!’ [...] Und diese Stuben und Kammern: konnen Manner da aus- und eingehen? [...] Und Zarathustra blieb stehn und dachte nach. Endlich sagte er betrubt: ,Es ist alles kleiner geworden! Uberall sehe ich niedrigere Tore: wer meiner Art ist, geht da wohl noch hindurch, aber - er muss sich bucken! ’ [.] Ich gehe durch dies Volk und halte die Augen offen: sie sind kleiner geworden und werden immer kleiner - das aber macht ihre Lehre von Gluck und Tugend. [...] Einige von ihnen wollen, aber die meisten werden nur gewollt. [...] Rund, rechtlich und gutig sind sie miteinander, wie Sandkornchen rund, rechtlich und gutig mit Sandkornchen sind. Bescheiden ein kleines Gluck umarmen - das heiBen sie ,Ergebung’! [...]

Sie wollen im Grunde einfaltiglich eins am meisten: dass ihnen niemand wehe tue. [.] Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausthiere.“ (Nietzsche 1988b: 211-214)

Sloterdijk zufolge nimmt Nietzsche mit diesen Ausfuhrungen „hinter dem heiteren Horizont der schulischen Menschenformung einen zweiten, dunkleren Horizont“ (Sloterdijk 2001a: 325) wahr. Das Leben selbst ist etwas Ungeheures, und damit an­ders, als es sich ein milder Humanismus vorzustellen vermag. Wenn Zarathustra durch die Stadt wandert und dabei feststellt, alles sei kleiner geworden, so deutet er dies als das Resultat einer Domestikation, der sich die Menschen selbst unterworfen haben. Die groBe Mehrheit der Menschen denke demnach gar nicht daran, mehr wer­den zu wollen, als sie sind: „Sie wollen, was sie haben, nur komfortabler.“ (Sloterdijk17 2009a: 278) Zarathustras Humanismuskritik lasst sich in diesem Sinne lesen als eine Zuruckweisung der Harmlosigkeit, mit der sich der moderne Mensch - gleich einem ,Sandkornchen’ - umgibt, weil es eben gerade nicht harmlos ware, „wenn Menschen Menschen in Richtung auf Harmlosigkeit zuchteten“ (Sloterdijk 2001a: 325). So sind etwa die pastoralen Machttechniken (Foucault) der zunachst sich als harmlos geben- den Philanthropinisten, der selbsterklarten Menschenfreunde des 18. Jahrhunderts um Johann Bernhard Basedow, Joachim Heinrich Campe und Ernst Christian Trapp, alles andere als harmlos zu bewerten. Trotz ihrer vordergrundigen Ablehnung von Strafe etablierten diese mit dem Prinzip der Bevorzugung der Angepassten im Sinne Sloter- dijks ein Zuchtungsprogramm, wonach jeder, der sich nicht an die Regeln halt, sich letztlich nur selbst schadet. Es geht somit uber die Seele, d. h. der Schuler muss sozu- sagen Mitleid mit dem Lehrer haben, dass dieser gezwungen ist, ihn zu schlagen (vgl. dazu exemplarisch von Zedlitz 2001: 70 ff.).

Nietzsches Bemerkung, dass der Mensch das ,nicht festgestellte Thier’ sei, impliziert in diesem Zusammenhang den Gedanken, dass Menschen im Grunde die einzigen Lebewesen sind, die unter ihr Niveau rutschen, und sich selbst damit geradezu drama- tisch verfehlen konnen: ,Ein Tier ist keine Bestie, aber der Mensch kann es werden.’ (Rudiger Safranski) Es ist diese Gefahr des Abrutschens, die letztlich Nietzsches Vi- sionen vom Ubermenschen (vgl. dazu auch Kapitel 3.1) hervorrufen. Der Mensch muss uber sich hinauswollen, damit er gewissermaBen auf Augenhohe mit sich selbst bleibt. Versucht er jedoch lediglich sein Niveau zu halten, dann geht es bergab. Die Bewegung uber-sich-selbst-hinaus kann in diesem Sinne als eine Geste beschrieben werden, um nicht unter sich selbst zu fallen: „Alle Wesen bisher schufen Etwas uber sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser groBen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zuruckgehn, als den Menschen uberwinden?“ (Nietzsche 1988b: 14) Dass der Mensch einfach gelassen bei-sich-bleiben konnte, ahnlich wie ein Stein in sich ruht - eine solche Vorstellung vom ,letzten Menschen’ war dem Altphilologen undenkbar, und zwar aufgrund des viel zu komplizierten Selbstverhaltnisses des Menschen, wel­ches er mit den Worten „wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein“ (Nietzsche 1988a: 538) zusammenfasste, worin noch etwas von Arthur Schopenhauers Idee von18 der Befreiung vom Unbehagen in der Kultur durch die Kunst nachklingt. Der Dichter seines Lebens will sozusagen Urheberrechte an seinem Werk anmelden, d. h. der Mensch soll sich selbst verdanken konnen, was er ist und wozu er sich gemacht hat; er muss Macht uber sein eigenes Leben gewinnen. Den Enthusiasmus fur die Kunst deutet Nietzsche in diesem Zusammenhang als Triumph vom geistigen Wesen des Menschen uber die Naturbefangenheit seines Willens. Weil ein solcher Triumph moglich ist, so kann man sich - so Nietzsche - auch die Umgestaltung des Menschen zum Ziel setzen (vgl. Safranski 2000).

Nietzsches Plan ist es, die sogenannten ,Menschenfreunde’ bei ihrem wahren Namen und ihrer eigentlichen, bislang aber verschwiegenen Funktion zu nennen. Priester und Lehrer seien demnach Inhaber von „Zuchtungsmonopolen“ (Sloterdijk 2001a: 325), die den Menschen anhand bestimmter Programme - in padagogischem Kontext: an- hand von Bildungstheorien - zahmen, dressieren und somit letztlich in Richtung ,hausthierliche Umganglichkeit’ unterwerfen. Damit zeigt Nietzsche auf, dass es beim padagogischen Humanismus niemals nur um die weiter oben beschriebene Be- freundung des Menschen durch das Lesen ging, sondern immer auch um das Ausle- sen, d. h. der Selektionsgedanke war immer schon „als die Macht hinter der Macht im Spiel“ (ebd.: 327). Der Humanismus wird aus dieser Perspektive zu einer Ideologie der Unmenschlichkeit, indem alle konkreten Individuen, die sich der jeweiligen We- sensbestimmung des Menschen nicht fugen, nur noch in die Kategorie ,Unmensch’ fallen konnen (vgl. Bolz 2000: 452). An dieser Stelle fuhrt Sloterdijk nun erstmals den Begriff Anthropotechnik ein:

„Aber der Diskurs uber die Differenz und Verschrankung von Zahmung und Zuchtung, ja uber- haupt der Hinweis auf die Dammerung eines Bewusstseins von Menschenproduktionen und all- gemeiner gesprochen: von Anthropotechniken - dies sind Vorgaben, von denen das heutige Denken den Blick nicht abwenden kann, es sei denn, es wollte sich von neuem der Verharmlo- sung widmen.“ (Sloterdijk 2001a: 326; Hervorh. R. K.)

2.5 Anthropotechnik

Anthropotechnik - im Sinne einer materiellen Anthropologie - meint demnach zu- nachst, dass der Mensch sich selbst zum Gegenstand von Veranderungsprogrammen macht, d. h. der Mensch wird explizit als Produkt definiert, welches nur verstanden werden kann, „indem man seinen Produktionsverfahren und -verhaltnissen analytisch nachgeht“ (Sloterdijk 2001b: 152). Unter solche Anthropotechniken fasst Sloterdijk nicht nur die tatsachliche Unterwerfung des Menschen unter eine avancierte Techno- logie (wie im Falle der Gentechnik), sondern samtliche Verfahren zur Gestaltung, Bildung, Erziehung, Sozialisation und Zivilisierung des Menschen:

„Zu den kulturwirksamen Formungstechniken am Menschen gehoren symbolische Institutionen wie Sprachen, die Grundungsgeschichten, die Heiratsregeln, die Verwandtschaftslogiken, die Erziehungstechniken, die Normierung der Geschlechts- und Altersrollen, nicht zuletzt die Vor- bereitungen zum Krieg sowie die Kalender und die Teilung der Arbeit - all jene Ordnungen, Techniken, Rituale und Ublichkeiten, mit denen die Menschengruppen ihre symbolische und disziplinarische Formung selbst ,in die hand’ genommen haben [...]. Diese Ordnungen und Formkrafte sind es, die der sinngerecht verwendete Ausdruck Anthropotechniken bezeichnet.“ (ebd.: 202)

Diverse Kritiker unterstellten Sloterdijk im Anschluss an die Elmauer Rede „gen- technische Zuchtungsphantasien“ (Evers/Franke/Grolle 1999: 307; vgl. dazu auch Kapitel 2.8), indem sie den Begriff Anthropotechnik a priori als Synonym fur Gen­technik verstanden wissen wollten. In einem spateren Interview bringt Sloterdijk zum Ausdruck, dass die Gentechnik aus seiner Sicht lediglich eine Form von Anthropo­technik unter anderen sei und somit nicht darauf verengt werden durfe: „Die Gen­technik ist nur eine Variation des Grundverhaltnisses, wonach Menschen immer schon selbstformende Wesen sind. Sie bringen sich seit jeher in Eigentatigkeit her- vor.“ (Sloterdijk 2009e: o. S.; vgl. dazu auch Zimmerli 2000: 457) In diesem Zusam- menhang spricht sich Sloterdijk ebenfalls explizit gegen jedwede Form von vorge- burtlicher Determinierung aus, bei der die Produzenten ihre Nachkommen nach ihren jeweiligen Vorstellungen formen: „Es ware abwegig, wollte man eines Tages Eltern die Freiheit geben, extremblonde oder hyperintelligente oder superbrave Kinder nach einem genetischen Menuplan zu erstellen.“ (Sloterdijk 2009e: o. S.) Eine weitere ein- deutige Stellungnahme gibt Sloterdijk in der Einleitung zu seinem neuen Buch ab: „Wer darauf achtet, dass es heiBt: ,Du musst dein Leben andern!’ und nicht ,Du sollst das Leben verandern!’, hat schon im ersten Durchgang verstanden, worauf es an- kommt.“ (Sloterdijk 2009a: 23; Hervorh. im Orig.)

Definiert man den Menschen als ein Produkt, so stellt sich automatisch die Frage nach dem Produzenten. Sloterdijk argumentiert allerdings, dass die Vorstellung eines Produzenten - sei es nun Gott oder der Mensch selbst - im Sinne von ,X erzeugt Y’ einem gedanklichen Kurzschluss gleichkommen wurde, da man jeweils ein Gefalle voraussetzen musste, bei dem der Produzent seinem Produkt vorausgeht. Vor diesem Hintergrund werden nun die einleitenden Uberlegungen zu den Mechanismen, mittels derer der Mensch sich als das Wesen etablieren konnte, das in der Welt ist (Heideg­ger), verstandlicher: Der Mensch hat sich immer schon durch Anthropotechnik selbst hergestellt. Er ist demnach kein Produkt eines Hersteller-Subjekts, sondern Resultat von Herstellungen: „Der Mensch steigt nicht aus dem Hut des Zauberers wie der Affe vom Baum; er geht auch nicht aus der Hand eines Schopfers hervor, der alles im Vor- auswissen uberblickt. Er ist das Produkt einer Produktion, die selbst kein Mensch ist (Sloterdijk 2001b: 167 f.) Dabei differenziert Sloterdijk noch einmal zwischen primaren und sekundaren Anthropotechniken. Primare Anthropotechniken nennt er diejenigen Prozeduren, die den Menschen als ein erziehbares Wesen voraussetzen, dieses aber nicht erzeugen (Erziehung, Disziplinierung, Bildung). Ihnen voraus gehen die sekundaren Anthropotechniken, welche die Autodomestikation des Menschen auslosten, womit die weiter oben beschriebenen vier Mechanismen, welche die Spha- re des Menschlichen etablierten, gemeint sind. Auch die Gentechnik ist nach Sloter­dijk zu diesen sekundaren Anthropotechniken zu rechnen, da diese eine „Fortsetzung der Schneidetechnik im Subtilen [vgl. dazu die obigen Ausfuhrungen zum Mecha- nismus der Korperausschaltung, R. K.]“ (Sloterdijk 2001b: 202) darstellt. Das von Sloterdijk so bezeichnete anthropotechnische Zeitalter, welches kunftig anbreche, zeichnet sich dadurch aus, „dass Menschen mehr und mehr auf die aktive oder sub- jektive Seite der Selektion geraten [...]“ (Sloterdijk 2001a: 328). Damit ist gemeint, dass der Mensch, auch wenn er in der Kultur lebt, nach wie vor biologisch gepragt wird. Geschah dies bislang auf eine eher naturwuchsige und unbewusste Weise, so ist kunftig damit zu rechnen, dass diese Pragungen zunehmend bewusst vollzogen wer- den (vgl. Heinrichs/Sloterdijk 2001: 58).19

Bereits seit Platon ist die Vorstellung, dass Menschen Tiere sind, von denen die einen die Zuchter, die anderen die Gezuchteten sind, keine Unbekannte mehr. In Platons Webergleichnis, welches dem Dialog Politikos (ca. 367 v. Chr.) entstammt, meint Sloterdijk den Beginn der Idee eines zuchterischen Konigswissens zu erkennen. Schon in der Politeia (,Der Staat’, 374 v. Chr.) hatte Platon die Konzeption einer ide- alen Staatsverfassung vorgenommen, wobei es ihm vornehmlich darum ging, die Ge- rechtigkeit als einen Wert an sich darzulegen und damit die Aussage des Sokrates, es sei schlimmer, Unrecht zu tun als Unrecht zu erleiden, als wahr herauszustellen. Ge- rechtigkeit wird von den meisten Leuten als instrumenteller Wert - auf Basis von Klugheit - begriffen, d. h. als ein Kompromiss, um jedem Einzelnen einen Schutz- raum zu gewahren. Daher geht Platon davon aus, dass sobald Gesetze unmerklich ubertreten werden konnen, die Leute davon Gebrauch machen werden. Um dies zu vermeiden mochte er einen inneren Wert von Gerechtigkeit herausstellen, und zwar zunachst im GroBen (Stadt, Staat), erst dann erfolgt ein Blick auf den Einzelnen. In Platons Staat herrscht eine strenge aristokratische Standeordnung. Der ideale ,Hirte’ - Heidegger ubernimmt spater seine Hirten-Metapher von Platon - war schon immer Gott, der Demiurg, aber im Zeitalter nach der Gotterdammerung sind die Menschen gezwungen, sich selbst zu huten. Der wahre Hirte kann aber nur ein dem Gott nahe- stehender Weiser sein. In Platons Staat sollen deshalb die Philosophen uber die Krie- ger/Wachter und Arbeiter regieren, da sie eine Ahnung von der Idee des Guten haben, welche Platon als Ziel und Ursprung allen Seins, als das ,Hochstwissbare’, von dem alle Wirklichkeit her zu verstehen ist, gilt (vgl. Kunzmann/Burkard/Wiedmann 1999: 39). Wie man sich eine solche Herrschaft vorzustellen hat, fuhrt Sloterdijk in einer jungeren Ausgabe des Philosophischen Quartetts unter dem Titel ,Die Politik Papst Benedikts XVI. Kreuzzug gegen die Moderne?’ aus.20 Darin bekundet er, dass Bene- dikt gegenwartig sehr stark an solche platonischen Denkweisen - der Platonismus verstanden als eine Lehre von der Wahrheit, die auch in die Gestaltung des prakti- schen Lebens einflieBen will und soll21 - anknupft. Sloterdijk sieht Benedikt als einen herrschenden Platoniker an der spirituellen bzw. symbolischen Macht, der eine Dikta- tur der Wahrheit in Form einer echten Expertenherrschaft des Heilswissens ausubt; ein zeitgeschichtliches Ereignis von groBter Unwahrscheinlichkeit (vgl. Kapitel 3.1), auf das Europa in einer solchen Form kaum noch gefasst war.

[...]


1 Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Nietzsche diese prinzipielle Offenheit des Men­schen als Symptom einer ,krankhaften Entwicklung’ wertete, wie aus seinen nachgelassenen Fragmen- ten hervorgeht: „Grundsatz: das, was im Kampf mit den Thieren dem Menschen seinen Sieg errang, hat zugleich die schwierige und gefahrliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht. Er ist das noch nicht festgestellte Thier.“ (Nietzsche 1988h: 125)

2 So war der Begriff Anthropotechnik bereits „wahrend der heroischen Jahre der Russischen Revoluti­on in Gebrauch, wo er vor allem die spekulativ antizipierten Moglichkeiten biotechnischer Manipulati- onen an der menschlichen Erbsubstanz bezeichnete“ (Sloterdijk 2009a: 23).

3 Obwohl sich Sloterdijk immer wieder auch explizit zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen geauBert hat, wurde dieser in der Padagogik bislang - abgesehen von einigen wenigen Aufsatzen in erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften - kaum rezipiert. Die Grunde hierfur werden in Kapi- tel 2.9 diskutiert.

4 Wie der Kulturwissenschaftler und Philosoph Thomas Macho bemerkt, sei gerade dieser Aspekt der

„anlass- und titelbildende[n] Profilierung der Medien der Freundschaft gegen die anthropotechnischen Strategien der Zuchtung“ (Macho 2009: 484) in dem nachfolgenden Streit um die Elmauer Rede nicht ernsthaft genug wahrgenommen worden, obwohl gerade der Gegensatz „zwischen Freundschaft und Verwandtschaft, Politik und Familie [immer schon] ein Grundthema antiker Tragodienstoffe (wie der Antigone) oder auch der gnostischen Evangelien und ihrer Kritik am Unsterblichkeitsprojekt der Fort- pflanzung“ (ebd.; Hervorh. im Orig.) gewesen sei.

5 Das bekannteste Beispiel im padagogischen Kontext des 20. Jahrhunderts hierfur ist sicher die Be- freiungspadagogik von Paulo Freire, dessen Alphabetisierungsmethode explizit auf die Humanisierung und damit auf die Befreiung aus der Unterdruckung des (brasilianischen) Volkes zielte: „Nun sind zwar Humanisierung und Enthumanisierung echte Alternativen, aber nur erstere ist des Menschen wahre Berufung.“ (Freire 1973: 38)

6 Dabei ist die Entdeckung, dass Macht nicht nur uber einzelne Individuen, sondern auch uber eine ganze Bevolkerung ausgeubt werden kann, komplexer als es zunachst den Anschein hat: „Und was bedeutet ,Bevolkerung’? Die Bevolkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, be- herrscht und gelenkt sind. Eine Bevolkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyra- mide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Bevolkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.“ (Foucault 2005a: 235)

7 In ,Das Unbehagen in der Kultur’ (1929/1930) beschreibt Freud, wie das Handeln des Menschen durch zwei gegensatzliche Grundtriebe bestimmt wird: auf der einen Seite durch den Libidotrieb (Eros), auf der anderen durch den Aggressionstrieb (Thanatos). Weil der Mensch immer zwischen diesen beiden Triebkraften steht, bedarf es einer Kultur, die vor allem den Aggressionstrieb zugelt, was Freud zwar als fur den Einzelnen unerfreulich, letztlich aber fur unvermeidlich halt: „Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut.“ (Freud 2003: 61) Das Unbehagen in der Kultur wird also letztlich dadurch ausgelost, dass jeder Kultivierungsprozess dem Einzelnen in gewisser Weise Gewalt antut, was aber notwendig ist, um den Aggressionstrieb zu sublimieren. So heiBt es spater auch bei Theodor W. Ador­no: „Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dage- gen aufzubegehren.“ (Adorno 1993: 88)

8 Zum schwierigen Verhaltnis von Padagogik und Anthropologie vgl. Heitger 2001.

9 Dies ist unter anderem auch einer der Grunde dafur, weshalb der Bild-ungsbegriff so schwer zu bestimmen und grundsatzlich immer verdachtig ist.

10 Ein ahnlicher Versuch, gewissermaBen uber den Humanismus hinauszudenken, ist bei Niklas Luh- mann zu finden. Dadurch, dass Luhmann mit der alteuropaischen Tradition bricht, Personen den ge- sellschaftlichen Systemen zuzuordnen, er den Menschen also nicht als Teil, sondern in der Umwelt des Sozialen verortet, sah dieser sich haufig - ahnlich wie Sloterdijk in der Debatte um die Elmauer Rede - antihumanistischen Vorwurfen ausgesetzt. Aus systemtheoretischer Sicht lasst sich allerdings entgeg- nen, dass Luhmann gerade dadurch, dass er den Menschen nicht als Teil des Sozialen sieht, sowohl eine hohere Komplexitat als auch groBere Freiheiten - insbesondere zu unvernunftigem und unmorali- schem Verhalten - einraumt als dies etwa in sozialen Rollentheorien der Fall ist, da die Umwelt grund- satzlich komplexer gestaltet ist als das System (vgl. Luhmann 2002: 13-47).

11 Diese Frage erinnert an die bekannte Klage, die bereits Kant formuliert hatte, „dass der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die [leider] ebenfalls erzogen sind. [...] Wenn einmal ein Wesen hoherer Art sich unserer Erziehung annahme, so wurde man doch [endlich] sehen, was aus dem Menschen [eigentlich] werden konne“ (Kant 2001: 42)

12 Heidegger entleiht diese Wendung bei Zarathustras Tieren, die dem Genesenden vorhalten: „Alles bricht, alles wird neu gefugt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins “ (Nietzsche 1988b: 273; Her- vorh. R. K.)

13 Sloterdijk bemerkt, dass es mit der „Zerebralisation und der Neokortikalisierung“ (Sloterdijk 2001b: 175) noch einen funften Mechanismus gibt. Diesem will er allerdings nicht naher nachgehen, zum einen, da der Sachverhalt fur den vorliegenden Rahmen zu komplex sei, zum anderen, weil die evolu- tionare Entwicklung des Gehirns im Grunde als Resultat der ersten vier Mechanismen „in einem sich eigens hierfur steigernden Organ“ (ebd.: 175 f.) verstanden werden musse.

14 Mit der Raumerfahrung als primarer Existenzerfahrung hat sich Sloterdijk ausfuhrlich in seinem „Opus Magnum“ (Safranski 2009: 75) beschaftigt, der Spharen-Trilogie.

15 Sloterdijk verwendet fur die Geschichte der Wahrheit die Metapher vom „Abbrennen einer begriffli- chen Zundschnur, die sich von Athen nach Hiroshima windet - und, wie wir sehen, weiter in die Laho­re der aktuellen Gentechnik und, wer weiB wohin, daruber hinaus“ (Sloterdijk 2001b: 214). Seitdem Nietzsche damit begonnen hatte, den Irrtum als Regel und Norm auszuweisen, wahrend Wahrheit allenfalls in widerlegbaren Irrtumern zu finden und das Bemuhen um Evidenz letztlich nur ein Dienst am Gotzen Tatsachlichkeit sei, geht vom Wahrheitsbegriff stets ein gefahrliches Potential aus, wobei immer auch der Mensch selbst auf dem Spiel steht: „In diesem Zuwachs des technischen Wissens und Konnens enthullt sich der Mensch vor sich selbst als der unheimlichste Gast, der je unter seinesglei- chen auftauchte [...]. Er drangt sich in eine Position, in der er Antwort geben muss auf die Frage, ob das, was er da kann und tut, auch wirklich er selbst sei und ob er in diesem Tun bei sich ist.“ (ebd.)

16 Pierre Bourdieu bemerkt, dass in der Sprache immer auch die objektiven Herrschaftsbedingungen einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Ahnlich wie Sloterdijk demonstriert Bourdieu die symboli- sche Macht der Sprache dabei besonders eindrucksvoll anhand der Philosophie Martin Heideggers (vgl. Peter 2004: 61-65).

17 Vgl. dazu ausfuhrlich Sloterdijk 1988.

18 Nietzsches Zarathustra gelten die letzten Menschen „als die schadlichste Art Mensch, weil sie eben- so auf Kosten der Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre Existenz durchsetzen“ (Nietzsche 1988d: 369) und damit gleichsam als Anfang vom Ende: „Sie kreuzigen den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!“ (ebd.) Gegenuber dieser Tendenz zur kulturellen Musealisierung in Form eines selbstverhangten Veranderungsverbotes pladiert Nietzsche „umgekehrt [fur] die Verscharfung aller Gegensatze und Klufte, Beseitigung der Gleichheit, das Schaffen Uber-Machtiger“ (Nietzsche 1988g: 244).

19 Aus seinen neueren Ausfuhrungen in ,Du musst dein Leben andern’ geht hervor, dass der von der Offentlichkeit vielfach kritisierte Schritt auf die aktive Seite der Selektion fur Sloterdijk nicht mehr als die einzig mogliche Konsequenz vor dem Hintergrund des absoluten Imperativs und einem Leben in Ubungen darstellt: „Subjekt wird hiernach, wer an einem Programm zur Entpassivierung seiner selbst teilnimmt und vom bloBen Geformtsein auf die Seite des Formenden ubertritt.“ (Sloterdijk 2009a: 306)

20 Die Folge kann unter http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/20/0,1872,7931220,00.html [18.02.2010] abgerufen werden.

21 In diesem Punkt hat Aristoteles seinem Lehrer Platon mit einem - so Sloterdijk - fur Europa le- benswichtigen Argument widersprochen, als er sagte, die Welt des Politischen sei die Sphare des Wahrscheinlichen, und nicht die der Wahrheit.

Final del extracto de 98 páginas

Detalles

Título
Pädagogik und Anthropotechnik
Universidad
Ruhr-University of Bochum  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Calificación
1,0
Autor
Año
2010
Páginas
98
No. de catálogo
V149537
ISBN (Ebook)
9783640605361
ISBN (Libro)
9783640605668
Tamaño de fichero
990 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, Du musst dein Leben ändern, Humanismus, Michel Foucault, Biomacht, Gentechnik, Der neue Mensch, Der Mensch als Maschine, Jeremy Rifkin, Technologien des Selbst, Niklas Luhmann, Finanzkrise, Globalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung
Citar trabajo
M.A. René Klug (Autor), 2010, Pädagogik und Anthropotechnik, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149537

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