Leseprobe
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kollektive Intelligenz
2.1. Definitionen
2.2. Grenzen zur Schwarmintelligenz
2.3. Ausprägungen im Cyberspace
3. The Lost Ring
3.1. Einführung in das Spiel
3.2. Anwendung kollektiver Intelligenz
3.2.1. Koordination
3.2.2. Kooperation im virtuellen Raum
3.2.3. Kooperation im realen Gelände
4. Ausblick
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Amnesiacs. http://olympics.wikibruce.com
Abb. 2: Packet. http://www.flickr.com/photos/thedancingkids/2307077320
Abb. 3: Rekrutierungsmaterialien. http://work.akqa.com/thelostring
Abb.4: Artefakten-Fundorte. http://www.flickr.com/photos/25432347@N08/map/
Abb.5: Labyrinth in Melbourne. http://olympics.wikibruce.com/Image:Omphalos_Melbourne.jpg
1. Einleitung
Das erste Alternate Reality Game (im Folgenden: ARG) stammt aus dem Jahr 2001 und wurde unter dem Titel „The Beast“ bekannt. Es handelte sich dabei um eine Marketingkampagne für Steven Spielbergs Film „A.I. - künstliche Intelligenz“ und gehört bis heute zu den bedeutsamsten ARGs. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche weitere Spiele entwickelt, welche zum viralen Marketing, doch auch unkommerziell genutzt wurden.
Wie die Bezeichnung schon impliziert, handelt es sich bei einem ARG um ein Spiel, welches an die Realität geknüpft ist und auf Wechselseitigkeit beruht. So stehen die Spieler ständig in Kontakt zu den Spieldesignern, den Puppetmasters (im Folgenden: PM) , und nutzen alle zur Verfügung stehenden Mittel, um die Rätsel und Aufgaben ihres Spieles zu lösen.
Hierbei steht das Prinzip „This is not a Game!“ im Vordergrund. Die Spieler integrieren ARG’s oftmals stark in ihren Alltag und von Beginn an ist nicht zwangsläufig jedem bewusst, dass alle durchgeführten Aktionen lediglich einer fiktiven Narration zum Fortgang verhelfen. Dies beruht darauf, dass der Spielbeginn durch ein „rabbit hole“ eingeleitet wird, welches meist eine geheimnisvolle, kodierte Nachricht ist, die den Spieler um seine Hilfe zum Lösen einer an Deadlines gebundenen Situation auffordert. Im Idealfall setzt der Spieler sich nun mit anderen potenziellen Mitspielern, meist via Internet, in Verbindung und schon nach kurzer Zeit hat sich eine Gruppe von ARGSpielern in Foren, Blogs oder Wikis organisiert.
Eine aufschlussreiche Erklärung dieses Genres bieten Adam Martin und Tom Chatfield in einem ARG Whitepaper: „Alternate Reality Games take the substance of everyday life and weave it into narratives that layer additional meaning, depth, and interaction upon the real world. The contents of these narratives constantly intersect with actuality, but play fast and loose with fact, sometimes departing entirely from the actual or grossly warping it - yet remain inescapably interwoven. Twenty-four hours a day, seven days a week, everyone in the country can access these narratives through every available medium - at home, in the office, on the phones; in words, in images, in sound.”1 Allerdings ist gerade durch die besondere Bedeutung des Internets bei ARGs die Behauptung „everyone in the county can access“ nicht ganz korrekt, da es eigentlich „everyone in the world“ heißen müsste, insofern die Person Zugriff auf derartige Medienapplikationen besitzt.
Das besondere an dieser Art des Spielens ist zum einen der Realitätsbezug in der Narration, welcher stets offen lässt ob diese überhaupt fiktiv ist und die Spieler dazu ermuntert auch ihre geographisch - physische Realität nach Lösungen oder Hinweisen auf den Spielverlauf zu untersuchen. So müssen manchmal habtische Artefakte wie bei einer Schnitzeljagd gefunden werden oder die Spieler können in realen Kontakt mit Figuren der Geschichte treten. Dadurch kommt es zum anderen zu einem transmedialen Geschichtenerzählen, da den Spielern und Puppetmastern fast keine Einschränkungen bei ihrer Medienauswahl gesetzt sind. Eine der führenden ARG- Expertinnen Christy Dena fasst dies mit ARGs „[…] provide unique elements in a variety of media platforms.“2 zusammen.
Durch die vielfältige Medieneinbindung und hohe Erreichbarkeit über das Internet finden sich bei ARGs eine riesige Anzahl an Menschen zusammen, die nun kollektiv agieren müssen. Deny dazu: „It is the task of players to collaborate to uncover clues and plot points, solve puzzles, create content, converse with and rescue characters.”3 Bei tausenden von Mitspielern muss also ein Organisationspirinzip geschaffen werden, welches jedes Einzelpotential effektiv einbindet und nutzt. Erstaunlicherweise gibt es bei ARGs jedoch keinen alleinbestimmenden Spielleiter, sondern nur PM, die lenken und helfen, jedoch ebenso durch die Spieleraktionen bestimmt werden. Folgernd kann man behaupten, dass die Spieler von ARGs sich eigenständig zu einer kollektiven Intelligenz verbinden und die Merkmale von Schwarmverhalten aufzeigen. Auf den nächsten Seiten soll untersucht werden inwieweit diese These zutrifft und welche Abgrenzungen es von Schwärmen und Smart Mobs zu ziehen gilt.
Als Beispiel- und Forschungsobjekt dient „The Lost Ring“ - ein ARG aus dem Jahr 2008, welches eine anonyme Marketingkampagne für McDonalds war und sich mit der Thematik der Olympischen Spiele befasste. An ihm nahmen cirka 5000 aktive Spieler aus über 100 verschiedenen Ländern teil, welche acht Sprachen zur Verständigung nutzten.4 Durch die Globalität und Komplexität dieses Spiels ist hervorragend für den Nachweis von kollektiver und Schwarmintelligenz geeignet.
2. Kollektive Intelligenz
2.1. Definitionen
Der Begriff der kollektiven Intelligenz, oder auch des intelligenten Kollektivs, wird äußerst vielfältig verwendet. Man findet ihn in der Biologie, der Physik, der Informatik, aber eben auch in der Soziologie und Psychologie. Natürlich hat jedes Forschungsgebiet eine eigene Vorstellung dieses Begriffes, greift aber gelegentlich auch auf Definitionen der anderen Disziplinen zurück. Daher wird kollektive Intelligenz oftmals gleichbedeutend mit Begriffen wie Schwarmintelligenz oder Superorganismus verwendet. Die Richtigkeit dieser Synonyme hängt ebenfalls vom Anwendungsgebiet ab und wird in Abschnitt 2.2. näher erläutert.
In dieser Betrachtung zu kollektiver Intelligenz in ARGs dominiert die Definition des französischen Philosophen Pierre Lévy, welcher diesen Begriff schon 19945 im Zusammenhang mit dem Cyberspace sowie dem immer populärer werdenden Internet prägte. Er äußerte: „Es ist eine Intelligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert erschafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann.“6 Es handelt sich also darum verschiedene Quellen und deren Fähigkeiten zu nutzen, so dass der größtmögliche Effekt daraus resultiert. Wenn Lévy von Echtzeit spricht, dann sieht er auch das Internet als Instrument dafür, denn um Ressourcen, die überall verteilt sind, in Echtzeit zu bewegen und zu organisieren bedarf es der digitalen Technik. Er geht genauer auf die Verteilung des Wissens ein, wenn er sagt: „Niemand weiß alles, jeder weiß etwas, in der Menschheit liegt das gesamte Wissen. Es gibt keinen Ort des transzendenten Wissens, das Wissen ist nichts anderes als das, was die Menschen wissen.“7 Es ist etwas verwirrend, dass er hier nun Wissen mit Intelligenz gleichsetzt, wobei Lévy mit beidem wohl geistige Ressourcen meint, da er den Begriff Wissen nicht als die Kenntnis von Fakten billigt, sondern es eher als sozialen wachsenden Prozess ansieht.8 Andererseits bedeutet dies auch eine neu erschaffene Demokratie durch die effektive Nutzung der Kommunikationssysteme.9 Wer Teil der kollektiven Intelligenz im Cyberspace wird, hat genauso viel Zugriff auf Wissen wie ein anerkannter Akademiker und vor allem trägt er das Gleiche wie jener zum Zuwachs dieser Informationen bei.
Pierre Lévy sah schon in der Anfangsphase des Internets für Privatanwender voraus, dass es zu einem riesigen globalen Austausch von Ideen und Daten führen und mit der Zeit Intelligenz, Erfahrungen und Fähigkeiten durch neue Methoden mobilisieren und koordinieren wird.10 Dadurch entsteht die kollektive Intelligenz der Internetgemeinde; bei ausreichender Versorgung mit den technisch nötigen Einrichtungen sogar die kollektive Intelligenz der gesamten Menschheit. Jeder steuert seinen Teil an geistiger Kraft bei und dies ergibt nicht nur die Summe der gestellten Ressourcen, sondern bildet einen gigantischen Pool aus Potentialen, die sich alle gegenseitig bereichern und vermehren. “The basis and goal of collective intelligence is the mutual recognition and enrichment of individuals."11 Es handelt sich also nicht, um eine] Kulturtechnik mit einem konkreten Ziel, welches zu einem Zeitpunkt erreicht sein wird, sondern baut sich aus reinem Selbstzweck auf. Man könnte soweit gehen kollektive Intelligenz als ein evolutionäres Merkmal der Menschheit anzusehen. Dies wird unterstützt durch den Gründungsdirektor des MIT Center for Collective Intelligence in Cambridge Thomas J. Malone, wenn er ausführt: „Collective intelligence has existed for a very long time… we could even view a single human brain as a collection of individual neurons or parts of the brain that collectively act intelligently.”12 Somit besteht dieses Phänomen nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern in jedem Individuum drin nochmals - ähnlich einem Fraktal. Der Vergleich mit den Nervenzellen des Gehirns lässt sich jedoch nicht ganz mit den Vorstellungen Lévy’s vereinigen, da ein Neuron an sich keine Intelligenz aufweist. Hier erreicht man die flüchtige Grenze der kollektiven Intelligenz hin zur Schwarmintelligenz, welche im Folgenden näher erläutert wird.
2.2. Grenzen zur Schwarmintelligenz
Wie schon am Namen erkennbar ist, kommen Schwarmphänomene aus dem Tierreich - oft werden Beispiele mit Bienenschwärmen oder Ameisenstaaten gebracht. „Wie von der unsichtbaren Hand eines zentralen Organisators gelenkt, vollbringen in einer solchen Insektensozietät - einem solchen «Superorganismus» - die einzelnen Individuen in ihrer Gesamtheit kognitive Leistungen, die das Vermögen jedes Einzeltiers weit übersteigen. Doch eine hierarchisch oberste Instanz, ein zentraler Organisator, ist nirgends erkennbar. […] Sie ist dezentralisiert als kollektive Intelligenz über die Gesamtheit der Gruppenmitglieder verteilt.“13, beschreibt der Neuro- und Verhaltensbiologe Rüdiger Wehner, zeigt damit jedoch noch nicht auf wo die Grenzen zwischen kollektiver Intelligenz und Schwarmintelligenz verlaufen. Er setzt diese beiden Phänomene sogar gleich. So ist ein Superorganismus auch ein parallel angelegter Massenprozess, welcher ebenso von den zahlreichen individuellen Lernmustern seiner Bestandteile bereichert wird.
Eine etwas klarer abgegrenzte Definition bietet James Kennedy, der meint: „simple local rules can produce complex and adaptive social patterns of behaviors.”14 Somit erscheinen Schwarmphänomene wie eine vereinfachte Form von kollektiver Intelligenz. Zwar sind die kognitiven Ergebnisse größer als es alle Individuen einzeln vollbringen würden, in der Entstehungsphase aber geht man nicht von komplexen Prozessen aus. Diese Definitionen mögen für Tiere gelten, nun stellt sich die Frage, ob sie auf den Menschen übertragbar und daher mit intelligenten Kollektiven vergleichbar sind.
Der Psychologe Peter Kruse ist überzeugt davon, dass Schwarmverhalten auch bei Menschen stattfindet. Wer sich auf ein regelgeleitetes Verhalten reduziert, wird Teil eines einfachen gruppendynamischen Selbstorganisationsphänomens. Jedoch handelt es sich bei Schwarmintelligenz eben nur um recht primitive Elemente, die sich über ein Regelwerk selbst ordnen. „Schwarmverhalten ist für sich genommen eben nur eine sehr einfache Stufe kollektiver Intelligenz.“15
Die Schlichtheit der Schwärme muss jedoch nicht zwangsweise negativ gedeutet werden. Der Trendforscher Peter Wippermann spricht von einer sozialen Revolution nach der technischen Revolution des Internets. Auf Zeit verbindet es Gemeinschaften und schafft16 „smarte Mehrheiten“. Somit wird das menschliche Sozialverhalten effizienter organisiert - unabhängig gesehen davon wie sich dies eventuell auf soziale Kompetenzen auswirken könnte. Wippermann sieht auch ein, dass Schwarmintelligenz keine Innovationen hervorbringen kann. Sie ist lediglich ein Ordnungs- und Verbindungsprinzip, welches dennoch Prozesse beschleunigt. Dies ist ein evolutionäres Verhalten des Menschen, um Probleme schneller zu lösen. Durch die bestehenden Verbindungen können viele Lösungsansätze parallel getestet werden, was wiederum in eine „problem-solving intensity greater than the sum of individuals’ solitary efforts“17 resultiert; im Grunde genommen also doch auch dem Zweck kollektiver Intelligenz. Man kann also davon ausgehen, dass es Schwarmverhaltens bedarf, um kollektive Intelligenz zu aktivieren; erst die Verbindung, dann der Intellekt.
Kennedy, Eberhardt und Shi haben sich in ihrem Werk einige Gedanken zur Entstehung dieser Erscheinungen gemacht. Zum einen ist der Geist sozial, da die angeborene menschliche Intelligenz durch soziale Interaktion entsteht. Diese wiederum resultiert zum anderen in die Bildung von Kulturen: „Culture emerges as individuals become more similar through mutual social learning. The sweep of culture moves individuals toward more adaptive patterns of thought and behavior.”18 Auch Prof. Peter Kruse stimmt zu, dass die Kultur das Produkt, der Beginn und ebenso ein Synonym für kollektive Intelligenz ist. Ein Schwarm schafft es sich zu einem intelligenten Kollektiv zu wandeln, indem er interagiert und damit Bedeutungsräume erschafft, in denen gemeinsam Lösungen erzeugt werden.19
Lévy grenzt genauso das Schwarmverhalten von der kollektiven Intelligenz durch die Kultur ab. Er bezeichnet es sogar als „barbarisch“ und „verabscheuenswürdig“ menschliche Gemeinschaften mit Ameisenhaufen zu vergleichen, da die kollektive Intelligenz nicht aus unüberlegten automatisierten Handlungen erfolgt, „denn in diesem Fall ist es das Denken der Menschen, das das Denken der Gesellschaft verewigt, erfindet und in Bewegung bringt.“20
[...]
1 International Game Developers Association (2006): Alternate Reality Games White Paper, S.6.
2 Dena, Christy (2008): Emerging Participatory Culture Practices, S. 42.
3 ebd. S.42.
4 vgl. McGonigal, Jane (2008): http://blog.avantgame.com/2008/08/we-found-lost-ring.html [Stand: 2.3.2010].
5 Lévy, Pierre (1997): Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace. Dies ist zwar die deutsche Erstausgabe, jedoch bestand das französische Copyright für „L’intelligence collective. Pour une anthropologie du cyberspace“ schon 1994.
6 Lévy, Pierre (1997): Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, S. 29.
7 ebd., S. 30.
8 vgl. Lévy 1997, S. 26ff.
9 Lévy, Pierre (1996): Städte, Territorien und Cyberspace.
10 vgl. McGonigal, Jane (2007): Why I Love Bees: A Case Study in Collective Intelligence Gaming, S. 1.
11 ebd., S. 5.
12 ebd., S. 16.
13 Wehner, Rüdiger (2001): Miniaturgehirne und kollektive Intelligenz. Zur Evolution biologischer Komplexität.
14 Kennedy, James/Eberhart, Russell/Shi, Yuhui (2003): Swarm intelligence, S. 131.
15 Buhse, Willms/Mühlner, Jens/Rausch, Alexander (2003): Livestream DNAdigital. DNAdigital im Gespräch Peter Kruse.
16 vgl. Brückerhoff, Björn (2005): Interview mit Prof. Peter Wippermann. „Wer nicht erreichbar ist, hat schon verloren“.
17 Kennedy/Eberhart/Shi 2003, S. 79.
18 ebd., S. xxi.
19 vgl. Buhse/Mühlner/Rausch 2003.
20 Lévy 1997, S. 32f.