Computerspiele haben sich seit ihrer Genese vor etwa 60 Jahren enorm weiterentwickelt und
ausdifferenziert. Aus anfangs relativ simplen zweidimensionalen Spielen hat sich im Laufe der
Zeit eine breite Vielfalt an Spielkonzepten, Inhalten und ästhetischen Inszenierungstechniken
herausgebildet. Dabei emanzipierte sich das Computerspiel von einem elektronischen Spielzeug
zu einem eigenständigen Medium. Die oft verwendete Definition des Spiels als zweckfreie
Beschäftigung, wie sie von dem niederländischen Ludologen Johan Huizinga (2009: 16ff.) seit
1938 geprägt wird, trifft auf das Medium Computerspiel nicht vollkommen zu. Computerspiele
können beispielsweise auch zu Trainings- oder Schulungszwecken eingesetzt werden oder einen
ernsten Inhalt transportieren. Dies wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher ausgeführt.
Spiele und die Beschäftigung mit ihnen gehören ohne Frage zur Kultur. Allerdings scheint dies
nur für Spielformen wie dem Theaterspiel, dem Sportspiel, dem Brettspiel, dem Wortspiel etc.
zu gelten. Bei digitalen Spielen, also Computerspielen, wurde in Deutschland lange debattiert,
ob man diese offiziell als Kulturgut titulieren darf. Sicherlich lässt sich der Terminus Kultur2 auf
verschiedene Weisen mit Bedeutung füllen. Zudem ist anzunehmen, dass die Personen, denen
der Gedanke von Computerspielen als offiziell anerkanntes Kulturgut missfällt, einen an dem
streitbaren Begriff der „Hochkultur“ angelehnten Kulturbegriff verwenden. Besonders von älteren
Generationen, die auf keine eigenen Erfahrungen mit Computerspielen zurückgreifen können,
werden diese oft als schlecht oder minderwertig verurteilt, so der Medienpädagoge Prof.
Dr. Winfried Kaminski (2008: 86). Dabei sind Computerspiele genauso kreative Kulturprodukte
wie Bücher, Theaterstücke oder Filme. In dem Medium lassen sich Gesamtkunstwerke verwirklichen,
wie sie bereits Richard Wagner mit seinen Opern inszenieren wollte. Zum Beispiel können
Literatur, Film, bildende Kunst, Musik und Wissenschaft in einem für sich stehenden Werk
verschmelzen. Auch den Einzug in Museen und Ausstellungen haben einige Werke des jungen
Mediums bereits vollzogen.
Computerspiele wurden erst im August 2008 offiziell vom deutschen Kulturrat aufgenommen.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sagt in seiner Rede zur erstmaligen Verleihung des
Deutschen Computerspielpreises im März 2009, dass man technologische Entwicklungen und...
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Verbreitung und Rezeption von Computerspielen
3. Die öffentliche Computerspiel-Debatte
3.1 Die Darstellung in den Massenmedien
3.2 Kritik an der Debatte
4. Medientheoretische Aspekte von Computerspielen
4.1 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine
4.2 Die virtuelle Realität
5. Die geschichtliche Entwicklung der Computerspiele
5.1 Maschinen und Automaten - Der elektro-mechanische Prolog des Computerspiels
5.2 Die jüngere Geschichte der Computerspiele
5.2.1 Von 1946 bis 1970 - Die Anfänge des Computerspiels
5.2.2 Die 1970er Jahre
5.2.3 Die 1980er Jahre
5.2.4 Die 1990er Jahre
5.2.5 Die 2000er Jahre
5.2.6 Fazit
6. Grundlegende Spielarten und Genres
6.1 Unterschiedliche Genre-Einteilungen in der Literatur
6.2 Kategorisierung für die vorliegende Arbeit
6.2.1 Zeitkritische Actionspiele
6.2.2 Entscheidungskritische Adventurespiele
6.2.3 Konfigurationskritische Strategiespiele
6.2.4 Fazit
7. Die Entwicklung einer eigenständigen Computerspielkultur
7.1 Mods, Maps und Skins
7.2 Machinimas - Aus Computerspielen entstehen Animationsfilme
7.3 Computerspiele als Kunst?
7.3.1 Kunst im Medium Computerspiel
7.3.2 Kunst inspiriert durch Computerspiele
7.4 Serious Games
7.5 eSport - Der neue Volkssport
7.5.1 Die Entwicklung und Etablierung eines neuen Massensports
7.5.2 Professionalisierung und Kommerzialisierung
7.6 Der literarische Umgang mit dem Medium Computerspiel
8. Schlussbetrachtung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Computerspielverzeichnis
1. Einleitung
Computerspiele1 haben sich seit ihrer Genese vor etwa 60 Jahren enorm weiterentwickelt und ausdifferenziert. Aus anfangs relativ simplen zweidimensionalen Spielen hat sich im Laufe der Zeit eine breite Vielfalt an Spielkonzepten, Inhalten und ästhetischen Inszenierungstechniken herausgebildet. Dabei emanzipierte sich das Computerspiel von einem elektronischen Spiel- zeug zu einem eigenständigen Medium. Die oft verwendete Definition des Spiels als zweckfreie Beschäftigung, wie sie von dem niederländischen Ludologen Johan Huizinga (2009: 16ff.) seit 1938 geprägt wird, trifft auf das Medium Computerspiel nicht vollkommen zu. Computerspiele können beispielsweise auch zu Trainings- oder Schulungszwecken eingesetzt werden oder ei- nen ernsten Inhalt transportieren. Dies wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch näher ausge- führt.
Spiele und die Beschäftigung mit ihnen gehören ohne Frage zur Kultur. Allerdings scheint dies nur für Spielformen wie dem Theaterspiel, dem Sportspiel, dem Brettspiel, dem Wortspiel etc. zu gelten. Bei digitalen Spielen, also Computerspielen, wurde in Deutschland lange debattiert, ob man diese offiziell als Kulturgut titulieren darf. Sicherlich lässt sich der Terminus Kultur2 auf verschiedene Weisen mit Bedeutung füllen. Zudem ist anzunehmen, dass die Personen, denen der Gedanke von Computerspielen als offiziell anerkanntes Kulturgut missfällt, einen an dem streitbaren Begriff der „Hochkultur“ angelehnten Kulturbegriff verwenden. Besonders von älte- ren Generationen, die auf keine eigenen Erfahrungen mit Computerspielen zurückgreifen kön- nen, werden diese oft als schlecht oder minderwertig verurteilt, so der Medienpädagoge Prof. Dr. Winfried Kaminski (2008: 86). Dabei sind Computerspiele genauso kreative Kulturprodukte wie Bücher, Theaterstücke oder Filme. In dem Medium lassen sich Gesamtkunstwerke verwirk- lichen, wie sie bereits Richard Wagner mit seinen Opern inszenieren wollte. Zum Beispiel kön- nen Literatur, Film, bildende Kunst, Musik und Wissenschaft in einem für sich stehenden Werk verschmelzen. Auch den Einzug in Museen und Ausstellungen haben einige Werke des jungen Mediums bereits vollzogen.
Computerspiele wurden erst im August 2008 offiziell vom deutschen Kulturrat aufgenommen. Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) sagt in seiner Rede zur erstmaligen Verleihung des Deutschen Computerspielpreises im März 2009, dass man technologische Entwicklungen und Fortschritte nicht aufhalten könne und solle. Mit einem Verweis auf die weite Ausdifferenzie- rung der Computerspielgenres betont Neumann, dass die Spiele ihren Kinderschuhen entwach- sen seien und sich zu einem zeitgenössischen Kulturgut entwickelt haben. „Sie beeinflussen nicht nur andere Medien, sondern auch Kunst und Musik. Und sie werden zunehmend zu ei- nem Ort, an dem Künstler und Musiker Neues erproben“, so der Minister. Zudem bezeichnet er Computerspiele als „Leitmedium“ für Heranwachsende (vgl. Neumann, 2009). Der öffentliche Diskurs über Computerspiele ist jedoch immer noch durch hoch medienwirksame Negativ- schlagzeilen über Themen wie Online-Spielsucht oder angebliche gewalttätige Nachahmungsta- ten geprägt. Außerhalb der zahlreichen Spielefachzeitschriften finden Computerspiele kaum gesellschaftlich relevante Plattformen, auf denen sie angemessen diskutiert werden. Die Süd- deutsche Zeitung gab sich Ende 2001 zwar sehr progressiv, als sie schrieb, dass Videospiele im Feuilleton künftig als „legitime Gegenstände der Kritik“ genauso behandelt würden wie Bücher, Ausstellungen und Musik, aber bis auf einige gute Ansätze ist dies bis dato nicht eingetreten. Das Medium hat noch immer mit vielen Vorurteilen zu kämpfen und die zentralen Qualitäten, wie beispielsweise die Interaktivität, werden oft nicht erkannt. Bezogen auf die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung merkt Spielejournalist Jörg Luibl (2007b: 146) zu Recht an, dass dort zu wenige „Kenner“ Artikel über Computerspiele schreiben. Dies lässt sich auch auf andere große deutsche Zeitungen oder Magazine übertragen. Erst in den letzen Jahren ist zu beobachten, dass die immer noch sehr rudimentäre Berichterstattung in einigen Publikationen, wie beispielsweise Spiegel Online, qualitativ und quantitativ zugenommen hat. Die vorliegende Arbeit betrachtet das Medium als ein ernst zu nehmendes Phänomen. Ziel der Arbeit ist es, die Computerspielkultur in ihrer ganzen Breite explorativ zu kartografieren. Dies führt zu der forschungsleitenden Frage, wie die heutige Computerspielkultur konstituiert ist und ob sie über kreative Nutzungspotenziale verfügt, die über das bloße Konsumieren von vor- gefertigten, kommerziellen Spielen hinausgehen. Bevor explizit auf die forschungsleitende Fra- ge eingegangen wird, soll zuvor die Entwicklung des Mediums von den Anfängen bis zur aktuel- len Hard- und Softwaregeneration aufgezeigt werden. Auf dieser Basis wird erläutert, wie die drei Hauptgenres (Actionspiele, Strategiespiele und Adventurespiele) der Computerspiele kon- zeptionell aufgebaut sind. Sodann wird der Blick auf das Medium erweitert, indem nicht nur die klassischen bzw. handelsüblichen Computerspiele untersucht werden, sondern auch die Aspek- te der Computerspielkultur, die sich neben den eigentlichen Spielen entwickelt haben. Diese weniger bekannten Bereiche der Kultur haben sich im Laufe der Computerspielgeschichte aus- gebildet und stellen zahlreiche, öffentlich und wissenschaftlich kaum beachtete Verfahren der kreativen Nutzung des Mediums dar. Diese Aspekte der Computerspielkultur zeigen, dass Computerspieler3 nicht bloß Produkte konsumieren, sondern selber zu Kulturproduzenten werden. Einige dieser Phänomene des Computerspiels wie ‚Modding‘ oder ‚Mapping‘ wurden erst im Zuge der bereits erwähnten öffentlichen Debatte bekannt und sind deshalb oft zu Un- recht negativ konnotiert. Kaminski (2008: 93) sieht in dem „Nichtswissen(wollen)“ der älteren Generation eine Begründung für das Missverständnis, das dem neuen Medium häufig entge- gengebracht wird. Viele Nichtspieler glauben, dass sie das Medium durch bloßes Betrachten verstehen könnten. Dies verkennt jedoch die zentrale Qualität des Computerspielens und legt Maßstäbe anderer etablierter Medien wie Film oder Literatur an, die nicht mit dem Computer- spiel kompatibel sind.
Da Computerspiele ein popkulturelles Thema darstellen, das in wissenschaftlicher Hinsicht als kaum erschlossen bezeichnet werden muss, verwendet diese Arbeit auch nichtwissenschaftli- che Literaturquellen, um die meist noch sehr jungen Aspekte der Computerspielkultur be- schreiben zu können4. Die bereits vorliegenden wissenschaftlichen Arbeiten wurden berück- sichtigt. Oftmals handelt es sich dabei allerdings um sehr grundlegende Texte. Auffällig ist, dass die vorhandenen Arbeiten über Computerspiele in sehr vielen verschiedenen Fachbereichen5 aufzufinden sind. Dies zeigt, dass das Thema mannigfaltige interdisziplinäre Forschungsfragen bietet.
Um einen Überblick zu ermöglichen, soll an dieser Stelle der komplette Aufbau der Arbeit kurz dargestellt werden. Computerspiele sind schon lange kein Nischenphänomen mehr. Um die ge- sellschaftliche Verbreitung und damit die Relevanz des Mediums zu dokumentieren, werden im zweiten Kapitel einige quantitative Daten vorgestellt. Im dritten Kapitel soll die öffentliche De- batte über die Gefährdungspotenziale von Computerspielen rekapituliert werden, weil diese einen großen Einfluss auf die allgemeine Akzeptanz und somit auf die aktuelle und weitere Entwicklung der Computerspielkultur ausübt. Anschließend werden in Kapitel vier die wichtigs- ten medientheoretischen Aspekte von Computerspielen analysiert. Auf dieser Basis wird in Ka- pitel fünf die Entstehungsgeschichte der digitalen Bildschirmspiele dargestellt, wobei ein be- sonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten von Privatpersonen, eigene Spiele zu entwerfen, gelegt werden soll. Im sechsten Kapitel werden die grundlegenden Spielgenres ermittelt und deren Funktionsweisen erläutert. Im Anschluss wird in Kapitel sieben die Computerspielkultur in ihrer Breite untersucht. Dabei soll vor allem das kreative Potenzial des Mediums analysiert werden.
2. Verbreitung und Rezeption von Computerspielen
Um zu zeigen, dass Computerspiele in Deutschland keine gesellschaftliche Randerscheinung mehr darstellen, werden in diesem Kapitel die für die vorliegende Arbeit relevanten Ergebnisse der KIM6 JIM7 -,- und ACTA8 -Studien präsentiert. Außerdem werden weitere Fakten angeführt, die Aufschluss über die gesellschaftliche Durchdringung des Mediums liefern sollen. Vor den Umfragen des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (mpfs), der seit 1999 die KIM-Studie (6- bis 13-Jährige) und seit 1998 die JIM-Studie (12- bis 19-Jährige) durch- führt sowie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD), welches die ACTA-Studie (14- bis 64- Jährige) seit 1997 erhebt, gab es kaum repräsentative Datensätze, die Antworten zu Fragen der Verbreitung und Nutzung von Computerspielen geben konnten. Die meisten der anderen Nut- zungsstudien über Computerspiele9 seien als einmalige Querschnittserhebungen in einem be- stimmten Milieu angelegt, so der Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Jens Wollig (2008: 73). Generell gilt das standardisierte schriftliche Umfragen nur eine Tendenz aufzeigen können. Die Probanden haben möglicherweise implizit nach gesellschaftlich gewünschten Kriterien geantwortet, obwohl die Umfragen anonym durchgeführt worden sind. Dennoch eignen sich die drei ausgewählten Langzeitstudien gut, um die Verbreitung der Computerspiele in der Ge- sellschaft zu belegen, weil ihnen jeweils andere Altersgruppen als Untersuchungsgegenstand zugrunde liegen. Leider separieren die Studien das Rezipieren von Computerspielen nach ver- schiedenen Systemen (z.B. Computer, Konsole und Handy), so dass es nicht möglich ist eine übergeordnete Zahl zu bilden.
Die KIM-Studie 2008, die das Mediennutzungsverhalten von Kindern empirisch erforscht, kommt zu dem Ergebnis das 70 % der Befragten10 mindestens einmal pro Woche am Computer spielen. Betrachtet man nur die Gruppe der Jungen, so spielen 75 % mindestens einmal in der Woche. Von den Mädchen spielen 65 % mindestens einmal in der Woche ein Computerspiel. Bei der allgemeinen Computernutzung ist das Gefälle zwischen den Geschlechtern geringer.
85 % der Mädchen und 90 % der Jungen geben an den Computer „mindestens einmal pro Woche“ zu benutzen (vgl. mpfs, 2009: 25ff.). Diese Daten belegen einen enormen Anstieg seit der ersten Messung. Die KIM-Studie 1999 kommt zu dem Ergebnis, dass nur 45 % der Mädchen und 57 % der Jungen sich mindestens „selten“ mit dem Computer zu beschäftigen (vgl. mpfs, 2000: 40). Bei sogenannten „Lernprogrammen“, die von den Machern der Studie bewusst nicht zu den Spielen gezählt werden, liegen die Mädchen mit 47 % vor den Jungen mit 38 %. Bei der Frage nach den Spielgewohnheiten mit Konsolen und Handhelds11 gaben nur 29 % der Kinder an, diese „nie“ zu benutzen (vgl. mpfs, 2009: 28f). Etwas unglücklich gestaltet sich die Frage- stellung nach der Benutzung von Online-Spielen. Der Terminus wird nicht genau definiert, und die Studie unterscheidet lediglich zwischen den Nutzungsvarianten „alleine“ oder „mit anderen“. Online-Spiele sind jedoch im Allgemeinen dadurch gekennzeichnet, dass sie immer mit mehreren Spielern gespielt werden. Hier differenzieren die Autoren der Studie nicht zwischen Spielen, die ausschließlich im Internet abrufbar sind12 und Computerspielen, die gemeinhin als Online-Spiele bezeichnet werden. Außerdem gibt es Online-Spiele für Computer, Konsolen, Handys und Handhelds. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass 40 % der Jungen und 26 % der Mädchen „alleine“ Online-Spiele rezipieren. Zusammen „mit anderen“ spielen 30 % der Jungen und 13 % der Mädchen (vgl. mpfs, 2009: 41). Es lässt sich festhalten, dass Computerspiele auf diversen Plattformen von der Mehrheit der Kinder rezipiert werden. Er- wähnenswert ist, dass die öffentliche Debatte über Gewalt in Computerspielen, die im dritten Kapitel näher beleuchtet wird, anscheinend Einfluss auf die Macher der KIM-Studie nimmt. So ist auffällig, dass bei keinem anderen Medium Fragen über die Alterskennzeichnung gestellt werden.
Laut der JIM-Studie 200913, die das Medienhandeln von Jugendlichen untersucht, hat jeder Ju- gendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren mittlerweile Zugriff auf einen Computer und ein Handy im Haushalt. Auf das Internet können 98 % der Befragten zugreifen. Spielkonsolen (68 %) und Handhelds (62 %) sind ebenfalls weit verbreitet. Gefragt nach dem persönlichen Besitz gaben 77 % der männlichen und 72 % der weiblichen Jugendlichen an einen Computer zu haben. Eine Spielkonsole nennen 56 % der Jungen und 33 % der Mädchen ihr Eigen. 52 % der Jungen und 43 % der Mädchen besitzen einen Handheld. Ein Handy besitzen 97 % der Mädchen und 93 % der Jungen (vgl. mpfs, 2010: 6ff.). Die Daten über die quantitative Mediennutzung lassen sich nicht exakt mit denen der JIM-Studie vergleichen, da die Intervallskalierung der Likert-Skalen verschieden ist. Wurde bei der JIM-Studie 2008 der Konsum mit „mindestens einmal pro Wo- che“ angegeben, so verwendet die KIM-Studie mit „mehrmals wöchentlich/täglich“ einen an- deren Maßstab. So kommt die JIM-Studie 2009 zu dem Ergebnis, dass 45 % aller Jugendlichen zwischen dem 12. und 19. Lebensjahr „mindestens mehrmals die Woche“ Computerspiele auf diversen Systemen spielen. Dieser Wert setzt sich aus 67 % männlicher und 22 % weiblicher Spieler zusammen. Der Anteil der Nicht-Spieler liegt in dieser Altersgruppe geschlechterüber- greifend bei 19 %. Computerspielen „alleine“ und Computerspielen „mit anderen“ halten sich in etwa die Waage. Das mpfs betont, dass das Bild des sozial „isolierten Dauergamers, der Tag und Nacht spielt“, in der öffentlichen Diskussion als überholt angesehen werden müsse (vgl. mpfs, 2010: 39). Wie die KIM-Studie betont auch die JIM-Studie besonders den Jugendschutz im Bereich der Computerspiele.
Anders als die KIM- und JIM-Studie besitzt die ACTA 2008-Studie14 keine pädagogische Ausrichtung. Seit 1997 dokumentiert die Studie die Ausbreitung und Nutzung neuer Technologien sowie das Informations- und Konsumverhalten in deutschen Haushalten. Das Institut für Demoskopie Allensbach kommt zu dem Ergebnis, dass 85 %15 der 14 bis 64 Jährigen über einen Computer (vgl. IfD, 2009: 121), 25 % über eine Spielkonsole und 15 % über einen Handheld im Haushalt verfügen (vgl. IfD, 2009: 148). 41 % der Befragten stufen sich selbst als Computerspieler ein. Dabei fällt auf, dass die Anzahl der Spieler mit zunehmendem Alter abnimmt. Von den 14- bis 17-Jährigen bezeichnen sich 75 % als Spieler. Mit jeder Altersgruppe sinkt die die Anzahl der Computerspieler: 58 % (18- bis 24-Jährige), 48 % (25- bis 29-Jährige), 39 % (30- bis 34-Jährige), 36 % (35- bis 39-Jährige), 31 % (40- bis 49-Jährige) und 19 % (50- bis 64-Jährige). Das Haushaltsnettoeinkommen ist für die Auswahl des Hobbys Computerspielen irrelevant. Die sechs Abstufungen, von unter 1.000€ bis über 3.500€ Nettomonatseinkommen, weisen in etwa die gleichen Ausprägungen auf. Über die Bildung der Computerspieler lässt sich sagen, dass 49 % zur Gruppe „Abitur, Hochschulreife ohne Studium“ zählen, 38 % eine „höhere Schule ohne Abitur“ besucht haben, 39 % einen Volks- bzw. Hauptschulabschluss haben und das 28 % über ein bereits abgeschlossenes Studium verfügen (vgl. IfD, 2009: 44). Dies zeigt, dass Computerspieler in allen Bildungsschichten vertreten sind.
Die Ergebnisse der aufgeführten Studien belegen, dass das Medium Computerspiel von einem großen Teil der Gesellschaft genutzt wird. Auch die Aussage des deutschen Spieleentwickler- Dachverbandes G.A.M.E.16, dass Computerspiele weltweit mehr als doppelt so viel einnehmen wie Kinofilme, unterstützt diese These (vgl. G.A.M.E.). Die ansteigende gesellschaftliche Durch- dringung der Computerspiele lässt sich auch anhand von Werbeengagements großer Firmen, wie beispielsweise Toyota (vgl. Gamersglobal, 2010), Mercedes-Benz (vgl. Gran Turismo.com, 2010), Adidas (vgl. World Cyber Games, 2007) oder Alfa Romeo (Iseri, 2009) zeigen. Die Kon- zerne werben mit Videospielen oder designen ihre Produkte in Anlehnung an die Ästhetik von Computerspielen. Allein durch die weite Verbreitung wird das Medium zu einem bedeutenden Analysegegenstand für verschiedene wissenschaftliche Disziplinen. In der öffentlichen Debatte, die im nächsten Kapitel näher beleuchtet wird, geht es jedoch bislang fast ausschließlich um Fragen der Medienwirksamkeitsforschung. Da das Medium noch sehr jung ist und sich immer noch in einem Entwicklungsprozess befindet, ist es spannend, die weitere Entwicklung bezüg- lich der Verbreitung in den verschiedenen Altersgruppen zu untersuchen.
3. Die öffentliche Computerspiel-Debatte
Wie im vorangehenden Kapitel deutlich gemacht wurde, haben sich Computerspiele zu einem Massenmedium entwickelt, das sich besonders unter Heranwachsenden fest etabliert hat. Ein- hergehend mit dieser Entwicklung entbrannte eine kontrovers geführte öffentliche Debatte, die sich hauptsächlich mit den „verderblichen erzieherischen Einflüssen“, die Computerspiele auf Kinder und Jugendliche ausüben sollen, beschäftigt. Der Computerspieljournalist und Erzie- hungswissenschaftler Dr. Danny Kringiel verweist zu Recht auf die häufig gezielt polemische und verkürzte Argumentationsweise, die in der Debatte vorherrscht. Er merkt weiter an, dass die vorgebrachten Argumente „nicht geeignet scheinen, das Computerspiel als pädagogisches Problem angemessen zu erfassen“ (vgl. Kringiel, 2009: 11). Von Seiten der deutschen Politik wurde im Verlauf der letzten Jahre versucht, die als kinder- und jugendgefährdend ein- gestuften Computerspiele durch eine strikte Verschärfung der prohibitiven Maßnahmen von den Heranwachsenden fernzuhalten. Medienexperten wie Kringiel (2009: 11) und Langer (2009a) attestieren diesen Versuchen allerdings kaum Erfolgschancen, da sich digitale Medien aller Art unkontrollierbar über das Internet verbreiten lassen. Nachfolgend soll in 3.1 gezeigt werden, wie Computerspiele in den Massenmedien dargestellt werden, um in 3.2 Kritik an der vorherrschenden Negativprädikatisierung zu üben.
3.1 Die Darstellung in den Massenmedien
Beginnen möchte ich mit verschiedenen Zitaten, die bewusst aus vielen unterschiedlichen Quellen zusammengetragen sind, damit ein möglichst breites Spektrum an Stimmen wieder- gegeben wird. Der scharfe Tenor in dem die Debatte zumeist geführt wird, soll so wider- gespiegelt werden.
„Nach dem Amoklauf - Innenminister will Killerspiele verbieten“ (Vgl. Auer in Süddeutsche, 2009) „Sie animieren Jugendliche, andere Menschen zu töten.“ (Vgl. Süddeutsche, 2006)
„Die Bilder selber sind Gewalt - Die politische Diskussion um die Wirkung von Computerspielen tritt auf der Stelle: Warum spricht niemand über ihre abscheuliche Ästhetik?“ (Vgl. Graff in Süddeutsche, 2006)
„Morden und Foltern als Freizeitspaß - Killerspiele im Internet.“ (Vgl. DasErste.de, 2007)
„Hinrichten, quälen, morden. Rund 1,5 Millionen spielen in Deutschland sogenannte Egoshooter - Killerspiele. Das ganze virtuell im Internet. Das Ziel: Möglichst viele Menschen töten, je blutiger desto besser“ (Vgl. DasErste.de, 2007)
„Spiele, die als Lehrgänge für Massenmörder aufgebaut sind“, „Die Daueraufgewühltheit der Spieler am Nachmittag löscht eventuelle Bildungsfortschritte“, „Wir wissen, dass Killer- und Folterspiele Nachahmungstaten anregen“ (Vgl. Lau in Die Zeit, 2006)
„Millionen spielen, ohne zu töten, aber andersherum stimmt es eben auch: Wer irgendwann tötet, hat in der Regel vorher gespielt.“, „Die Experten sind sich einig, dass Killerspiele zumin- dest für labile Jugendliche ein Risiko sind.“ (Vgl. Bornhöft et al. in Spiegel, 2009) Aussagen17 wie diese zeigen, dass die Debatte über Computerspiele in den letzten Jahren na- hezu unzertrennbar mit dem Vorwurf des negativen Einflusses verwoben ist. Ihren Anfang nahm die Debatte im Zuge einiger unbeschreiblich grausamer Gewaltverbrechen an deutschen Schulen. Diese „selbst hoch medienwirksamen Gewalttaten Heranwachsender“ werden seit- dem in einen direkten kausalen Zusammenhang mit dem Konsum von gewalthaltigen Compu- terspielen gerückt. Dies geschah etwa beim Amoklauf des 19-Jährigen Robert Steinhäuser in Er- furt. Steinhäuser drang im April 2002 schwerbewaffnet ins Gutenberg-Gymnasium ein und tö- tete dort insgesamt 17 Menschen. Danach berichteten die Medien über die gewalthaltigen Spiele, die in Steinhäusers Zimmer gefunden worden sind. Insbesondere die Begeisterung des Täters für das Spiel Counterstrike18 rückte in den Fokus der Berichterstattung (vgl. Kringiel, 2009: 12). Untersuchungen der Kommission Gutenberg-Gymnasium ergaben später, dass Steinhäuser nicht über einen Internetanschluss verfügte, der konstitutiv für das Spielen von Counterstrike ist. Außerdem wurden Foreneinträge des Täters entdeckt, in denen er schreibt, dass er kein Interesse an dem Spiel habe (vgl. Gasser, 2004). Bei den ebenso abscheulichen Amokläufen von Bastian Bosse und Tim Kretschmer kam die Diskussion um die sogenannten ‚Killerspiele‘ erneut auf. Bei Bosse fanden die Ermittler einen virtuellen Nachbau seiner eigenen Schule als ‚Map‘19 für Counterstrike, während bei Kretschmer festgestellt wurde, dass dieser am Vorabend der Tat den Ego-Shooter20 FarCry2 gespielt hatte (vgl. Kringiel, 2009: 12). Die Me- dienberichterstattung postuliert durch Schlagzeilen und Thesen wie „Schul-Schütze spielte ‚Counterstrike‘ nach“ (vgl. Nareyek, 2006) einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Kon- sum von gewalthaltigen Spielen und Gewalttaten. Nicht nur die Medien, sondern auch Exper- ten verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen, Politiker und Geistliche warnen vor den Fol- geschäden der sogenannten ‚Killerspiele‘21. So fordert etwa der Philologenverband Rheinland- Pfalz ein komplettes Verbot von ‚Killerspielen‘. Der Begriff wird dabei gleichzeitig auf das ge- samte Genre der Ego-Shooter ausgeweitet. Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) geht noch weiter, indem er in einem Zeit-Interview gewalthaltige Spiele mit Kinderpor- nografie gleichsetzt. Außerdem stellt er einen nicht nachzuvollziehenden Vergleich mit dem Nationalsozialismus an, indem er darauf hinweist, dass es verboten sei, die Verbrechen unter Hitler zu verharmlosen. Im selben Interview bezeichnet sich Herrmann als Experte und sagt pa- radoxerweise: „Ich spiele sie [die ‚Killerspiele‘, Anm. B.E.] selbst nicht, aber ich habe sie mir in- tensiv angeschaut“(vgl. Läßig, 2009). Ohne Belege aufzuführen, behauptet der emeritierte Pä- dagogikprofessor Werner Glogauer bereits 1999, dass „die Medienwirksamkeitsforschung“ nachgewiesen habe, dass aggressive Handlungen wie schwere Körperverletzungen und Mord „in großer Zahl medieninduziert sind“ (vgl. Glogauer, 1999: 8). Selbst Papst Bendedikt XVI (2007: 1f.) warnt in seiner Ansprache zum katholischen Weltmediensonntag 2007, der unter dem Motto „Kinder und soziale Kommunikationsmittel: eine Herausforderung für die Erzie- hung“ steht, vor gewalthaltigen Computerspielen und spricht dabei eine gleichnishafte Dro- hung gegen die Spieleentwickler aus. Ebenfalls ohne den Verweis auf valide wissenschaftliche Arbeiten betont der amerikanische Militärpsychologe Lt. Col. Dave Grossman, dessen Buch „Wer hat unseren Kindern das Töten beigebracht? Ein Aufruf gegen Gewalt in Fernsehen, Film und Videospielen“ auch in Deutschland verlegt wird, dass „alle bedeutenden wissenschaftli- chen und medizinischen Gremien […], die nicht von der Gewaltindustrie ‚gekauft‘ sind zu der Feststellung gekommen sind, dass Gewaltdarstellungen in Computerspielen, Filmen und im Fernsehen unseren Kindern das Töten beibringen“ (vgl. Grossman, 2003: 11f.). Der umstrittene Kriminologe Prof. Dr. Christian Pfeiffer behauptet in einem aktuellen Interview der Frankfurter Rundschau, in dem es eigentlich um das Gefährdungspotenzial der Hell’s Angels geht, dass das Spielen am Computer „eine merkwürdige Existenzspaltung“ auslöse. Diese könne laut Pfeiffer zu Gewalttaten von Rockerbanden oder Hooligans führen. „Einer der ernsthaften Ursachenfaktoren dafür ist, dass viele junge Leute sich durch Computerspiele in Kampf-Rollen bewegen. Irgendwann will man das dann auch einmal real tun und nicht nur virtuell“, so Pfeiffer (vgl. Wille, 2010). Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder veröffentlichte kurz nach dem Amoklauf einen offenen Brief, indem er zunächst feststellt, dass man wohl nie einen wissenschaftlichen Beleg für die Kohärenz zwischen medialen Gewaltdarstellungen und Gewaltverbrechen finden würde, nur um sogleich zu fragen: „Aber ist dies überhaupt notwendig?“ (Vgl. Spiegel Online, 2002) Diese rhetorische Frage wurde wenige Monate später durch eine Verschärfung des Jugendschutzgesetzes beantwortet (vgl. Kringiel, 2009: 14).
Im Folgenden wird die populistische Art und Weise der Diskussionsführung sowie deren Inhalte kritisiert.
3.2 Kritik an der Debatte
Zusammenfassend geht es in der öffentlichen Debatte um „Befürchtungen bezüglich schädi- gender Wirkungen“, die v.a. von gewalthaltigen Computerspielen ausgehen (vgl. Kringiel, 2009: 15). Die zunehmende Verrohung sowie die angeblichen Nachahmungstaten der Spieler schei- nen zumindest unter Politikern soweit konsensfähig zu sein, dass sie weitreichende Gesetzes- änderungen rechtfertigen. Kringiel (2009: 16) merkt an, dass diese Befürchtungen aus pädago- gischer Perspektive auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheinen. Da zahlreiche Computer- spiele kampforientiert ablaufen und die oft martialische Handlung audio-visuell zunehmend realistischer wird, liegt die Befürchtung einer spielerischen Erziehung zur Gewalttätigkeit nahe. Ich stimme Kringiels These zu, dass der Umgang mit gewalthaltigen Computerspielen grund- sätzlich als pädagogisches Problem zu verstehen ist. Bezogen auf den Gehalt der öffentlichen Debatte wendet Kringiel jedoch zu Recht ein, dass diese gegenwärtig nicht in der Lage ist, den Sachverhalt in angemessener Art und Weise zu erfassen und zu bearbeiten (vgl. Kringiel, 2009: 16). Der Computerspieljournalist Jörg Langer (2009a) wirft ein, dass die dominanten Negativ- schlagzeilen bei Menschen, die über keine Erfahrungen im Bereich der digitalen Spiele verfü- gen, verheerende Wirkungen zur Folge haben können. Laut Langer werden Computerspiele in der Öffentlichkeit von angesehenen Politikern und Medien als potenziell gefährlich ge- brandmarkt, so dass die Bereitschaft der Nicht-Spielenden, sich mit dem Medium zu beschäfti- gen, um eigene Kompetenzen und begründete Meinungen aufzubauen, nicht gefördert wird. Deshalb fordert er, dass Computerspiele in Deutschland viel stärker als „etwas ganz Normales dargestellt und gefördert werden“ sollten. Dieser Position schließe ich mich an und verweise auf den französischen Filmemacher und Didaktiker Alain Bergala, der in seinem Buch Kino als Kunst die Meinung vertritt, dass man sich nicht nur auf die Kommunikation der negativen As- pekte eines Mediums konzentrieren darf. Was Bergala (2006: 40) für den Film vorschlägt, nämlich ihn als „gutes Objekt“ zu kommunizieren, gilt auch für das Computerspiel. „Der langweilige Quatsch in den Spielemärkten kann jedenfalls kein Argument sein, das Genre der elektronischen Spiele zu ächten“, so der Kulturjournalist Andreas Rosenfelder (2008: 12). Steven Johnson (2006: 32) sagt, dass Spiele seit jeher einen schlechten Ruf inne haben, „weil man sie immer mit der älteren Tradition des Lesens vergleicht.“ Für ein Gedankenexperiment überträgt Johnson (2006: 33f.) die negative Argumentationstechnik der Computerspielgegner auf das Medium Buch und verstärkt einige Aspekte selektiv. Das Ergebnis ist ein Text, der der pessimistischen Literatur über Computerspiele bemerkenswert ähnelt.
Die Medienberichterstattung ist oft fehlerhaft, und die Diskutanten wie beispielsweise Herr- mann lassen an grundlegenden Kompetenzen zweifeln. In einem Artikel der Süddeutschen mit der Überschrift „Die Spieleindustrie setzt bei der Gewalt noch eins drauf“ wird berichtet, dass sich Profispieler treffen „um sich in umstrittenen Spielen wie Counterstrike oder FIFA 09 zu messen.“ Hätte der Redakteur der eigentlich sorgfältig recherchierten Zeitung das Geschriebe- ne hinterfragt, wäre er zu der Erkenntnis gekommen, dass es sich bei der FIFA-Reihe um eine Fußballsimulation handelt, die laut USK „Freigegeben ohne Altersbeschränkung“ ist (vgl. Chip, 2009). Die FAZ behauptet am 28.04.2002 in dem Artikel „Computerspiele - Blutrausch im Kin- derzimmer“, dass es in Counterstrike u.a. darum gehe, auf „Kinderwagen und Großmütter“ zu schießen. Die Rheinische Post schreibt am 29.04.2002 in dem Artikel „Anleitung zum Massa- ker“, dass in dem Spiel „Schulmädchen“ vorhanden sind, die der Spieler erschießen muss (vgl. Kringiel, 2009: 16). In dem Spiel gibt es jedoch definitiv keine Kinderwagen, Großmütter oder Schulmädchen. Von dezidierten Gegnern gewalthaltiger Computerspiele wie Grossman oder Pfeiffer wird oft behauptet, dass die Forschung sich in Fragen der Medienwirksamkeit längst einig sei. In Wirklichkeit ist die Forschungslage nicht eindeutig und der Konsens, dass virtuelle bzw. mediale Gewalt Nachahmungstaten evoziert, gilt gemeinhin als überholt (vgl. Kunc- zik/Zipfel, 2006, Kyas, 2007, Köhler, 2008, Kutner/Olsen, 2008, Ladas, 2002, Witting, 2007 und Bothe, 2009).
Kringiel (2009: 17) warnt vor einer Orientierung an Gesichtspunkten der Plakativität und Me- dienwirksamkeit und fordert eine sorgfältigere Überprüfung der als gefährlich eingestuften Computerspiele. Als weiteres Problem führt er auf, dass häufig verwendete Begrifflichkeiten wie der omnipräsente Terminus ‚Killerspiel‘ inhaltlich völlig indifferent verwendet werden. Im Zuge dessen fordert Kringiel eine Vorgehensweise, die sich an wissenschaftlichen Standards orientiert und die verwendeten Begriffe klar definiert, bevor sie operationalisiert werden. Au- ßerdem kritisiert er richtigerweise, dass die Debatte von fachfremden Experten dominiert wird. Im Kern befasst sich der Diskurs schließlich mit der pädagogischen Frage, ob durch gewalt- haltige Medien eine Erziehung zu vermehrter Gewaltbereitschaft stattfindet. „Die verstärkte Einbringung pädagogischer Betrachtungen wäre hier fraglos sachdienlich“, so Kringiel (2009: 17). Er schlägt vor, dass die Erziehungswissenschaft an die Arbeiten der sogenannten ‚Game Studies‘ anknüpfen könne. Die Game Studies22 sind ein transdisziplinarischer Forschungszweig, der die grundsätzlichen Funktionsweisen von Computerspielen anhand geistes- und sozialwis- senschaftlichen Fragestellungen untersucht. Der Begriff dient außerdem als Abgrenzung zur In- formatik, die sich mit Fragen der Programmierung von Computerspielen beschäftigt (vgl. Krin- giel, 2009: 25f.). Da die Grundlagenforschung bislang stark vernachlässigt wurde, fragt Kringiel zu Recht, ob es aufgrund dieser defizitären Situation „überhaupt möglich ist, den Fragen nach Wirkungen des digitalen Spiels auf Heranwachsende“ nachzugehen. Georg Lauteren (2001) schätzt, dass sich etwa 90 % der Publikationen über Computerspiele mit Fragen der Medien- wirksamkeit und dem schädlichen Einfluss von Computerspielen auseinandersetzen. Kringiel (2009: 20f.) betont, dass man keine Computerspiellesefähigkeit vermitteln könne, ohne vorher die Gestaltungsmerkmale des Mediums detailliert analysiert zu haben. Tatsächlich stellt Krin- giels Dissertationsschrift Computerspielanalyse konkret Methoden und Instrumente - erprobt an Max Payne 2 von 2009 die erste vollständige Analyse eines Computerspiels nach den zentralen Fragestellungen der Game Studies dar.
Die öffentliche Debatte, wie sie derzeit geführt wird, ist nicht in der Lage, dem Gegenstand gerecht zu werden, geschweige denn vernünftige pädagogische Lösungen zu finden. Der bewusst reißerische Tenor der Diskussion setzt überdies das ganze Medium in ein schlechtes Licht und behindert so dessen Weiterentwicklung. Bei Menschen, die noch keine Erfahrungen mit dem Medium gemacht haben, wird durch die negativ konnotierte öffentliche Diskussion möglicherweise der Blick auf das Potenzial des Mediums verstellt, so dass viele Menschen einen sehr eingeschränkten Horizont über das haben, was Spiele sein können. Deshalb ist es ein Ziel dieser Arbeit einige der medialen Potenziale sichtbarzumachen.
In den letzten Jahren lässt sich jedoch bei einigen Diskutanten ein Wandel in der Berichterstat- tung diagnostizieren. So hat zum Beispiel der Spiegel eine Zusammenarbeit mit dem Fachmaga- zin Games Entertainment Education (GEE), in dem auch regelmäßig Beiträge von Kringiel er- scheinen, ins Leben gerufen (vgl. Gogolin, 2010). Auch in anderen Medien, wie der Zeit, ist die Berichterstattung in den letzten Jahren durch Autoren wie Rosenfelder und Fehrenbach deut- lich differenzierter geworden. Erfreulicherweise ist zu beobachten, dass immer häufiger Artikel erscheinen, die sich ernsthaft mit dem Medium auseinandersetzen. In der Politik zeigt sich, dass die Jugendorganisationen der großen Parteien, wie die Junge Union oder die Jusos, die oft radikalen Meinungen ihrer Parteien nicht teilen und den Gegenstand differenzierter betrachten (vgl. JU Vogelsberg, 2009 und SPD Südpfalz, 2006). Auffällig ist, dass weder die Kreativen der Spieleindustrie noch private Spieleentwickler in der öffentlichen Debatte zu Wort kommen. In kaum einem Artikel, einer Talkshow oder einer Fernsehreportage werden die Entwickler nach ihrer Sicht der Dinge befragt (vgl. Langer, 2009f). Abschließen sei auf Natascha Adamowsky (2000: 20f.) verwiesen, die auf die Frage nach dem, was die Spiele mit den Menschen machen, die Gegenfrage stellt, was die Menschen mit den Spielen machen. Dieser Gegenfrage wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher nachgegangen, indem in Kapitel 5.2 untersucht wird, inwie- weit privat Personen eigene Spiele programmieren können. Kapitel sieben widmet sich speziell den kreativ-konstruktiven Handlungsweisen der Computerspielkultur, die sich neben der ei- gentlichen Spieleentwicklung etabliert haben.
4. Medientheoretische Aspekte von Computerspielen
Bevor im weiteren Verlauf der Arbeit die Geschichte der Computerspiele und deren verschiedene Spielformen dargestellt werden, sollen zuvor einige grundlegende medientheoretische Aspekte von Computerspielen erläutert werden.
Das Computerspiel unterscheidet sich von anderen Medien v.a. durch seine Interaktivität. Bei Medien, wie Literatur, Comic oder Film werden den Rezipienten in der Regel keine Interakti- onsmöglichkeiten angeboten, die sich auf den Prozess des subjektiven Werkerlebens auswir- ken. Analog zu Schauspielern müssen die Computerspieler jedoch Einfluss auf das Spielgesche- hen nehmen und können somit als treibende Kraft des Geschehens identifiziert werden. Im An- schluss sollen mit den ‚Mensch-Maschine-Schnittstellen‘ und der ‚virtuellen Realität‘ die wich- tigsten Aspekte dieser zentralen Qualität der digitalen Bildschirmspiele näher erläutert werden (vgl. Butler, 2007: 81).
4.1 Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine
Butler (2009: 81f.) merkt an, dass unter dem gebräuchlichen Terminus „Interface“ oder zu Deutsch „Schnittstelle“ oft nur die grafische Oberfläche eines Spiels bzw. eines Programms be- zeichnet wird. Diese Auslegung des Begriffs greift jedoch zu eindeutig zu kurz, wie er feststellt. Der Diskurs über das Schnittstellendesign umfasst jeden Inhaltsbereich, der sich mit der Inter- aktion zwischen Mensch und Maschine bzw. Technik befasst. Dieser Diskurs umfasst verschie- denen Ansätze: Während einige Designer die „konzeptuelle Grenze zwischen Mensch und Ma- schine“ im Inneren des Computers vermuten, verlagern andere die Schnittstelle ins Innere des Spielers. Für Claus Pias (2002: 68), Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Digita- len Medien an der Universität Wien, schließen Schnittstellen alle Faktoren mit ein, die eine Interaktion zwischen Benutzer und Technik ermöglichen. „Interface wäre (in Hard- und Soft- ware) schon all das, was die Datenverarbeitung in einer Doppelbewegung zugleich unsichtbar macht und auf andere Weise wieder erscheinen lässt“, so Pias. Damit meint er, dass die Einga- ben des Spielers durch die Schnittstelle umgewandelt und anschließend auf der grafischen Pro- grammoberfläche visualisiert werden. Er betont, dass das Besondere in der Kommunikation zwischen Spieler und Computer darin liegt, dass „die Richtung des Datenflusses permanent umschaltet.“
Je nach Spielarchitektur und eingesetzten Peripheriegeräten verändert sich die Schnittstellen- konfiguration. Bis dato dominieren visuelle und akustische Signale, die der Computerspieler durch haptische Eingaben seiner Hände verarbeitet. Das Schnittstellendesign hat sich über die Jahre jedoch stark ausdifferenziert. Dies gilt sowohl für die interaktiven Zeichensysteme der Benutzeroberflächen23 als auch für die peripheren Eingabegeräte, wie Tastaturen oder Game- pads. Auf das Schnittstellendesgin und dessen Evolution wird im Zuge der Geschichte des Com- puterspiels in 5.1 und 5.2 noch weiter eingegangen. Butler (2007: 83f.) merkt an, dass techni- sche Neuerungen im Bereich des Schnittstellendesigns oft zuerst in Computerspielen gewinn- bringend realisiert werden. Als Beispiel nennt er die mögliche Interaktion mit „teil-autonomen Agenten“24 in Computerspielen, die im allgemeinen Schnittstellendesign noch eine Zukunftsvi- sion darstellen. Innovative Schnittstellenlösungen wie diese gelangen, ebenso wie der Compu- ter selbst, oft erst durch Spiele in die Gesellschaft. Die hier gemachten Aussagen über das Schnittstellendesign lassen sich größtenteils auch auf andere Programme, wie Word oder Pho- toshop, übertragen.
4.2 Die virtuelle Realität
Die Handhabung der Schnittstellenkonfiguration eines Computerspiels wird dem Spieler nor- malerweise in einem spielinternen ‚Tutorial‘25 oder in einem spielexternen Handbuch erläutert. Der Spieler bewegt sich mithilfe der Schnittstellen in der virtuellen Welt der Spiele. Butler (2007: 88) vergleicht das gekonnte Agieren in einer virtuellen Welt mit dem Überziehen einer „zweiten Haut“. Beim Computerspielen geht es nicht darum, den zugrundeliegenden Pro- grammcode zu lesen. Bei einem gut programmierten Spiel vergisst der Spieler die Metaebene der „Spielmechanik“ und kann sich auf der Kontaktoberfläche des Bildschirms immersiv der Il- lusion des Spielens hingeben. Der in diesem Zusammenhang häufig verwendete Terminus „vir- tuelle Realität“ wird von Astrid Deuber-Mankowsky (2001: 46ff.) als ein Möglichkeitsraum defi- niert, in dem der Spieler die Datenstrukturen des Spiels sinnlich erfahren kann. Die Kulturwis- senschaftlerin stellt in ihrem Essay fest, dass die Interaktionsmöglichkeiten der Computerspie- ler mit der virtuellen Welt durch den Programmcode festgelegt werden. Die Eingriffsmöglich- keiten und der Handlungsspielraum der Spieler sind also von vornherein festgelegt26. Deuber- Mankowsky (2001: 49) stellt fest, dass jede Interaktion zwischen Spieler und Objekten der vir- tuellen Welt ein „Zeichenereignis“ ist. Über die Schnittstellen interagieren die Computerspieler mit dem Programmcode, um Einfluss auf das Spielgeschehen zu nehmen. Wie bereits erwähnt zeichnen sich gute Spiele dadurch aus, dass die Metaebene des Programmcodes in den Hinter- grund tritt und vom Spieler kaum wahrgenommen wird. Dieser Akkomodationsprozess kann auch misslingen. Geschieht dies, tritt der mangelhafte Programmcode in den Vordergrund und der Spieler kann nicht in der virtuellen Spielwelt versinken (vgl. Butler, 2007: 105ff.). Die vir- tuelle Realität ist nach Deuber-Mankowsky (2001: 49) das Ergebnis von Wahrnehmungs- und Symbolisierungsprozessen.
Butlers (2007: 94) qualitative Spielerinterviews „zeugen von einem reflexiven Verhältnis“ der Spieler zu den virtuellen Realitäten der Computerspielwelten. Gerade erfahrene Spieler verfügen über ein explizites Wissen, was die Regelhaftigkeiten der Programme betrifft. Die Spieler berichten, dass sie die Grenzen der virtuellen Welten ausloten, um die Grenzen und Fehler des Spieldesigns ausfindig zu machen. In Kapitel 6.2.2 wird anhand von Adventurespielen die Wirkungsweise des zugrundeliegenden Programmcodes exemplarisch vorgestellt.
Nachfolgend wird der historische Kontext der Computerspiele dargestellt, um zu zeigen, wie das Medium sich entwickelt hat. Auf dieser Grundlage bauen die späteren Betrachtungen über die Ausdifferenzierung der Computerspielkultur in Kapitel sieben auf.
5. Die geschichtliche Entwicklung der Computerspiele
Die geschichtliche Entwicklung der Computerspiele wird im Folgenden in zwei Phasen unter- teilt. Im ersten Teil (5.1) sollen die kulturellen Vorfahren des elektronischen Spiels aufgezeigt werden. Dies soll verdeutlichen, dass Computerspiele einer langen Tradition von Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine folgen, die ihren Anfang nicht erst zur Mitte des letzten Jahr- hunderts hat. Der zweite Teil (5.2) befasst sich explizit mit den Computerspielen und der dazu- gehörigen Technik. Er zeigt deren Entwicklung von den 1940er Jahren bis zur Gegenwart. Au- ßerdem soll dargestellt werden, dass sich das Medium Computerspiel langsam für private Ent- wickler öffnet und so ein kreativer Raum im Umgang mit dem noch jungen Medium entsteht.
5.1 Maschinen und Automaten - Der elektro-mechanische Prolog des Computerspiels
Ausgehend von David Sudnows27 Buch The Pilgrim of the Microworld (1984) in dem der Autor ausführlich die physisch-psychische Bindung beschreibt und reflektiert, die zwischen einem Spiel und dessen Spieler entsteht, entwickelt der Medienwissenschaftler Erkki Huhtamo (2007) seine „Archäologie des elektronischen Spiels“. Sudnow regt eher en passent an, über den kul- turellen Hintergrund von Computerspielen nachzudenken. Huhtamo (2007: 17) greift diese Idee auf und geht der „Tastaturtradition“ nach, indem er die historische Entwicklung von Schnittstellen zwischen „allen möglichen Artefakten“ und Menschen aufdeckt, um Computer- spiele kulturell und historisch verorten bzw. einordnen zu können. Der Autor weist darauf hin, dass sie nicht einfach zu einem Zeitpunkt der Geschichte aufgetaucht sind, sondern dass die Computerspiele einen weit in die Vergangenheit ragenden kulturellen Hintergrund haben. Huh- tamo kritisiert teilweise etwas polemisch, dass die Literatur über Computerspielgeschichte nicht auf den kulturellen Hintergrund eingeht und meist erst 1971 mit dem Computerspiel Computer Space, dem ersten kommerziellen und öffentlichen Automatenspiel, beginnt.
Das elektronische Spiel als interaktives Medium hat seine Wurzeln zur Zeit der industriellen Re- volution28, also im ausgehenden 19. Jahrhundert. Den Maschinen bzw. später auch den Com- putern, die zum Vergnügen und zur Entspannung entstanden sind, wurde der Boden von Ma- schinen bereitet, die für die Produktion in Fabriken und die Arbeit in Büros entwickelt wurden (vgl. Huhtamo, 2007: 20). Die Vorstellung einer engen, nahezu symbiotischen Beziehung zwi- schen Mensch und Maschine wird fälschlicherweise oft als Errungenschaft der Gegenwartskul- tur deklariert. Zweifellos ist die Gegenwart reich an solchen Verbindungen und dies nicht nur durch Computerspiele. Das Aufkommen dieser Konstellation und der dadurch ausgelöste Dis- kurs ist jedoch um einiges älter, als meist angenommen. Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine wurde oft in einem negativen Licht betrachtet. Zum Beispiel sahen die Menschen zur Zeit der industriellen Revolution in der aufkommenden Mechanisierung eine düstere Begleiter- scheinung des Fortschritts, so Huhtamo (2007: 21). Die noch fremde Verbindung zwischen Mensch und Maschine erreichte zu dieser Zeit eine nie da gewesene Qualität29.
Laut Huhtamo (2007: 24) erschienen im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Maschinen, die nicht für die Arbeitswelt erschaffen wurden. Als eine Art Gegenpol zur Arbeits- welt wurden sie freiwillig und außerhalb der Arbeitszeit verwendet. Diese Maschinen, die zum Vergnügen ihrer Benutzer entwickelt wurden, waren damals an vielen öffentlichen Plätzen an- zutreffen. Man fand sie beispielsweise in Bars, an Straßenecken, in Kaufhäusern, auf Volksfes- ten und in Strandbädern. Diese Entwicklung mündete in die Eröffnung von sogenannten ‚Penny Arcades‘, so bezeichnete man Spielhallen, die extra für die neuartigen Spielmaschinen entwor- fen wurden. Nach Huhtamo (2007: 24f.) wurden insbesondere ab den 1880er Jahren vielfältige Arten von Maschinen30 konstruiert. Entsprechend dem zugrundeliegenden Funktionsprinzip wurden diese Apparate als „Automaten“, „Münzautomaten“ oder „münzbetriebene Automa- ten“ bezeichnet, so Huhtamo (2007: 25). Mittels der Rückmeldungen, die ein Nutzer durch die Interaktion mit einem Automaten erhalten kann, lassen sich diese in zwei Gruppen einteilen: Automaten mit automatischer Rückmeldung und Automaten mit protointeraktiver Rückmel- dung. Huhtamo (2007: 25f.) betont, dass diese Einteilung nützlich sei, um „die Betriebslogik und die kulturelle Logik dieser Maschinen zu entschlüsseln.“ Im Folgenden sollen beide Katego- rien erläutert werden.
Bei Automaten mit automatischer Rückmeldung begrenzt sich die Rolle des Benutzers auf eine einfache, kurze sowie nicht kontinuierliche Handlung. Er wirft eine Geldmünze in den Schlitz, betätigt nachfolgend etwa einen Hebel oder drückt einen Knopf, um abschließend etwas aus dem Automaten zu entnehmen oder der Vorführung beizuwohnen. Das Entscheidende ist, dass der Benutzer oder in manchen Fällen schon der Spieler nach der Aktivierung des Mechanismus dem weiteren Geschehen passiv gegenübersteht. Huhtamo (2007: 26ff.) merkt an, dass diesen „automatisierten Erlebnissen“ die durch den Benutzer ausgelöst wurden, andere „mechanische Wunderwerke“ vorausgingen, die vornehmlich von Schaustellern vorgeführt wurden. Die Zu- schauer durften mit diesen Apparaturen noch nicht interagieren, so dass sich bei den Vor- führungen ein „magischer Kreis“ um die Exponate bildete. Dies kann der Faszination zuge- schrieben werden, die seit jeher von technischen Modellen, die reale Lebewesen nachbilden, ausgeht (vgl. Huhtamo, 2007: 27).
Die protointeraktiven Automaten kommen in ihrer Funktionsweise den Computerspielen deut- lich näher als die mit automatischer Rückmeldung. Das Prinzip, nach dem diese Automaten funktionieren, beruht auf wiederholten und kontinuierlichen Handlungen des Benutzers. Die Maschinen dieser Art waren so konstruiert, dass sie als Reaktion auf die Aktion des Benutzers mit verschiedenen, auf die Eingabe abgestimmten, Erwiderungen antworteten. Huhtamo (2007: 28) betont, dass der unmittelbare Kontakt über eine Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine zentrale Rolle spielt. Die Schnittstelle musste auf eine bestimmte Weise bedient werden, damit sich der Mechanismus im Inneren des Automaten in Bewegung setzt. Geld- spielautomaten, die später unter dem Namen ‚Einarmige Banditen‘ weltweit bekannt werden sollten, stellten die simpelsten Automaten dieser Kategorie dar. Die Bedienung wurde damals wie heute so simpel wie möglich gehalten, um den Spieler in „eine intensive Feedback-Schleife“ zu ziehen, die Spieler und Automaten miteinander verbindet. Maschinen wie der gerade beschriebene Glücksspielautomat boten keine Möglichkeiten zu komplexen Interaktionen und sind deshalb am unteren Ende des Interaktionsspektrums angesiedelt. Die protointeraktiven Möglichkeiten von Maschinen wie dem ‚Sculptoscope‘31 oder dem ‚Mutoskop‘32 waren kaum reichhaltiger (vgl. Huhtamo, 2007: 28f.) Die protointeraktiven Eigenschaften des Mutoskops wurden schon 1897 in einem Werbeprospekt angepriesen:
„Bei der Bedienung des Mutoskops hat der Zuschauer durch das Drehen der Kurbel die Darbietung voll und ganz unter Kontrolle. Er kann sie so schnell oder langsam drehen, wie es ihm beliebt. […] Wenn er so will, kann er die Vorführung an jedem beliebigen Punkt unterbrechen und jedes einzelne Bild in Ruhe betrachten.“ (Vgl. Nasaw, 1999: 133).
Huhtamo (2007: 30) merkt zu Recht an, dass die Formulierung „voll und ganz unter Kontrolle“ wie ein zeitgenössischer Werbeslogan für interaktive Mediengeräte klingt. Im Unterschied zu den Computerspielen waren beim Mutoskop keinerlei besondere Fertigkeiten im Bezug auf die Steuerung vonnöten, um die wechselnden Bilder betrachten zu können. Langsam wurden Automaten zur Kraftmessung und mechanische Sportspiele komplexer und verlangten von den Benutzern ein geringes Maß an Bedienfertigkeiten. Erst genannte Auto- maten lassen in der Retrospektive erkennen, dass die anthropomorphen Schnittstellen das auf- fälligste Merkmal darstellen. Denn die Hände avancierten schnell zur wichtigsten Kontaktstelle, was auf ihre immer noch dominante Stellung in der interaktiven Unterhaltung hinweist. Es gab jedoch auch Geräte, die mit den unteren Extremitäten oder mit dem Mund33 zu steuern waren. Wie ich im folgenden Kapitel darstellen werde, gibt es zeitgenössische Strömungen im Schnitt- stellendesign, die diese frühen Trends zur Interaktion wieder aufgreifen und weiterentwickeln. Durch die Entwicklung mechanischer Sportspiele trat die bloße körperliche Kraft in den Hinter- grund und wurde durch andere motorische und kognitive Fertigkeiten überlagert. Bei diesen Spielen, die ab Ende des 19. Jahrhunderts in den verschiedensten Variationen auf den Markt drängten, stand das körperlich unmittelbare Spielerlebnis nicht mehr im Fokus. Erfolgreiche Spiele waren unter anderem Simulationen der folgenden Sportarten: Schießen, Fußball, Kegeln, Boxen und Pferderennen (vgl. Huhtamo, 2007: 30f.). Derartige Spielthemen haben sich bis in die heutige Zeit gehalten und sind nach wie vor populär und kommerziell erfolgreich34. Interes- sant ist, dass mit diesen Spielen auch die Vorfahren der Avatare aus heutigen Videospielen eingeführt wurden. Avatare sind die virtuellen Statthalter der Spieler, die grafisch in der Spielwelt repräsentiert werden. Der Terminus stammt etymologisch aus der hinduistischen Mythologie und bezieht sich ursprünglich auf die fleischgewordene Verkörperung eines Gottes auf Erden (vgl. Kringiel, 2009: 319). Die Protoavatare der Sportspielautomaten führten ebenfalls die Aktionen des Spielers in der Spielwelt aus.
Das erfolgreichste Automatenformat stellten die Flipper35 dar. Dieser Automatentyp wurde in den 1930er Jahren auf den Markt gebracht und erlebte seine Blütezeit nachdem zweiten Weltkrieg (vgl. Huhtamo, 2007: 31).
Der amerikanische Historiker David Nasaw (1999: 159) sagt über die Bedeutung der frühen Spielautomaten im gesellschaftlichen Kontext, dass sie die perfekte Zerstreuung für die Menschen in den Städten waren, ohne dabei den Tagesablauf zu beeinträchtigen. Die Automaten boten den Arbeitern temporäre Fluchtmöglichkeiten aus der harten Arbeitswelt. Huhtamo (2007: 32) schreibt ihnen sogar eine therapeutische Funktion zu, indem die Spielautomaten „dem Benutzer die Möglichkeit boten, die kapitalistischen Ideen von konstanter Produktion und wissenschaftlich festgelegten Arbeitsabläufen“ kurzzeitig zu verdrängen. Er verweist im Anschluss an diese These jedoch zu Recht darauf, dass es naiv wäre zu glauben, dass diese „Negation der Arbeit“ eine echte Befreiung zur Folge haben konnte.
Die frühen Spielautomaten wurden bis jetzt von Kulturhistorikern und Medienwissenschaftlern gleichermaßen nahezu ignoriert. Huhtamo (2007: 42) stellt fest, dass es keine wissenschaftliche Literatur zu diesem Themenkomplex gibt. Meine Literaturrecherche bestätigt diese Annahme. Sogar populärkulturelle Geschichtsschreiber erwähnen die Automaten kaum. In ihrem ur- sprünglichen historischen und kulturellen Kontext werden die Spielautomaten für gewöhnlich nicht untersucht. Huhtamo stützt sich deshalb auf Literatur und Aussagen von Sammlern und Münzautomatenliebhabern. Er nimmt an, dass die Automaten damals als zu alltäglich erschie- nen, um sich wissenschaftlich mit ihnen auseinander zu setzen. Über das Verhalten der Spieler ist leider noch weniger überliefert, da es damals niemand für wichtig hielt Daten zu erheben und zu sichern. Für die einstigen Obrigkeiten galten die Spielautomaten als trivial und schäd- lich. Im Bezug auf Computerspiele hat sich diese Denktradition, wie in dieser Arbeit bereits ge- zeigt wurde, bis in unsere Zeit aufrechterhalten und beginnt erst allmählich aufzubrechen. Wahrscheinlich wurde auch aus diesem Grund so wenig über die sich langsam entwickelnde Mensch-Maschine-Beziehung überliefert. Die Bedeutung dieser Verbindung wurde demnach http://www.npd.com/corpServlet?nextpage=entertainment-categories_s.html) gestoßen die regelmäßige Erhebungen über den Computerspielemarkt durchführen. Diese Daten liefern einen guten Überblick über die Verkaufszahlen der Spiele, allerdings werden kopierte Spiele nicht erfasst.
[...]
1 Der Begriff ‚Computerspiel‘ dient in dieser Arbeit als Überbegriff für sämtliche digitalen Bildschirmspiele, weil diese auf derselben technischen Grundlage (elektronische Rechenmaschine, Monitor, Strom) basieren. Speziellere Bezeichnungen einiger Untergattungen wie Videospiele oder Automatenspiele werden jedoch an relevanten Stellen benutzt (vgl. Rosenfelder, 2008: 9 und Butler, 2007: 234).
2 Der Begriff Kultur bezeichnet in Wissenschaft und Alltagssprache sehr unterschiedliche Phänomene und ist stets in Zusammenhang mit Zivilisation zu erörtern. Tylor beschrieb Kultur bereits 1870 „als das komplette Ganze, das Wissen, Überzeugungen, Kunst, Gesetzte, Moral, Tradition und jede andere Fertigkeit und Ge- wohnheit einschließt, die Menschen einer Gesellschaft erwerben“ (zit. n. Nünning, 2005: 106f). In einer weit gefassten Definition kann unter Kultur somit alles verstanden werden, was vom Menschen gemacht ist (Nün- ning, 2005: 107f).
3 Aus Gründen der Lesbarkeit bedient sich die vorliegende Arbeit bei Personenbezeichnungen zumeist männlicher Substantive, schließt die weibliche Form der Begriffe jedoch selbstverständlich mit ein. Wenn beispielsweise von Spielern die Rede ist, so sind stets Spielerinnen und Spieler gemeint, es sei denn, das Geschlecht wird explizit hervorgehoben.
4 Bei Zitaten aus Zeitungsartikeln werden die Online- den Printveröffentlichungen vorgezogen, weil diese für die Leser einfacher einzusehen sind.
5 Zum Beispiel: Erziehungswissenschaften, Kommunikationswissenschaften, Sozialwissenschaften, Sportwissenschaften oder Germanistik.
6 KIM steht für „Kinder und Medien“ (vgl. mpfs, 2009).
7 JIM steht für „Jugend, Information, (Multi-)Media“ (vgl. mpfs, 2010).
8 ACTA steht für „Allensbacher Computer- und Technik Analyse“ (vgl. IfD, 2009).
9 Zum Beispiel Schlütz (2002: 18f.) Klimmt (2004: 696), Hurrelmann/Albert (2006: 78ff.) oder Information Solutions Group (2010).
10 Die Grundgesamtheit der KIM-Studien setzt sich jeweils aus der Grundgesamtheit aller deutschsprachigen Kinder von 6 bis 13 und deren primären Erziehungsberechtigten zusammen. Aus dieser Grundgesamtheit wird jeweils eine repräsentative Stichprobe von ca. 1.000 Zielpersonen befragt (vgl. MPFS, 2009: 4).
11 ‚Handheld‘ ist die gängige Bezeichnung für tragbare Spielkonsolen (vgl. Forster, 2009: 228).
12 Auf Seiten wie http://www.newgrounds.com können diverse Spiele kostenlos im Internet gespielt werden, die meistens in einem Browser-Fenster ablaufen.
13 Die Grundgesamtheit der JIM-Studien setzt sich aus den deutschsprachigen Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 zusammen. Aus dieser Grundgesamtheit wird jeweils eine Stichprobe von rund 1.000 Zielpersonen telefonisch befragt (vgl. MPFS, 2010: 4).
14 Die Grundgesamtheit der breitangelegten Studie besteht aus allen 14 bis 64 jährigen Deutschen. Die Stich- probe setzt sich aus 10.012 Befragten zusammen, die jeweils „mündliche-persönlich“ interviewt wurden (vgl. IfD, 2009: 6).
15 Aufgrund der besseren Lesbarkeit werden die Prozentangaben auf ganze Zahlen auf- bzw. abgerundet.
16 Die Abkürzung G.A.M.E. steht für Games, Art, Media, Entertainment. Der Verband ist seit Ende 2008 Mitglied des deutschen Kulturrates (vgl. Spiegel Online, 2008).
17 Matthias Dittmayer sammelt auf der Webseite stigma-videospiele.de u.a. Aussagen über Computerspiele und dokumentiert so die öffentliche Debatte. Außerdem beweist er mit seinem viel beachteten Film, wie irreführend und verfälschend die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Programme zum Teil ist (vgl. Gehlen, 2007). Weitere Literatur: Kringiel (2006a, 2006b und 2007) und Langer (2009b und 2009f).
18 Counterstrike ist ein Mehrspielertitel, bei dem zwei Teams (Polizei und Terroristen) gegeneinander spielen. Übergeordnetes Ziel des Spiels ist es, die Figuren der gegnerischen Mannschaft mittels virtuellen Waffen aus dem Spiel zu werfen. Das Spiel wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch mehrfach erwähnt werden.
19 Als ‚Maps‘ oder ‚Karten‘ werden virtuelle Spielfelder bezeichnet. Mithilfe von Level-Editoren können Spie- ler ihre eigenen Karten entwerfen. Weiterführende Literatur zum Thema ‚Mapping von Schulen‘ findet sich bei Hengstenberg (2007). Er zeigt anhand mehrerer Interviews auf, warum viele Jugendliche ihre Schule vir- tuell nachbauen.
20 Der Begriff ‚Ego-Shooter‘ meint Schießspiele, die in einer zentralperspektivischen Ansicht inszeniert sind (vgl. Kringiel, 2009: 320).
21 Der umstrittene und juristisch nicht definierte Begriff „Killerspiel“ wurde im Jahr 1999 vom damaligen bayrischen Innenminister Günther Beckstein populär gemacht (vgl. Stöcker, 2005).
22 Auf der Internetseite http://gamestudies.org befindet sich das Web-Journal The International Journal of Computer Game Research. Dort werden seit 2001 Texte verschiedener Forschungsinstitutionen veröffent- licht.
23 Butler (2007: 85ff.) analysiert exemplarisch die interaktiven Zeichensysteme des Spiels Diablo II.
24 Agenten sind Spielfiguren, die der Spieler indirekt durch Befehle steuert.
25 Kringiel (2009: 323) beschreibt Tutorials als „Übungsabschnitte“ in Computerspielen, die sich meist am Anfang eines Spiels befinden. Der Spieler wird dabei auf weitere Aufgabenstellungen vorbereitet.
26 Dies gilt jedoch nur für Spiele, die so gespielt werden, wie sie von den Entwicklern erdacht wurden. Generell können Programme von ihren Benutzern auf verschiedene Arten modifiziert werden, wie in Kapitel sieben näher erläutert wird.
27 Der Amerikaner David Sudnow war ein international bekannter Soziologe und Pianist. Mit seinem Buch über das subjektive Empfinden beim Spielen von Breakout war er einer der ersten Autoren, die über dieses Thema geschrieben haben.
28 Die allgemeine Schnittstellen-Tradition reicht noch weiter zurück. Infolge der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen durch die industrielle Revolution gewann sie jedoch zu diesem Zeitpunkt der Geschichte signifikant an Bedeutung (vgl. Huhtamo, 2007: 17).
29 Charlie Chaplin hat diese neuartigen Erfahrungen in seinem Film Modern Times von 1936 auf seine gewohnt humorvolle Weise dokumentiert.
30 Zum Beispiel: Automatisierte Minitheater, Maschinen zum Kräftemessen, Wahrsagemaschinen, automati- sche Wagen, Bild und Ton produzierende Maschinen, Glücksspielmaschinen und andere Spielmaschinen.
31 Das Sculptoscope ist seiner Funktionsweise nach ein Stereoskop.
32 Das Mutoskop ist ein Guckkasten für animierte Fotografien.
33 Besonders beliebt waren „pneumatische Blasapparate“ zur Messung der persönlichen physischen Leistugskraft (vgl. Huhtamo, 2007: 30)
34 Verlässliche Verkaufs- oder gar Verbreitungszahlen von Computerspielen zu finden gestaltet sich als sehr diffizil, da es keine zentrale Stelle gibt, die Verkaufszahlen national oder international sammelt. Bei meiner Recherche bin ich auf Marktforschungsinstitute wie die NPD Group (Zuletzt aufgerufen am 20.02.2010 unter:
35 Flipperautomaten stellen eine mechanische Adaption des Salonspiels Bagatelle dar (vgl. Huhtamo, 2007: 31).
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