Die US-amerikanische und deutsche Gesundheitspolitik im Vergleich


Proyecto/Trabajo fin de carrera, 2010

68 Páginas, Calificación: 1,6


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theorien des Wohlfahrtsstaats
2.1 Funktionalismus
2.1.1 Funktionalistische Erklärungsansätze
2.1.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit
2.2 Interessen- und Konflikttheorie
2.2.1 Interessen- und konflikttheoretische Ansätze
2.2.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit
2.3 Institutionalismus
2.3.1 Institutionalistische Erklärungsansätze
2.3.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit

3. Typologisierung des Wohlfahrtsstaats
3.1 Vergleichskriterien
3.2 Die drei Wohlfahrtswelten
3.2.1 Der liberale Wohlfahrtsstaat
3.2.2 Der konservative Wohlfahrtsstaat
3.2.3 Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
3.2.4 Kommentar

4. Gesundheitspolitik als eigenständiges Politikfeld
4.1 Annäherung an die Begriffe Gesundheit und Gesundheitspolitik
4.2 Akteure in der Gesundheitspolitik

5. Gesundheitspolitik in Deutschland
5.1 Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens
5.2 Historische Entwicklung - Anfänge und Reformen von 1883 bis zum Gesundheitsfonds 2009 im Überblick
5.2.1 Anfänge des Sozialstaats im deutschen Kaiserreich (1871-1918)..19
5.2.2 Fort- und Rückschritt in der Weimarer Republik
5.2.3 Einfluss des nationalsozialistischen Deutschland
5.2.4 Rekonstruktion und Ausbau bis 1975
5.2.5 Stabilisierung der Gesundheitsausgaben bis 1998
5.2.6 Zielwandel ab 1998
5.2.7 Das GKV-Modernisierungsgesetz 2004
5.2.8 Der Gesundheitsfonds als Folge der Gesundheitsreform 2007
5.2.9 Zusammenfassung der Zielkonflikte und Politikwechsel der einzelnen Etappen

6. Gesundheitspolitik in den USA
6.1 Grundzüge der sozialpolitischen Entwicklung
6.2 Besonderheiten des US-amerikanischen Gesundheitssystems
6.2.1 Die staatliche Krankenversicherung Medicare
6.2.2 Das Gesundheitsversorgungsprogramm Medicaid
6.2.3 Die Health Maintenace Organization als Alternativform der privaten Krankenversicherung
6.3 Gesundheitspolitik in der Geschichte der USA
6.3.1 Die Reagan-Ära (1981-1989)
6.3.2 Die Clinton-Administration (1993 - 2001)
6.3.3 Die Bush-Regierung (2001-2009)
6.3.4 Obamas Gesundheitsreform - Can he?
6.3.4.1 Gewinner und Verlierer der Gesundheitsreform
6.3.4.2 Ausblick

7. Ein metaperspektivischer Vergleich
7.1 Der staatliche und private Sektor im deutschen und amerikanischen Gesundheitswesen
7.2 Die Sozial- und Gesundheitsausgaben im Vergleich
7.3 Die Ausprägung der jeweiligen Wohlfahrtsstaatlichkeit
7.3.1 Die USA - Workfare instead of Welfare? 49
7.3.2 Deutschland - ein Wohlfahrtsstaat par excellence ?

8. Fazit

9. Anhang

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ob atchoum, ahchoo, ach í s oder einfach hatschi, die Antwort hierauf hat im weitesten Sinne immer etwas mit der Gesundheit des Menschen im Allgemeinen zu tun. So wie das Geräusch des Niesens mit einer gewissen Lautstärke verbunden ist und Aufmerksamkeit erregt, so wird es auch stets lauter um den Begriff der Gesundheitspolitik - sowohl abends in der Kneipe am Stammtisch unter den Feierabendpolitikern als auch in der Politik- wissenschaft unter den Politikern und so genannten Expertengruppen. Während man sich am Stammtisch dabei allerdings auf Artikel in einschlägigen Medien oder auf Aussagen diverser Polit-Talkshow-Gäste bezieht und allgemeine Vorurteile bezüglich des vermeintlich maroden und immer teurer werdenden Gesundheitssystems zum Besten gibt, geht es in der Politik darum, das Gesundheitswesen als gesteuerten und eigenständigen Wirtschaftszweig zu betrachten. Dennoch werden hier sowohl individuelle - bzw. weiter gefasst gesellschaftliche - als auch sozialwissenschaftliche Interessen widergespiegelt. So scheint es nicht verwunderlich, dass aus der Gesundheitspolitik als Teilbereich der Sozialpolitik im Laufe der Zeit und des demographischen sowie gesellschaftlichen Wandels ein eigenständiges Politikfeld und neues großes Thema für die Politikwissenschaft einerseits und die Wirtschaftswissenschaften andererseits geworden ist. Von besonderem Interesse sind hierbei mehrdimensionale gesundheitspolitische Konflikte, die allesamt von den übergreifenden politischen Zielen der Finanzierbarkeit, der Qualität, der Solidarität und des Wachstums beeinflusst werden. Während mit der Qualität und Solidarität die universalistische Bereitstellung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung unabhängig vom erbrachten Dienst und Status gemeint ist, so ist der Begriff der Finanzierbarkeit wie selbstverständlich mit der Stabilisierung der Gesundheits- ausgaben einerseits und der Kostenkontrolle ebendieser andererseits definiert. Der Begriff Finanzierbarkeit spielt in der Gesundheitspolitik eine bedeutende Rolle, da der medizinische Versorgungsbedarf aufgrund des steigenden Altersquotienten der Bevölkerung enorm steigt und der Anteil der Erwerbstätigen stetig sinkt. Wachstum innerhalb des Gesundheitsmarkts zielt auf die Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten und die Gewinnchancen für Leistungsanbieter ab. Interessant ist dabei die Unvereinbarkeit aller vier Ziele zur gleichen Zeit: Soll eine bessere Finanzierbarkeit gewährleistet werden, büßt insbesondere die Qualität aber auch das Wachstum ein. Steht das Wachstum im Zentrum des Interesses, so bleibt das Ziel der Solidarität häufig auf der Strecke. Eines kristallisiert sich jedoch deutlich heraus: Die Entscheidungen, die im Politikfeld Gesundheitspolitik getroffen werden, sind ein klares Spiegelbild der Gewichtung der einzelnen Ziele und - nicht zuletzt - der einzelnen Regierungen.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich konkret mit der Frage, wie und in welchem Maße sich die Ausgestaltung der oben genannten Ziele auf die Wohlfahrtsstaatlichkeit eines Landes auswirkt; dabei stehen die US- amerikanische und die deutsche Gesundheitspolitik im Fokus. Es gilt, einen Vergleich aus der Metaperspektive anzustellen und auf dieser Basis Gemeinsamkeiten, besonders aber Unterschiede herauszuarbeiten, um auf dieser Grundlage Rückschlüsse auf die momentane Wohlfahrtsstaatlichkeit der USA und der BRD zu ziehen. Unter anderem steht ein historischer Überblick über gesundheitspolitische Reformen innerhalb beider Gesundheits- wesen im Mittelpunkt. So soll beleuchtet werden, wie sich Reformen im amerikanischen bzw. deutschen Gesundheitswesen durchsetzen lassen, wenn damit komplexe Entscheidungsstrukturen und oftmals gegensätzliche Interessen verbunden sind. Nicht zuletzt geht es auch um eine historische Betrachtungsweise gesundheitspolitischer Probleme innerhalb des US- amerikanischen und deutschen Gesundheitswesens. Es werden Unterschiede der beiden Gesundheitswesen und ihre Bedeutung für die Wohlfahrts- staatlichkeit systematisch herausgearbeitet und vergleichend gegenüber gestellt werden. Außerdem wird darauf eingegangen, welche Rollen dem Staat und dem Markt zukommen bzw. ob Gesundheitspolitik nicht sogar im Spannungsfeld dieser beiden steht. Kann es basierend auf den enormen Finanzierungsproblemen des Gesundheitswesens in beiden Staaten überhaupt zu einer medizinischen Versorgung kommen, die die Interessen und dem Bedarf aller angepasst ist, oder geht es infolge der anhaltenden Weltwirtschaftskrise und ihrer Konsequenzen nur noch um eine Eindämmung der Kosten und eine rigorose Kostenkontrolle zu Lasten der Leistungs- nachfrager? Inwiefern sind politische Kostenkontrolle und Regulierung durch den Staat notwendig, um ein solides und vertretbares Preis-Leistungs- Verhältnis zu erzielen ohne von einer Überregulierung zu sprechen? Um beurteilen zu können, wie und in welchem Maße sich Finanzierbarkeit, Qualität, Solidarität und Wachstum auf die Wohlfahrtsstaatlichkeit der USA und der BRD auswirken, wird zunächst der theoretische Hintergrund des Wohlfahrtsstaats inklusive dessen Entstehung und Entwicklung vorgestellt.

Zudem wird eine Typologisierung in drei Wohlfahrtswelten nach Gøsta Esping-Andersen vorgenommen. Dies soll dem Verständnis der unterschiedlichen Entwicklungstendenzen der beiden zu vergleichenden Systeme dienen. Hierzu und um die Komplexität der Strukturen zu verdeutlichen, wird ein ausführlicher Überblick über beide Gesundheitswesen gegeben; außerdem werden in weiteren Schritten die verschiedenen Phasen der Sozial- bzw. Gesundheitspolitik in der Geschichte bis heute vorgestellt, um den Reformbedarf zu erklären. Am Beispiel der USA und Deutschlands soll hervorgehoben werden, wie sich ein Politikfeld Gesundheitspolitik neben und vor allen Dingen in Wechselwirkung mit den Gesundheitswissenschaften herauskristallisieren konnte. Schließlich sollen vergangene und bestehende soziale Probleme des amerikanischen und deutschen Gesundheitssystems herausgearbeitet und erläutert werden.

Der Begriff Gesundheit hat im Laufe der Jahrzehnte - besonders seit den 70er-Jahren in den Industriegesellschaften - und des gesellschaftlichen Wandels immer mehr an Bedeutung gewonnen, nimmt nun einen hohen Stellenwert für die Individuen ein und ist infolgedessen auch immer häufiger Gegenstand medialen Interesses. Hinzu kommt, dass die Gesundheits- systeme von volkswirtschaftlicher Bedeutung sind. Um etwaigen Miss- verständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt, dass der Begriff der Gesundheit in der vorliegenden Arbeit mit dem Fehlen körperlicher, geistiger und seelischer Einschränkungen (wobei darauf hingewiesen werden muss, dass es sich dabei lediglich um subjektives Empfinden handelt) verbunden ist (Gottweis; Hable; Prainsack; Wydra: 2004, S. 309-211). Die Gesundheitspolitik soll somit Maßnahmen ergreifen, die die Gesundheit der Staatsbürger/-innen verbessern bzw. der Vorbeugung vermeidbarer Krankheiten dienen und allgemein zum Wohlbefinden des Einzelnen beitragen, um bspw. Arbeitskraft zu sichern. So ist das Wohlergehen des Staates immer enger verknüpft mit dem Wohlergehen der Bevölkerung. Früher als Teilbereich der Sozialpolitik, die ihre Aktivitäten auf die existenzielle Absicherung der Bürger/-innen bzw. auf die Verbesserung von Lebenssituationen und -chancen ausrichtet, mittlerweile als eigen- ständiges Politikfeld, das geprägt ist durch die Anzahl multipler Akteure, innerhalb des Sozialstaats. Ein Sozialstaat wird als demokratischer Staat bezeichnet, der die Ergreifung rechtlicher und finanzieller Mittel nicht scheut bzw. ermöglicht, um die bestehende soziale Ungleichheit auszubalancieren (Klein; Schubert 2006: S. 282). Während der Begriff des Sozialstaats vornehmlich im Deutschen verwendet wird, wird in der vorliegenden Arbeit zur vergleichenden Darstellung und Untersuchung der Begriff des Wohlfahrts- staats aufgegriffen; dieser ist im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung entstanden und wird als Weiterentwicklung des Sozialstaats verstanden: Er impliziert die Förderung von Sicherheit und Gleichheit für alle Bürger/-innen durch die aktive Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse (Butterwegge 2001: S. 13). Seither begünstigen unterschiedliche Macht- verhältnisse sowie nationale und kulturelle Traditionen den Aus- bzw. Abbau und die (Weiter-)Entwicklung des Wohlfahrtsstaats. Gleichermaßen geht dem Politikfeld Gesundheitspolitik eine gesellschaftliche und kulturelle Geschichte voraus und steht nach wie vor in enger Verbindung mit ihr. Auch national politische Strukturen spielen eine bedeutende Rolle beim Outcome der Gesundheitspolitik und prägen das Verständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Die vorliegende Arbeit stützt sich in ihrer Gesamtheit überwiegend auf die Verwendung sowie Interpretation von Sekundärliteratur. Während im ersten Teil zur Herausarbeitung der unterschiedlichen Theorien zur Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten sowie zur Typologisierung ebendieser nach Gøsta Esping- Andersen fachwissenschaftliche Werke von Franz-Xaver Kaufman, Stephan Lessenich, Carsten G. Ullrich sowie von Josef Schmid besondere Beachtung finden, stützen sich der historische Überblick und die damit einhergehenden Reformen der beiden Gesundheitssysteme größtenteils auf ein Werk von Herbert Gottweis, Wolfgang Hable, Barbara Prainsack und Doris Wydra zu vergleichenden Strategien der Gesundheitspolitik in den Industriestaaten einerseits und andererseits auf zuverlässige Internetquellen wie denen der Bundeszentrale für politische Bildung, um die Aktualität der momentanen Gesundheitsreformen in den USA und der BRD zu gewährleisten.

2. Theorien des Wohlfahrtsstaats

Ziel des ersten Abschnitts ist es, einige Gründe für die historische Entstehung von Wohlfahrtsstaaten zu untersuchen, um das unterschiedliche Entwicklungsstreben ebendieser zu verstehen. Bei der Entstehung von Wohlfahrtsstaatlichkeit handelt es sich immer um eine selbstständige, politische Entwicklung eines Staats im Spannungsfeld der bestimmenden politischen Kraftverhältnisse und der vorherrschenden Problemstellungen. Auch wenn die Entstehung des Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen und der Gesundheitspolitik im Speziellen in den USA und Deutschland Unterschiede aufweist, lässt sich an diesem Punkt bereits festhalten, dass sie im Zuge der Industrialisierung und Verstädterung entstand und immer ein Wechselspiel zwischen Wirtschaft, Politik und Kultur des jeweiligen Landes darstellt (Kaufmann 2003: S. 329). So kann die Entwicklung von Wohlfahrts- staatlichkeit auch als Folge der sozioökonomischen Umgestaltung eines Staats verstanden werden. Um diese Komplexität zu beleuchten, bedient sich die vergleichende Wohlfahrtsstaatenforschung verschiedener Erklärungs- ansätze; dabei stellen der Funktionalismus, die Interessen- und Konflikttheorie und der Institutionalismus die drei wesentlichen Schulen der Forschung dar. Sie sind dabei nicht als widersprüchlich oder konkurrierend zu sehen, sondern vielmehr als ergänzend und aufeinander aufbauend, da sie unterschiedliche Blickrichtungen auf die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung gestatten. Im Folgenden werden diese drei Ansätze in aller notwendigen Kürze vorgestellt.

2.1 Funktionalismus

Der Funktionalismus stellt den ältesten Strang der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung dar und dominiert u. a. aufgrund der Studie The Welfare State and Equality von Harold Wilensky bis zum Ende der 1970er- Jahre.

2.1.1 Funktionalistische Erklärungsansätze

Funktionalistische Erklärungsansätze gehen davon aus, dass die staatliche Sozialpolitik auf die Veränderungen der Arbeits- und Lebenssituationen der Menschen aufgrund der Industrialisierung und Verstädterung reagiert. Die Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats ist als reaktive Folge auf wirtschaftliche und soziale Gefahren sowie auf den demographischen Wandel der Bevölkerung zu verstehen (Wendt 2009: S. 67ff.). Dabei gilt die Aufwendung staatlicher Ressourcen als Hauptindikator wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung (Kaufmann 2003: S. 27).

2.1.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit

Durch oben genannte Industrialisierung und Urbanisierung wurden traditionelle Lebensweisen zunehmend zerstört und neue soziale Probleme geschaffen: Anstelle der Sicherung durch die Lebensgemeinschaften - wobei sich dies gleichermaßen auf Familie und Lehnsherrn bezieht (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 28) - trat nun der Wohlfahrtsstaat. Dieser entstand aufgrund der Nachfrage nach sozialer Sicherheit. Der Arbeitnehmer musste eigenverantwortlich für seine Unterhaltskosten sorgen, da der Arbeitgeber für diese nicht mehr aufkam. Da das Bewusstsein einer Klassenordnung in der Bevölkerung und insbesondere unter den so genannten Arbeitern stetig wuchs, sah man in der Einführung staatlicher, vorausschauender Handlungen zum sozialen Schutz ein Mittel zum Erhalt der Systemstabilisierung (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 28). So wurde der Kernbereich staatlicher Sicherung zunehmend in die Staatsmodelle einbezogen. Hier spiegelt sich eine Angleichung zwischen kapitalistischen und sozialistischen Systemen wider.

So führte die Industrialisierung im 19. Jahrhundert und die damit einher- gehende Zunahme der Alters- und Frauenerwerbsquote zu wachsenden Staatsaufgaben sowie -ausgaben (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 28-29). Bis heute stellt dieser demographische Wandel ein wesentliches Problem für die Kostenregulierung in der Gesundheitspolitik dar.

2.2 Interessen- und Konflikttheorie

Ende der 1970er-Jahre verdrängen interessen- und konflikttheoretische Erklärungsansätze die vorherrschenden funktionalistischen Ansätze. Ein bekannter Vertreter dieser Theorieschule ist Walter Korpi, demzufolge unter- schiedliche soziale und wirtschaftliche Interessen verantwortlich sind für die Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrt (Ostheim; Schmidt; Siegel; Zohlnhöfer 2007: S. 41-42).

2.2.1 Interessen- und konflikttheoretische Ansätze

Während im Funktionalismus die Höhe der Aufwendungen für soziale Sicherung im Fokus steht, gehen Vertreter der Interessen- und Konflikttheorie davon aus, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit eine Folge unterschiedlicher Interessen sowie Machtverhältnisse zahlreicher staatlicher sowie individueller Akteure ist.

2.2.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit

Basierend auf dem Konflikt zwischen Markt und Staat, der unter anderem verantwortlich gemacht wird für die Modernisierung und Mobilisierung der Gesellschaft, entsteht der Wohlfahrtsstaat als Produkt einer klassen- theoretischen Gesellschaftsauffassung (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 30). Unter den Bürger/-innen wächst das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsklasse heran. Mobilisierung wird hier verstanden als neue Möglichkeit der Partizipation der so genannten Arbeiterklasse am politischen Geschehen. Dies geschieht mittels der Organisation von Gewerkschaften und der Gründung sozialdemokratischer Parteien, die die Interessen dieser Klasse vertreten - kurzum: Die Arbeiterklasse organisiert sich erstmalig politisch. Sie erhält eine neue Form der Macht und erzwingt somit den Ausbau des Wohlfahrtsstaats. Die Ausdehnung von Wohlfahrtsstaatlichkeit ist also auf unterschiedliche interessenspoltische Handlungen unterschiedlicher, politischer Akteuren zurückzuführen.

2.3 Institutionalismus

Der Institutionalismus kann als Weiterentwicklung der beiden voran- gegangenen Theorien verstanden werden. Institutionalistische Erklärungs- ansätze wurden als Abwendung zur funktionalistischen Theorie seit Ende der 1980er-Jahre konzipiert (Wendt 2009: S. 68) und gehen nunmehr auf die Rolle von politischen, ökonomischen und sozialen Institutionen ein. Der niederländische Politikwissenschaftler Arend Lijphard kann hier als Vertreter der Theorieschule genannt werden.

2.3.1 Institutionalistische Erklärungsansätze

Im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Theorien rückt nun der Staat als eigenständiger Akteur in den Fokus. Er gilt als maßgeblich für die Entwicklung und Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaats. Im Mittelpunkt stehen die politischen Prozesse sowie die daraus resultierende Eigendynamik der Institutionen. Betont wird auch die Eigengesetzlichkeit1 der Sozialpolitik.

2.3.2 Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit

Mit der dritten Theorieschule werden Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats mit Prozessen der effizienteren Gestaltung und Zentrali- sierung staatlicher Systemstrukturen in Relation gebracht. Schnell wird deutlich, dass sich der Wohlfahrtsstaat aus zahlreichen Institutionen zusammen setzt und kein einheitliches Konstrukt darstellt. Aufgrund dieser Vielfalt werden innerhalb einer Institution immer unterschiedliche institutionelle Bereiche je nach Problemlage aktiv.

Alle drei hier vorgestellten Theorien bzw. Erklärungsansätze tragen in gewissem Maß zum Verständnis der Entstehung und Entwicklung des Wohlfahrtsstaats bei, stoßen dabei aber auch an ihre Grenzen, da es keine „allgemeine Theorie des Wohlfahrtsstaates“ (Ullrich 2005: S. 38) gibt. Vielmehr bedarf es einer Betrachtungsweise aus der vergleichenden Perspektive. Dabei ist insbesondere die Sozialleistungsquote2 ein wichtiger Indikator für die Leistungsfähigkeit eines Wohlfahrtsstaats, da deren Vergleich geeignet ist, aufholende und annähernde Entwicklungen zu erläutern. Als einziger Indikator zur Entstehung und Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit ist die Höhe der Sozialausgaben allerdings unzulänglich, da sie keinen Rückschluss auf den Leistungsumfang zulässt. Erwähnenswert ist jedoch, dass das Wissen um kategoriale Unterschiede trotz dieser vermeintlichen Einseitigkeit der Betrachtung früh vorhanden war. Es war der dänische Politikwissenschaftler und Soziologe Gøsta Esping-Andersen3, der eine bis heute anerkannte - wenn auch oft kritisierte - Typologisierung zur Unter- scheidung von Wohlfahrtsstaatlichkeit vorgenommen hat.

3. Typologisierung des Wohlfahrtsstaats

Die vergleichende Wohlfahrtsstaatenforschung stellt einen recht jungen Wissenschaftszweig dar, dessen Beginn auf die 1970er-Jahre datiert werden kann (Lessenich; Ostner 1998: S. 9ff). Unter anderem beschäftigt sie sich mit den oben genannten Theorien, um die Entstehung, die Entwicklung und die unterschiedlichen Wirkungen sowie die Disparitäten von Wohlfahrtsstaaten zu beleuchten. Als klassische Referenz dient dabei Gøsta Esping-Andersen mit seinem Werk The Three Worlds of Welfare Capitalism, das im Jahr 1990 veröffentlich wurde. Mittelpunkt seiner Theorie „ist die Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Familie bei der Wohlfahrtsproduktion“ (Ullrich 2005: S. 43). Unter dem Begriff der Wohlfahrtsproduktion fasst Esping- Andersen die Aufwendung aller Sozialleistungen, die dazu dienen, die Wohlfahrt zu steigern. Daher spricht er häufig von so genannten Wohlfahrts- staatsregimen4. Wie bereits erwähnt zieht auch Esping-Andersen dabei Rückschlüsse über die Sozialleistungsquote; allerdings bringt er darüber hinaus weitere Vergleichskriterien bzw. Grundprinzipien zum Einsatz und orientiert sich an der Auffassung Thomas Marshalls5: Leitidee eines Wohlfahrtsstaats sei die soziale Staatsbürgerschaft und die daraus resul- tierenden Staatsbürgerrechte, anhand derer Esping-Andersen die Indikatoren eines Wohlfahrtsstaats definiert. Ziel der typologischen Systematisierung von Wohlfahrtsstaaten ist die Herausstellung zentraler Merkmale unter- schiedlicher Wohlfahrtsstaaten (Kaufmann 2003: S. 25-26).

3.1 Vergleichskriterien

In welchem Maße Staatsbürger(n)/-innen soziale Rechte gewährt werden, soll mithilfe dreier Grundprinzipien verdeutlicht werden. Esping-Andersen misst die Gewährung sozialer Rechte fortan an der so genannten DeKommodifizierung, Stratifizierung und der Verknüpfung der Wohlfahrt mit dem Staat, dem Markt sowie der Familie.

Rückbeziehend auf Marshall hebt Esping-Andersen hervor, dass die individuelle Unabhängigkeit vom Markt als ein grundlegendes soziales Recht betrachtet werden muss; er führt somit das erste Grundprinzip, die De- Kommodifizierung, an. Der Grad der De-Kommodifizierung gibt Auskunft über die Möglichkeit, ein Leben mit gewissen Lebensstandards6 unabhängig vom Markt zu führen. Die de-kommodifizierende Wirkung wird dabei weder über die bloße Existenz von Sozialleistungen noch über die Höhe des Leistungs- aufwands ermittelt; vielmehr sagen die eingeschränkte Leistungsvergabe7, die Höhe der Ersatzleistungen und schließlich die Dauer ebendieser etwas über den Grad der De-Kommodifierung eines Wohlfahrtsstaats aus (Ullrich 2005: S. 106-107).

Ein zweites Vergleichskriterium bietet die so genannte Stratifizierung - die Wirkung des Wohlfahrtsstaats auf bestehende soziale Ungleichheiten innerhalb einer Gesellschaft. Die Aufgabe des Wohlfahrtsstaats besteht in gewissem Maße in der umverteilenden Wirkung zur Korrektur sozialer Nachteile; Statusungleichheiten bleiben dabei jedoch häufig aufgrund unterschiedlicher Sicherungssysteme8 bestehen oder werden lediglich umgeschichtet. Das jeweilige Sicherungssystem in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten erklärt demnach die Wirkung auf die unterschiedliche Stratifizierung. Somit trägt nur ein universalistisch ausgerichtetes System zur Verringerung von Statusungleichheiten bei und zielt auf eine gesellschafts- übergreifende Solidarität9 (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 40) ab, da hier alle Staatsbürger/-innen gleichermaßen leistungsberechtigt sind.

Das dritte Vergleichskriterium fokussiert die Rolle des Staats, Markts und der Familie bei der Wohlfahrtsproduktion. Dabei wirkt sich die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Faktoren auf die Ausgestaltung und das Maß von Wohlfahrt aus.

Mit Hilfe dieser unterschiedlichen Charakteristika sowie aufwändigen analytischen und empirischen Vergleichen werden bei Esping-Andersen drei unterschiedliche Wohlfahrtstypen deutlich.

3.2 Die drei Wohlfahrtswelten

Wie zuvor ausformuliert, sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich hervorgehoben, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit immer in Wechselwirkung mit der Verknüpfung des Arbeitsmarkts und den Prozessen innerhalb der sozialen Schichtung steht. So kristallisieren sich bei Gøsta Esping-Andersen drei unter- schiedliche Typen von Wohlfahrtsstaaten heraus: der liberale, der konser- vative und der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat (Schmidt 2002: S. 82ff.). Während sich der liberale Wohlfahrtsstaat durch ein geringes Maß an De- Kommodifizierung einerseits und einen enormen Anteil an bedürftigkeits- prüfender Leistungen andererseits auszeichnet, weist der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat eine starke de-kommodifizierende Wirkung und ein universalistisches Konzept auf. Der konservative Wohlfahrtsstaat ist mittig anzusiedeln.

3.2.1 Der liberale Wohlfahrtsstaat

Als Prototyp für einen liberalen Wohlfahrtsstaat kann u. a. die USA genannt werden. Der Staat fördert hier passiv die Abhängigkeit des Individuums vom Markt, indem er wenige soziale Leistungen anbietet. Charakteristisch ist daher die geringe de-kommodifizierende Wirkung diesen Typus. Des Weiteren zeichnet er sich durch einen eingeschränkten Leistungszugang10 und marginalen Leistungsumfang aus. Dabei wird der Markt als höchste Regel- instanz angesehen; der Staat und die Familie spielen in der Wohlfahrts- produktion eine untergeordnete Rolle. Ein typisches Charakteristikum für den liberalen Wohlfahrtsstaat ist die steigende soziale Ungleichheit und Armut (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 40/Lessenich 1998: S. 43ff.). Die Finanzierung sozialer Fürsorge wird vorwiegend durch Steuern bestritten11 ; Versicherungen werden privat oder betrieblich abgeschlossen und gezahlt. Kurzum: Der Sozialpolitik kommt in den liberalen Wohlfahrtsstaaten eine wenig bedeutende Rolle zu und bietet lediglich eine Art Basissicherung auf niedrigem Niveau für die Schwächsten der Gesellschaft (Gerlinger; Rosenbrock 2006: S. 32).

3.2.2 Der konservative Wohlfahrtsstaat

Als klassischer Vertreter diesen Typus wird Deutschland genannt. Im Gegensatz zu den USA nimmt der Markt als Regelungsinstanz eine begrenzte Funktion ein; obwohl der Staat mit einer Vielzahl sozialer Leistungen aufwartet, steht zunächst die Familie im Vordergrund zur Wohlfahrts- produktion. Hier greift das Subsidiaritätsprinzip12, da der Staat erst aktiv wird, wenn die Familie das Problem nicht mehr bewältigen kann. Auch wird tradierten Statusunterschieden nicht entgegengewirkt, vielmehr werden diese beibehalten und je nach Beruf verstärkt13. Die Erwerbstätigkeit ist direkt verbunden mit einer Versicherungspflicht für den Arbeitnehmer. Diese wiederum garantiert einen Rechtsanspruch auf einen gewissen Umfang an Leistungen abhängig vom jeweiligen Einkommen. Die de-kommodifizierende Wirkung wird als moderat beschrieben, da der Staat für eine Existenz- sicherung sorgt. Die Finanzierung sozialer Sicherung erfolgt vor allem über Beiträge; Fürsorge und Versorgungsleistungen bleiben steuerfinanziert.

3.2.3 Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat

Das herausstechende Merkmal sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten, zu denen z. B. Schweden gezählt wird, ist das Prinzip der universalistischen Versorgung; folglich herrscht eine geringe soziale Ungleichheit, da alle Bürger/-innen unabhängig ihres sozialen Status leistungsberechtigt sind. Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat weist einen hohen Grad an De- Kommodifizierung auf und infolgedessen ein hohes Leistungsniveau. Im Mittelpunkt steht die Lebensstandardsicherung des Individuums unabhängig vom eigenen Marktwert (Ullrich 2005: S. 47/Lessenich 1998: S. 45). Esping- Andersen nennt dies die Forderung nach „Gleichheit auf höchstem Niveau“ (Lessenich 1998: S. 45). Der Staat stellt dabei die höchste Regelinstanz dar, d. h. dass die meisten Sozialleistungen über den Staat finanziert werden. Dies führt dazu, dass sich dieser Typus insbesondere durch eine hohe Steuerbelastung auszeichnet.

3.2.4 Kommentar

An dieser Stelle sei ausdrücklich gesagt, dass es sich bei den oben beschriebenen Typen von Wohlfahrtsstaaten um Idealtypen handelt. Es verwundert also nicht, dass in der Realität eine Vermischung der einzelnen Typen vorherrschend ist. Die Sozialpolitik divergiert in den einzelnen Ländern mehr oder weniger von den Idealtypen. Dies geht aus den Arbeiten EspingAndersens nicht eindeutig hervor (Schmidt 2002: S. 89). Die oben genannten Länder kommen dabei dem Idealtyp allerdings am nächsten.

Obwohl The Three Worlds of Welfare Capitalism in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatenforschung immer noch als Meilenstein anerkannt ist, bemängeln Kritiker wie z. B. Claus Offe14 die Versteifung Esping-Andersens auf Machtressourcen zur Erklärung der unterschiedlichen Ausprägung von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Offe gibt außerdem zu bedenken, dass Esping- Andersen die Gründung des Sozialstaats lediglich als historisches Erbe basierend auf Entscheidungsprozessen so genannter Eliten begreift (Schmidt M.G. 1998: S. 221ff.). Diese Einschränkung hat zur Folge, dass Esping- Andersen sowohl die institutionellen Bedingungen als auch den zeitlichen Wandel bei seiner Studie außer Acht lässt. Im Laufe der Jahre kommt es aufgrund der anhaltenden Kritik zwar immer zu erweiterten Thesen zur Entstehung von Wohlfahrtsstaatlichkeit, allerdings kann festgehalten werden, dass die Typologisierung von Gøsta Esping-Andersen in drei Wohlfahrts- welten stets als Grundlage hierzu dient und geeignet ist, Unterschiede der sozialen Sicherungssysteme sowie deren Niveau zu erklären.

4. Gesundheitspolitik als eigenständiges Politikfeld

Die Notwendigkeit, die Gesundheitspolitik zu einem eigenständigen Politikfeld zu erklären, ergibt sich nicht zuletzt aus der Schwierigkeit, dass die Gesundheitssysteme selbst eine hochkomplexe Struktur aufweisen. So sind sie als Zusammenspiel verschiedenster Berufe, Herausforderungen und ökonomischer sowie moralischer Interessen in einem vorgegebenen institutionellen und rechtlichen Rahmen zu verstehen.

4.1 Annäherung an die Begriffe Gesundheit und Gesundheitspolitik

Zum besseren Verständnis sei noch einmal hervorgehoben, dass der Begriff Gesundheit sich nicht nur auf die Unversehrtheit des menschlichen Körpers bezieht, sondern ebenfalls darauf abzielt, das psychische sowie soziale Wohlbefinden zu ermöglichen (Wendt 2006: S. 11ff.)15. Daher wird Gesundheit häufig als lebensnotwendiges und unverzichtbares Gut beschrieben (Burkhardt 2002: S. 20-11). Darüber hinaus stellt eine intakte Gesundheit die Basis einer funktionierenden Gesellschaft dar. So lässt sich u. a. die Entstehung des Politikfelds Gesundheitspolitik durch den hohen Stellenwert von Gesundheit für die Gesellschaft einerseits und die Wirtschaft andererseits erklären: Gesundheit gilt nicht mehr als bloße Privatsache. Vielmehr entdeckten die Staaten ihr Interesse an der Gesundheit der Bevölkerung16, da diese fortan als monumentale Ressource zur Steigerung der Staatsmacht diente (Gottweis; Hable; Prainsack; Wydra 2004: S. 48ff.).

In der Einleitung der vorliegenden Arbeit wurde bereits erwähnt, dass das Wohlergehen des Staates immer enger verknüpft wurde mit dem der Bevölkerung. Demnach kann Gesundheitspolitik als staatliche Interventions- form zur Schaffung, Bewahrung und Verbesserung des menschlichen Wohlbefindens und der gesundheitlichen Lage verstanden werden (Gerlinger; Rosenbrock 2006: S. 12-13). Die staatliche Interventionsform impliziert sämtliche organisierte Aufwendungen angefangen bei der Spezifizierung von Problemen über die Politikformulierung, die die Bestimmung konkreter Ziele und die dazugehörigen Instrumente umfasst, bis hin zur eigentlichen Durchführung und anschließenden Überprüfung sowie Beurteilung. Außerdem spielen bei der Gestaltung von Gesundheitspolitik immer auch nationale sowie kulturelle und traditionelle Auffassungen und Strukturen eine bedeutende Rolle. Eine besondere Funktion kommt dabei der Rolle des Staats zu; so kann an dieser Stelle erstmals festgehalten werden, dass sich die USA und Deutschland grundlegend in der Steuerung der Gesundheitspolitik unter- scheiden (Gottweis; Hable; Prainsack; Wydra 2004: S. 162ff.). Während sich das deutsche Gesundheitssystem vor allem durch den allgemeinen Zugang zu medizinischer Versorgung unabhängig der eigenen Zahlungsfähigkeit auszeichnet, bietet die USA lediglich den Schwächsten der Gesellschaft eine staatliche Grundversorgung. Dies ruht nicht zuletzt auf der Annahme, dass Krankheit bzw. privater Wohlstand in der Verantwortung des Einzelnen liegen und demnach Eigeninitiative gefordert ist. Allgemein bedarf Gesundheitspolitik konkreter Ziele, so dass sie mit Hilfe partizipierender Akteure die verfügbaren Ressourcen gleichwertig verteilen kann. Oberstes Ziel ist die Ausdehnung einer hochwertigen Gesundheitsversorgung auf eine breite Masse der Bevölkerung. Zu beachten ist allerdings, dass diese stets wirtschaftlich und bedarfsgerecht erfolgen sollte. Dabei bedient sich die Politik unterschiedlicher Möglichkeiten zur Verwirklichung dieses Ziels: „Krankenversicherung, steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung, Fürsorge oder marktwirtschaftliche Finanzierung und Bereitstellung von Gesundheitsleistungen“ (Gottweis; Hable; Prainsack; Wydra 2004: S. 162ff.). Allgemein lässt sich festhalten, dass die Gesundheitspolitik ein bisweilen problematisches Politikfeld aufgrund der Komplexität des jeweiligen Gesundheitssystems darstellt.

4.2 Akteure in der Gesundheitspolitik

Wie eingangs bereits erwähnt, handelt es sich bei der Gesundheitspolitik um ein Politikfeld, das durch die Vielzahl unterschiedlicher Akteure geprägt ist.

Fakt ist, dass Entscheidungen, die insbesondere die Gesundheitspolitik betreffen, auf unterschiedlichen Ebenen unter Mitwirkung und Einbindung diverser Akteure und Institutionen wie z. B. den Krankenkassen als Finanzierungsträgern, den Gesundheitsämtern sowie den Ärzten als Leistungserbringer getroffen werden. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage nach der Effektivität des Zusammenwirkens: Da es sich bei Politikformulierung und den anschließenden Handlungen um Prozesse handelt, die arbeitsteilig von unterschiedlichen Akteuren durchgeführt werden, müssen diese optimal aufeinander abgestimmt sein, um eine (Wohlfahrts-)Produktion von hohem Wirkungsgrad zu gewährleisten (Kaufmann 2005: S. 192).

Grundsätzlich kristallisieren sich im Gesundheitswesen drei Ebenen heraus: Der Staat bzw. die jeweilige Regierung stellen dabei einen der wichtigsten Akteure dar. Dies gilt auch, wenn der Staat, wie üblicherweise in den USA, die anfallenden Aufgaben und die Verantwortung an Institutionen oder den freien Markt abgibt. Weitere bedeutende Akteure sind u. a. internationale Organisationen wie die WHO (World Health Organization), die allerdings über keine Sanktionsmöglichkeiten verfügt (Gerlinger; Rosenbrock 2006: S. 14). Ihre Empfehlungen - bzw. sorgfältiger formuliert ihre Verbesserungs- vorschläge - zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit sind nicht bindend. In Deutschland lassen sich weitere Akteure in Form institutioneller Körperschaften17 auf Länderebene ausmachen, in den USA nehmen die einzelnen Bundesstaaten in der Gesundheitspolitik die analoge Rolle ein18. Auf der unteren Ebene versuchen zahlreiche individuelle Akteure wie z. B. Arztgruppen oder einzelne Krankenhäuser Einfluss auf die Steuerung zu nehmen.

Es wird deutlich, dass sowohl das deutsche als auch das amerikanische Gesundheitswesen ein System darstellt, das von dem Zusammenwirken multipler Akteure abhängig ist. Darüber hinaus beinhaltet dieses System jeweils ein charakteristisches „Mischungsverhältnis aus staatlichen, verband- lichen und marktlichen Elementen“ (Gerlinger; Rosenbrock 2006: S. 14).

[...]


1 Die Eigengesetzlichkeit der Sozial- bzw. Gesundheitspolitik rührt von der Gründung öffentlichrechtlicher Zwangsversicherungen für Arbeitnehmer her. Unter staatlicher Aufsicht wurden im deutschen Kaiserreich (vgl. Kapitel 5.1) Institutionen mit Selbstverwaltungsermächtigung zur Vertretung der gesellschaftlichen Interessen errichtet.

2 Die Sozialleistungsquote ist zu verstehen als der prozentuale Anteil aller Sozialausgaben (Ausgaben zur sozialen Sicherung der Bevölkerung) gemessen am Bruttoinlandsprodukt (Kaufmann 2003: S. 27)

3 Gøsta Esping-Andersen wurde 1947 in Dänemark geboren und studierte Volkswirtschaftslehre und Soziologie an der Universität in Kopenhagen und Wisconsin. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich intensiv mit der vergleichenden Sozialpolitik und etabliert darüber hinaus den Begriff der Wohlfahrtsstaatregime. (Vgl. http://www.esping-andersen.com/; letzter Zugriff am 30.05.10)

4 Der Begriff Regime bezieht sich auf die Art und Weise privater und öffentlicher Wohlfahrtsproduktion (Kaufmann 2003: S. 42ff.).

5 Thomas Marshall war ein britischer Soziologe, der insbesondere durch sein Werk Citizenship and Social Class (1947) bekannt wurde und nicht zuletzt dadurch zu einer Erklärung zur Herausbildung von Wohlfahrtsstaatlichkeit beiträgt.

6 Lebensstandard umfasst hier sowohl soziale als auch familiäre Bedürfnisse (Baum-Ceisig; Busch; Hacker; Nospickel 2008: S. 39).

7 Die Vergabe von Sozialleistungen unterliegt häufig restriktiven Regeln wie der stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung und der Abhängigkeit zu geleisteten Beitragszahlungen.

8 Unterschieden werden hier Versicherungen, die steuer- oder beitragsfinanziert sind. Ferner spielen private Versicherungen eine bedeutende Rolle, da diese häufig auf das finanzielle Wohlhaben der Personen schließen lassen.

9 Gesellschaftsübergreifende Solidarität kann verstanden werden als Aufgabe der Orientierungen nur an persönlichen Nutzen zu Gunsten von verallgemeinernden ethischen und politischen Prinzipien.

10 Ein eingeschränkter Leistungszugang zeichnet sich z. B. durch stigmatisierende Bedürftigkeitsprüfungen oder das Verteilen von Lebensmittelmarken sowie durch die Bereitstellung medizinischer Leistungen im Rahmen des Medicaid - oder Medicare -Programms aus (Ausführlicheres hierzu in Kapitel 6.2).

11 Da jedoch bspw. unter der Bush-Regierung in den vergangenen Jahren Steuersenkungen vorgenommen wurden, um die Erwerbstätigen zu entlasten, stehen nur geringe Mittel zur Finanzierung zur Verfügung. Private und kirchliche Wohltätigkeit rückt daher wieder in den Vordergrund. Der Nachteil ist allerdings, dass hier kein allgemeiner Rechtsanspruch auf eine soziale Leistung besteht, sondern man auf das Wohlwollen Einzelner angewiesen ist.

12 Das Subsidiaritätsprinzip wurde aus der katholischen Soziallehre auf den Sozialstaat übertragen und betont die Vorrangigkeit untergeordneter Instanzen wie der Familie gegenüber dem Staat (Pilz 2009: S. 101).

13 So werden soziale Unterschiede reproduziert, da Höhe und Umfang von Leistungen stets nach Einkommen bemessen werden. Parallel werden außerdem bestimmte Berufsgruppen wie Beamte oder Besserverdienende von der Beitragspflicht befreit.

14 Claus Offe studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Köln und Berlin.

15 Diese mehrdimensionale Definition des Begriffs Gesundheit wurde der Präambel der WHO im Jahr 1946 entnommen.

16 Eine intakte Gesundheit diente schon immer der Erhöhung des Arbeitsmarktwerts des Einzelnen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass höhere Arbeitskraft das wirtschaftliche Wachstum eines Staats positiv beeinflusst und der Staat somit im internationalen Wettbewerb als mächtiger wahrgenommen wird.

17 Diese sind insbesondere für die Organisation der Krankenversicherung sowie für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung verantwortlich.

18 Die fehlende Einheitlichkeit und die damit einhergehenden und teilweise enormen Unterschiede in der Bereitstellung medizinischer Leistung sowie des Leistungsumfangs lassen sich auf diese Regelung zurück führen.

Final del extracto de 68 páginas

Detalles

Título
Die US-amerikanische und deutsche Gesundheitspolitik im Vergleich
Universidad
University of Wuppertal
Curso
Examensarbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung
Calificación
1,6
Autor
Año
2010
Páginas
68
No. de catálogo
V188544
ISBN (Ebook)
9783656121596
ISBN (Libro)
9783656122616
Tamaño de fichero
1029 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
USA, Wohlfahrtsstaaten, Esping-Andersen, Gesundheitspolitik
Citar trabajo
Sarah Gey (Autor), 2010, Die US-amerikanische und deutsche Gesundheitspolitik im Vergleich, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188544

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