Der Multikulti-Diskurs. Mit einem Blick auf den Islam und Grassens Griechenland-Gedicht


Research Paper (postgraduate), 2012

48 Pages, Grade: sehr gut


Excerpt


Inhalt

1. Vorbemerkung

2. Der Multikulti-Diskurs
Veränderbarkeit tradierter Mentalitäten
Einwanderung in Sozialsysteme
Das Minarett-Verbot in der Schweiz
Der Andere und seine Alterität
Tyrannei der Tugend
Alteritäts-Toleranz
Diversität
Muslime werden Europäer
Orientalismus oder Okzidentalismus
Der religiöse Diskurs
Hier und doch nicht hier
Neueste Forschungen?
Das sog, kollektive Gedächtnis

3. Islahm
Panikmacher. Eine Streit-Rezension
Muslime und Islahm
Koran und Hitler
Burka im öffentlichen Dienst
Muslimische Azubis
Schauen wir schon wieder weg?
Denunziation
Geschichtszeichen
Islam
Islam
Dem Islam Zeit lassen, den Islam wachsen lassen
Islamistischer Terror
Keine Moscheen in Deutschland!
Schulfrei am Zuckerfest
Der islamische Orient
Eurozentrismus

4. Roma locuta, causa finita?
Zu dem „Gedicht“ eines Nobelpreisträgers
Grassens Griechenland

5. Verkehrte Welt. Eine Nachbemerkung
Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit
Zivilisation und Barbarei
Warum Denken traurig macht
Eine Welt kontroverser Positionen

6. Hinweis auf eine Neuerscheinung

1. Vorbemerkung

Gegenwärtig tummelt sich ein buntes Völkchen im öffentlichen Raum; schrill, phonetisch und semantisch, ist eine Qualität der Lebenswelt. Beispiele zu nennen ist kaum möglich, da alles im verrückten Ganzen ver-rückt ist.

Da wird mit Lärm ein Superstar gesucht, dort wird ein Bundespräsident scheinheilig betroffen und mit klammheimlicher Freude gejagt und gehetzt, so als sei noch Herbst und eine Hubertusjagd finde statt. Gibt der genervt und am Ende seiner Kräfte auf, wird der designierte Nachfolger einer medialen Inquisition unterzogen. Beleuchter haben Konjunktur, die dunkle Stellen erhellen wollen. Aber bekanntlich sind auch die Jahreszeiten schon aus dem Konzept gelaufen. Da wird in der Einkaufsmeile in Gießen eine Sprungschanze aufgebaut am verkaufsoffenen Sonntag bei gut 10 Grad plus, die Kerlchen springen dann grad mal 2,50 m. Lächerlich. Aber der Schnee wurde, Umweltkosten uninteressant, herangekarrt. Wenn es derUmsatzsteigerung dient … [ein leicht verändertes Zitat]

Das Volk fordert wie im Alten Rom Unterhaltung; damals panem et circenses, Brot und Spiele, heute mindestens Harz IV und RTL; eine mediale Meute, selbst in einem harten Konkurrenzclinch liegend, an die eigene Subsistenzsicherung denkend, die Abo-Zahlen müssen stimmen, sucht, präsentiert, inszeniert events. Fällt in den Anden ein Bus in den Abgrund mit 30 Toten, reicht das für die Tagesschau. Die verweist dann auf weitere Einzelheiten im Internet unter tagesschau.de. Ja, Gott, merkt Ihr nicht mehr, wie besoffen Ihr seid? Wo bleibt in diesem Lärm noch Zeit, den Rosenkranz zu beten J? Aber, Ihr Schreiberlinge, Ihr lebt davon. Eben, am 18. Januar 2012, wird im hessischen Fernsehen um 21.45 in der Sendung Meinungsmacher zaghaft darauf hingewiesen: dass in der Wulff-Affäre übelste Seilschaftspraktiken, Konkurrenzmechanismen am Werkeln waren.

[Der vorstehende Absatz garantiert, dass diese Publikation unbeachtet bleiben wird.]

Diese Zustände kennzeichnen heute die Alltagswelt; für der Welt der Wissenschaft gilt: hier geht es genauso zu. Es besteht eine kaum verblüffende Strukturhomologie.

Die hier versammelten Kapitel liefern eine kritische Re-Vision kultureller Rituale und Muster unserer Zeit, teils anhand der Besprechung einzelner Bücher, in denen sich diese Erscheinungen konzentriert sedimentieren.

Die gender studies dürfen noch immer als die avantgardistische Ideologie in den Kultur-, den Humanwissenschaften angesehen werden. Die, auch so genannten Geistewissenschaften, haben viele Beerdigungen überlebt: alle marxistischen Varianten sind vom wissenschaftlichen Tanzboden weg und halten sich nur noch in esoterischen, wenig lernfähigen hardliner-Zirkeln. Hierher gehört besonders die kryptomarxistische Kritische Theorie der Frankfurter Schule [Adorno u.a.]; die Dekonstruktion [Derrida] ist zur Lachnummer geworden [vgl. dazu unten], die Dislurstheorie Foucaults gilt nach der glänzenden, fundiert-soliden, vernichtenden Kritik durch Hans Ulrich Wehler[1] nur noch in Fangemeinden als Geheimtipp. Ebenso geht es der Luhmannschen Systemtheorie, die nur noch dort Akzeptanz findet, wo dogmatisch bornierte Engführungen, die doch noch im Bewusstsein der universalen Gültigkeit ihrer Ansätze leben, mutig beschritten werden.

Die vorliegende Arbeit schickt einige Methoden und Theorien wenn nicht in den Orkus des Vergessens, dann doch in die Revisionsabteilung. Hierzu gehören die genannten gender studies, die spätfeministische Sprachfolklore, sog. hermeneutische Verfahren, die Evolutionstheorie, die Anthropologie der patchwork-Familie, der Partnerwechsel-Diskurs, der Multikulturalismus, der Holocaust-Diskurs, der Atheismus-Diskurs, die Islam-Debatte. Sie alle werden fundiert kritisiert und in ihre Schranken gewiesen.

Am ehesten finde ich meine Ideen vertreten von dem Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in seinem neuen Buch La Civilisación del Espectáculo, Madrid, 2012. Jetzt deutsch: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Berlin 2012

2. Der Multikulti-Diskurs

Man muss vorwegschicken: auf diesem thematischen Feld gibt es, wie wohl immer, zwei Fraktionen: solche, für die „Integration eine Erfolgsgeschichte“ ist [vgl. Necla Kelek, FAZ vom 09.05.2011] und solche, die doch eher Probleme sehen[2]. Beide Fraktionen wollen sich mit einer glänzenden Formulierung Hegels „wechselseitig zum Nichtsein bestimmen“.

[ Anmerkung, soviel Zeit muss sein: man sieht hier ein Kasperle, das aus der Bildungskiste springt: das Kasperle heißt: Zwei Lager. Es gibt immer, ontologisch, das ist eine metaphysische Figur – die Metaphysik ist totgesagt, beerdigt, lebt aber trotzdem weiter! – es gibt immer zwei Lager, oder auch mehr, ausdifferenziert. Das zeigt eben wieder glänzend, am 06. 05. 2012 die Präsidentenwahl in Frankreich: zwei Lager, die fast gleich stark sind. Ein anderes Kapitel ist die Ausdifferenzierung; auch eine ontologisch-metaphysische Figur: die zwei Lager spalten sich auf, z.B. in verschiedene Flügel – aber das ist ein weites Feld.]

Veränderbarkeit tradierter Mentalitäten

Greifen wir wie die Pietisten in die Bibel in den Band, den wir kaum in allen Beiträgen besprechen können. Die Herausgeberin schreibt, bei den Integrationsskeptikern würden „kulturelle Eigenschaften als verankerte Normen und Werte gedacht, die sich in Mentalitäten verdichten und nicht leicht ändern lassen. Dabei ist ein zeitgemäßer Kulturbegriff genau das Gegenteil.“ [S. 19] Der letzte Satz wird richtig, wenn vor „Kulturbegriff“ das Epitheton „utopistisch“ eingefügt wird. Frau Stemmler velwechsert [ein Zitat!] hier das, was ist, mit dem, was sie gern hätte. Das Wort „zeitgemäß“ – für wen? – kann keine Begründung sein. Denn selbstredend sind „Mentalitäten“ - nicht bei allen Menschen, aber bei sehr sehr vielen, zu vielen – tief verankert und mit Gottes Hilfe nur in the long run [ein philosophischer Terminus von Ch.S.Peirce] vielleicht leicht, eher aber sehr sehr schwer zu ändern. Nicht jeder, der Messdiener war, wendet sich von der katholischen Kirche ab. Er bleibt gläubig bis ins Grab. Anthropologisch ist zwar die Saulus-Paulus-Wende vielfach belegt und bekannt; sie ist aber immer die Bewegung Einzelner. Ein eklatantes Beispiel für die Nicht- oder Sehrschwerveränderbarkeit tradierter Mentalitäten sind christianisierte Menschen. In Afrika halten sie munter und weiter an ihren nativistischen Voodoo-Kulten fest. Da passt die katholische Kommunion wie die Faust aufs Auge: Leib und Blut Jesu Christi.

Hier gilt es Ruhe zu bewahren und Richtigkeit und Wahrheit nicht in einer multikulti-Folklore untergehen zu lassen. Wer die These von der leichten Änderbarkeit kultureller Einstellungen vertritt, muss, das sollte rhetorisch so klar formuliert werden, Tomaten auf den Augen haben. So etwas gehört zur wissenschaftstheoretischen Kategorie des Unfugs [diese Kategorie habe ich schon 1985 in einer umfangreichen Schiller-Arbeit eingeführt und einigen lebenden Koryphäen der Schiller-Forschung ans Revers geklebt. Meine Analyse wurde nur wenig rezipiert].

Es gebe, meint die Leiterin des Bereichs Literatur des „Hauses der Kulturen der Welt“ in Berlin ex officio „eine statische Sicht auf ‚Identität’ – auch ein gern benutztes Schlagwort in der Integrationsdebatte. Dass jedoch die Neuankömmlinge und ihre Nachfahren die vorherigen Gesellschaften insgesamt ändern, dass also in diesem Prozess etwas Neues entsteht, von dem man vorher noch nicht weiß, was es sein wird, spielt keine Rolle“ [S.19]. Keine Rolle für die Skeptiker gelingender Integration. Weißgott, der Satz bündelt Vorurteile der Optimisten: dass die Migranten die Gesellschaft ändern, überschätzt wohl z.Zt. noch deren Einfluss, denn auch Döner und Kebab wird nur am Rande probiert und hat sich gegen MacDonalds und Burger King zu behaupten. Genau der letzte Teil des Satzes [etwas Neues entstehe, aber keiner wisse was] enthält doch genau besehen die Probleme. Die Skeptiker schlafen nicht, weil für sie das Neue genau die Scharia sein könnte.

Diese vorformatierten Phalangen [die Migration erforschenden Optimisten] brauchen eine Schießbudenfigur, einen Fuchs, den sie jagen können. Den Sündenbock haben sie in Sarrazin gefunden. Es muss im Rückblick überraschen, wie dieses Buch von höchsten Stellen, quasi Cherubim und Seraphim, wenn man mal an die himmlische Ordnung erinnert, stigmatisiert wurde, was seinen tarantelhaften Lauf erst auslöste. Sarrazin wurde medial gemacht, weil man genau eine solche Figur brauchte.

Das behauptet doch keiner, dass Ärzte, Handwerker – ich kenne einige – Dienstleister – ich kenne integrierte Makler -, Lehrer – ich habe einige geprüft -, Facharbeiter, Polizisten, Ingenieure, Rechtsanwälte, Geistliche etc. mit ausländischen Wurzeln Probleme darstellen – es sei denn, sie schicken ihre Mädchen zur Beschneidung in die alte Heimat oder sie verheiraten sie mit Zwang.

Einwanderung in Sozialsysteme

Es geht doch um die Problemfälle und Problemzonen, etwa um die Einwanderung in Sozialsysteme, die ein Bremer Prof beschrieben hat. Es geht darum, dass die selbsternannten Migrationsforscher eine Reihe von Stimmen nicht wahrnehmen, die ruhig auf die Probleme eingehen: Klaus von Dohnanyi in einem glänzenden SPIEGEL-Essay [18, 2011, S.22ff.], in einem ebenso glänzenden von Monika Maron, Helmut Schmidt in seinem neuen Buch „Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung“, Berlin 2011 und viele andere.

Man wird den Migrationsforschungen nicht ein hohes Niveau absprechen wollen, man vgl. etwa den sehr soliden Beitrag von Ruud Koopmann S.122ff., aber, es bleiben Forschungen ideologie- und weltanschauungsbelastete Arbeiten auf zweiter Stufe. Niemand fragt, warum diese Leute hierher kamen und in ihrer Heimat nicht bleiben. Dabei darf man an die postkolonialen Sklaven nicht denken, die als hochqualifizierte Arbeitskräfte von einer citius-altius-fortius-Industrie hereingewunken und klugerweise gut versorgt werden [wer zufrieden ist, weil er gut verdient, arbeitet motivierter, als jemand, der mit der Peitsche angetrieben werden muss]. Niemand sagt, dass in den Heimatländer dieser armen Menschen hochschwierige wirtschaftlich-soziale Zustände vorliegen, dass einheimische Despoten Milliarden ins Ausland schaffen, statt ihren Landsleuten zu helfen. Soweit ich mich erinnere haben selbst hochdekorierte Personen Dreck am Stecken. Die deutsche sog. Migrationsforschung forscht über Probleme in Deutschland, statt über die Situation in den Herkunftsländern nachzudenken, die diese Probleme bei uns erst möglich machen[3].

Übrigens: wer über Integration heute redet, sollte die Deutschen Lektionen. Ein Lesebuch für Alle, die’s wissen wollen, tacheles getaktet! Lesen. Ein Vorabdruck:

Für die, die von Integration reden

Früher gab es in Deutschland Dörfer, in denen die eine Hälfte der Einwohner katholisch war, die andere Hälfte evangelisch.

Die Katholischen waren im Männergesangverein „Liederkranz“, die Evangelischen, Männer und Frauen gemischt, in der „Chorvereinigung“.

Wenn die Fronleichnamprozession durchs Dorf ging – alle hatten schul- und arbeitsfrei und so freuten sich wohl auch die Evangelischen – waren doch deren Fensterläden geschlossen, die Häuser der Katholischen aber geschmückt.

Heiraten zwischen beiden Bevölkerungsteilen des Dorfes gab es selten, kaum, nie. Das wären Mischehen gewesen, die Esra und Nehemina schon im Alten Testament verdammen[4]. Man lebte im Alltag nebeneinander her ohne Probleme. Es gab auch einen katholischen und einen evangelischen Metzger.

Es waren parallele Gesellschaften.

Das Minarett-Verbot in der Schweiz

Greifen wir einen Beitrag heraus. Buber-Rosenzweig-Preisträger Navid Kermani beschäftigt sich mit dem Minarett-Verbot in der Schweiz. Er sieht darin einen „Angriff auf Europa“. Er prognostiziert, dass der Europäische Gerichtshof die Schweizer Ohren lang ziehen wird.

Das dürfte die mainstream-Meinung sein.

Ein Philosoph, der kaum zum Stammtisch geht, das Ganze aber gern ganz ausleuchten will, hat Fragen: gibt es ein völker-, menschenrechtlich verbürgtes Recht auf Niederlassungsfreiheit? Darf jeder, wenn und wann er will, dahin ziehen, wohin er will? Hat eine Kommunität nicht das Recht zu sagen: wir möchten keine Jeans, wir tragen lieber Lederhosen?

Jedenfalls ist das, was Kermani schreibt und fordert eine Korrektur demokratischer, sogar basisdemokratischer Prinzipien: die Mehrheitsmeinung soll nicht gelten. Natürlich zieht Kermani einschlägig bekannte Argumente oder Behauptungen, die den Button Argument tragen, heran: die Mehrheit sei manipuliert, Hetzkampagnen hätten das recht urteilsschwache Alpenvölkchen in die falsche Position getrieben. Diese Leutchen wissen nicht, was sie wollen sollen.

Das kann man mit Fakten zweifellos belegen, dass Kampagne war. Allerdings bleibt die Vernutung stark, diese Schweizer hätten ihre Meinung schon vorher fix gehabt.

Was Kermani philosophisch gesehen [die juristische Situation ist für diese Perspektive zweitrangig] einfordert, ist eine Erziehung, wenn nicht des Menschengeschlechts [Achtung! Ein Plagiat!], so doch der Schweizer, die ihre Frauen früh studieren aber erst spät an die Wahlurnen ließen. Sie sollen die Tyrannis der Tugend erleben. Du Schweizer musst bereit sein, Migration zuzulassen, du musst die Fremden willkommen heißen und wenn die Leute da sind, dürfen sie, auch weil Freiheit der Religion ist, Minarette bauen [wenn die Statik stimmt und sie die Rechnungen bezahlen ☺].

Die Schweizer freilich zeigen sich z.Zt. recht erziehungsresistent.

Wo ist, Navid Kermani, in einer ausdifferenzierten Postmoderne, in der Gegenwart, die Instanz, die plausibel [nicht legal oder legitim] begründet, warum die Schweizer nicht verbieten dürfen?

Religionsfreiheit ist nicht das Thema; das ist die zweite Stufe. Thema ist Niederlassungsfreiheit, das blendet Kermani diskret weg. Die Schweizer wollen keine Minarette, weil sie keine Muslime wollen.

Der Andere und seine Alterität

So nicht wird ein ruhiger Beleuchter der Szene, der den Schauplatz des Lebens erhellt, hier bemerken: es geht immer auch darum, den Anderen in seiner Alterität zu bemerken. Hier ruft der Schweizer: ich bin der Andere! Die Bergbauern und Bankengurus kriegen nämlich einen dicken Hals, wenn sie als dogmatische Calvinisten oder als Schweizer body Garde des Heiligen Vaters an die Behandlung der Christen im arabischen Raum denken. Diese Sorge um die Glaubensgenossen kann man so nicht wegputzen, wie Kermani das tut [S. 202]. Hier hilft kein Buber-Rosenzweig-Preis. Hier helfen nur scheuklappenfreie Betrachtungen.

Was altmodische Weltanschauungen angeht, etwa die Positionen Schweizer Minarett-Gegner, die als Europäer Muslime hier nicht haben wollen, so darf man erinnern: im kollektiven Gedächtnis dieser Leute ist als Feindbild verankert ein Islam, der aggressive Expansion macht, Wien erobern will. Das weiß der Einzelne, weil er z.B. historisch ungebildet ist, überhaupt nicht. Und doch ist es modern neurobiologisch formuliert, epigenetisch wirksam.

In bestimmten modernen Diskursen, etwa bei den gender-Leuten, spielt der Begriff Verletzbarkeit eine Rolle. Besonders Minderheiten fühlen sich vielfach verletzt. Hier gilt: der gute und böse Schweizer Bergbauer fühlt sich verletzt durch Leute, die ungerufen, einfach kommen, dann da sind, vielleicht ihre Töchter beschneiden und eine Mentalilität mitbringen, die bedenklich ist, etwa von Demokratie nicht viel halten [wie neueste Befragungen im nordafrikanischen Raum zeigen], die ihre Länder flüchtend ver- und Despoten überlassen, ihre Heimat feige verraten. Das bessere Leben dem Kampf für eine bessere Welt vorziehend.

Kermani verlangt, dass eine demokratisch legitimierte Entscheidung autonomer Subjekte, die ihre zivile Lebenswelt selbst regeln wollen, als ungültig erklärt wird; vorher ist es gut, sie als inszeniert, populistisch, borniert, älplerisch-hinterwäldnerisch - in einer Schmähkritik s.u. ☺ - anzuprangern. Er sagt, wie schon Schiller im „Demetrius“: Mathematik ist nicht durch Mehrheitsentscheidungen machbar, nur durch vernünftig-logische Argumente. Kein demokratisch legitimiertes Parlament dieser Welt, auch kein basisdemokratischer Volksentscheid, kann durch Mehrheitsbeschluss 5 zu einer geraden Zahl machen. Das gelingt nur einzelnen Lebenskünstlern.

Was heißt das für das – verachtenswerte – Verbot, Minarette zu bauen? Man muss mit der Fuchtel der Moralität kommen[5].

Tyrannei der Tugend

Kermani installiert eine Tyrannei der Tugend, wenn ich nicht irre, Gott, denk daran, dass das ein Zitat ist, bei Karl May, wenn ich nicht irre, wollte das schon Robespierre. Der gute Schweizer Bergbauer, im steilen Hang sein Brot verdienend [vgl. Albrecht von Haller, Die Alpen ], der Goethe und seine Freunde mit Steinen bewarf, weil sie nackt im See badeten, der gute Bergbauer hat Latein gelernt: principiis obsta. Jetzt das Minarett, dann vier Frauen, dann kein Wein mehr. Die freie Ausübung der Religion macht’s möglich.

Die Situation ist, dass die sog. Migrationsforscher unausgesprochen eine Prämisse haben, die selbst nicht reflektiert, problematisiert wird: vorausgesetzt wird ein universelles Menschenrecht auf Migration, eine uneingeschränkt geltende Freiheit der Niederlassung. Das haben wir doch am damals real existierenden Sozialismus so kritisiert: dass er seine Genossen nicht hat in die Fremde reisen lassen.

Ein Großteil der Menschenrechtsforscher kann indes nur ein vielfältig eingeschränktes Recht auf Asyl für Verfolgte erkennen. Deshalb schotten die so oft als vorbildlich angesehenen USA sich gegen Lateinamerika ab [von Israel wollen wir nicht reden]. Für dieses demokratiestaatliche Verhalten wird eine pragmatische Begründung geliefert: ein Land mit offenen Grenzen bräche in überschaubar kurzer Zeit ökonomisch zusammen. Spanien, das z.Zt. gegen 25% Arbeitslose zu versorgen hat [und einen kranken König], kann afrikanische Menschen nicht gebrauchen. Auch für Griechenland, in Athen sollen 250 000 Illegale zu leben versuchen, dürfte die Aufnahmekapazität erschöpft sein.

[Übrigens: das Minarett ist lösbar! Tariq Ramadan weiß es: man solle „nach deutschem beziehungsweise europäischem Stilempfinden“ bauen. „Man muss ja keine Moschee in Deutschland bauen, als ob sie in der Türkei oder Marokko stünde, sie sollte so aussehen, dass sie zu ihrem Umfeld passt“ S. 268].

Alteritäts-Toleranz

… ist ein völlig blödes Wort, das übergebildete Klugscheißer eingeführt haben. Das lateinische alter heißt auf deutsch der Andere. Dem guten Deutschen ist seit 1945 eine Haltung implantiert: ja nicht den Anderen in seiner Andersheit verletzen, kränken. Eine vornehme Zurückhaltung ist ín als Folge eines überschäumenden gegenteiligen Verhaltens in den davor liegenden 1 000 Jahren.

Die Alteritäts-Toleranz [Gott, die Duldung aller Abweichungen] wirkt auf Dauer kontrafaktisch. Das ist gesunden Ohren zu schrill, was da schon immer klammheimlich und immer öfter lauthalser [J die Steigerung gibt es gar nicht]. Wir brauchen ein Wert-System, wie die Ritter im Mittelalter ein ritterliches Tugendsystem hatten und das ist nicht kompatibel, verträglich mit allem.

Diversität

Klar wird in den Beiträgen dieses Sammelbandes, das multikulti-Konzept hat ausgedient; ein neues Konstrukt hat seine Stelle eingenommen, Diversität ist das Zauberwort; alle sind anders, es gibt nur Andere, nur Minderheiten.

Die Antwort auf dieses Konzept kennt der Stammtisch; dort wird die Fabel von Mensa, Kantine und anderen öffentlichen Verpflegungsstellen erzählt: ein Berliner muslimisches Mädchen sagt: „Ich ekle mich vor Schweinefleisch und vor Schweinefleischessern!“

OK, gut, das schafft man: Essen für Vegetarier, Essen für Fleisch[fr]esser. Was passiert, wenn in unserer multikulti-Gesellschaft die Nicht-Schweinefleischesser den Schuh ausziehen und auf den Tisch kloppen?

Da wollen die das und das die; Chaos als wahrscheinliche Wirklichkeit. Multikulturelle Kantinen, Mensen, koscher, muslimisch, vegetarisch, doll, veganisch, eine riesige Bereicherung unserer Lebenswelt, endlich mal nicht nur Haxe und Sauerkraut, …, … und alles in getrennten Räumen; bei Schweeinefleischgeruch stockt manchem der Atem.

Man darf behaupten: eine Sprache wird unbrauchbar, wenn sie strikt sog. männliche und weibliche Formen [Bürgerinnen und Bürger] jeweils nennen will. Eine Gesellschaft, so darf man in Analogie vermuten, wird zerbrechen, wenn die diversifizierten Einzelnen ihre je eigene Kulturalität und Zivilisation als ihr Lebensrecht einklagen; eine Folge: eine – sehr erwünschte – Vermehrung der Feiertage.

Ein ganz wichtiger Satz dazu wird von einem kongolesischen Deutschen gesprochen: „Wilfried N’Sondé sagt: „Es kann sein, dass die Situation in Deutschland gar nicht so schlimm ist [ ] Man müsste mal schauen, wie Fremde im Kongo, in Libyen, in Kamerun, in Johannesburg behandelt werden – dagegen ist Deutschland ein Musterland“, S. 257.

Muslime werden Europäer

Man darf unterstellen, dass Navid Kermani und viele weitere Beiträger dieses Bandes ihren Tag beginnen mit der Lektüre von Schillers „Ode an die Freude“ und sich deren Vertonung durch Beethoven in der 9. Sinfonie anhören:

Bettler werden Fürstenbrüder [1. Fassung]

Alle Menschen werden Brüder [erzwungene 2. Fassung]

Muslime werden Europäer [3. zeitgemäße Fassung]

Und, noch ganz vergessen, die gender-Keule schlägt zu:

Alle Menschen werden Schwetsern!

Das ist schön, das ist gut, das gilt seit 200 Jahren, aber es ist Sonntag. Der Werktag sieht anders aus.

Kermani redet von etwas, das so klingt, als habe Kant es entworfen, nachdem er die Abfassung der Schrift „Zum ewigen Frieden“ beendet hatte.

Das „europäische Projekt“ ist voller Utopie, voller Leerstellen, große Teile sind Wunsch nicht Wirklichkeit, große Teile der Menschen Europens sind [wer will: leider] so weit noch nicht.

Sie sind evolutionär rückständige Varianten, aber es geht nicht, diesen evolutionär vernachlässigten Modelle aufzuschwätzen, die sie nicht verstehen und nicht akzeptieren. Kermani gebraucht auch das Wort „Überzeugungsarbeit“, auf denn und Glück zu, fangen Sie mal damit an! Am besten bei den Salafisten.

Eben, Anfang 2012, wird deutlich, dass der Arabische Frühling vielleicht, wenn’s hoch kommt, 30% moderne Menschen, demokratisch Rationale geoutet hat, der Rest ist Mittelalter.

Wer genetisch – und wir glauben doch, jedenfalls, wenn’s passt, an die moderne Neurobiologie, die freilich, wenn’s nicht passt als biologistisch abgestraft wird – nicht so weit ist, wird sich nicht motivieren, nicht mobilisieren lassen.

Orientalismus oder Okzidentalismus

Immer wieder gibt es bemerkenswerte Positionen: „Im Grunde geht es zunächst gar nicht darum, etwas über die Anderen zu lernen, es geht vielmehr darum, etwas zu verlernen oder bewusst zu ‚entlernen’ – nämlich die eigenen Bestände an ‚rassistischem Wissen’ oder die eigenen ‚kulturellen Kurzschlüsse’. Es sollte deutlich werden, dass die eigene Position gegenüber den anderen keineswegs objektiv ist“ [226].

Was ist hier objektiv? Die Position des Anderen? Edward Said winkt von fern; er ist leider verstorben, so dass er das Pendant zu seinem Buch „Orientalismus“, nämlich „Okzidentalismus“ – was denkt der Orient vom „Westen“ – nicht mehr schreiben kann. Warum sind die Bestände des Einen „rassistisch“ und „kulturelle Kurzschlüsse“? Ist es völlig abwegig zu vermuten, die Position des Anderen könnte auch mal rassistisch und kurzschlüssig sein? Gegen solche Sätze, wenn ich sie denn richtig verstehe, sind andere zu setzen: hinzuweisen ist auf, einzuklagen ist ein Recht des Einen, die Position des Anderen, seine Alterität, zu prüfen. Muss ich, was anders ist, nur weil es anders ist, akzeptieren? Muss ich in Deutschland einen Japaner durch Verbeugung grüßen, eine Polin mit Handkuss, einen Maori mit Nasereiben, bei einer Muslimen sowieso keine Hand geben und den Blickkontakt vermeiden? Muss ich mir völlig verschleierte Burka-Frauen ansehen, die wie menschliche Panzer aussehen? Wie weit geht die allseits herbeigerufene Toleranz im Alltag?

[...]


[1] Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München 1998

[2] Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, hrsg. von Susanne Stemmler. Eine Publikation des Hauses der Kulturen der Welt, broschiert, 336 Seiten mit 10 Abbildungen, ISBN: 978-3-8353-0840-4, bei Wallstein 2011.

[3] Im Januar 2012 berichtet die solide Pressse, dass aus Aufrika pro Jahr 50 Milliarden Dollar oder Euro – was soll’s – in sichere Länder geschafft werden.

[4] Wie immer: vgl die entsprechenden Partien meiner Bibel-Darstellung, für die Gebildeten unter ihren Verächtern.

[5] vgl. dazu sehr deutlich Menke/Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, hier bes. S. 68f.

Excerpt out of 48 pages

Details

Title
Der Multikulti-Diskurs. Mit einem Blick auf den Islam und Grassens Griechenland-Gedicht
College
Justus-Liebig-University Giessen
Grade
sehr gut
Author
Year
2012
Pages
48
Catalog Number
V200471
ISBN (eBook)
9783656316077
ISBN (Book)
9783656318712
File size
793 KB
Language
German
Notes
Die Arbeit untersucht eingespielte Vorurteile, Positionen, die nicht mehr hinterfragt werden, aber bei genauer Prüfung bedeutende Problemzonen aufweisen.
Keywords
Multikulti, Diversität, Islam, Minarett-Verbot in der Schweiz
Quote paper
Prof. Dr. Erwin Leibfried (Author), 2012, Der Multikulti-Diskurs. Mit einem Blick auf den Islam und Grassens Griechenland-Gedicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/200471

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