Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Sigmund Freuds “Das Unbehagen in der Kultur”
2.1 Darstellung
2.1.1 Natürlichkeit der Sexualität
2.1.2 Der Antagonismus von Kultur und Sexualität
2.1.3 Unterdrückung der Sexualität auf individueller Ebene
2.1.4 Unterdrückung der Sexualität auf gesellschaftlicher Ebene
2.1.5 Zusammenfassung
2.2 Historische Verortung
3. Michel Foucaults Kritik der Freud'schen Repressionshypothese
3.1 Darstellung
3.1.1 Erschöpfende Diskursivierung der Sexualität
3.1.2 Gegenseitige Stimulation von Sexualität und Macht
3.1.3 Zusammenfassung
3.2 Stellenwert der Repressionshypothese im Werk von Foucault
3.2.1 Foucaults Machtbegriff
4. Fazit
5. Literatur
1. Einleitung
Die sexuelle Revolution der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde weitgehend als Befreiung der Sexualität aufgefasst: Erst jetzt fielen die letzten Bastionen der viktorianischen Sexualunterdrückung. Diese Analyse kann sich auf die Arbeiten des Begründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, stützen, die beschreiben, wie die Sexualität seit dem 18. Jahrhundert unterdrückt wurde.
Der Anthropologe Michel Foucault bezeichnet Freuds Ansicht als „Repressionshypothese“ und kritisiert diese in seinem 1976 in Frankreich erschienenen Werk „Der Wille zum Wissen“ vehement. Foucault orientiert seine Analyse nicht an der Repression, sondern fragt nach den Machtmechanismen, die den Diskurs Sexualität prägen. Foucault beschreibt, dass der Wandel von der vermeintlichen Unterdrückung der vergangenen Jahrhunderte hin zur vermeintlichen sexuellen Befreiung vielmehr ein Wandel der Kontrollmechanismen war: Die Kontrolle über die individuelle Sexualität sei nicht länger eine Kontrolle von außen gewesen, sondern hätte eine Subjektivierung erfahren. Absicht und Folge der offiziellen Redeverbote sei nicht die Unterdrückung der Sexualität gewesen, sondern die intensive Diskursivierung dieser. Somit sei die von Freud beschriebene Repression historisch nicht evident. Vielmehr sei selbst die kritische Auseinandersetzung mit der Unterdrückung der Sexualität Teil des von der Macht beabsichtigten Diskurses. Zudem versteht Foucault die Macht nicht als ausschließlich repressiv, sondern beleuchtet auch ihre produktive Wirkung.
Um diese Überlegungen zu verdeutlichen, soll im Folgenden die Repressionshypothese am Beispiel von Freuds „Unbehagen in der Kultur“ (1930) und ihre Kritik durch Michel Foucault dargestellt werden.
2. Sigmund Freuds “Das Unbehagen in der Kultur”
Im Zentrum der Freud'schen Repressionshypothese steht die Annahme, dass die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft nur durch die Unterdrückung der Sexualität möglich ist. Die Funktion der Unterdrückung sei somit eine zivilisatorische. Diese Annahme konkretisiert er auf individueller Ebene (Sublimierung, Über-Ich) und auf gesellschaftlicher Ebene (Kultur).
Somit geht die These, dass die Sexualität in der Kulturgesellschaft unterdrückt werde, bei Freud mit folgenden Annahmen einher:
Zum einen unternimmt sie eine Naturalisierung der Sexualität, die im triebgesteuerten Es Gestalt annimmt.
Zum anderen beschreibt sie einen Antagonismus von Sexualität und Kultur: Die Entstehung und das Bestehen der Gesellschaft sei erst durch Triebunterdrückung möglich. Dies erfordere die Unterdrückung der Sexualität sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene.
In ihrer Rolle als Gegenspielerin der Sexualität beschreibt Freud die Kultur als handelndes Subjekt, das eigene Interessen verfolgt.
2.1 Darstellung
Zu Beginn von „Das Unbehagen in der Kultur“ widmet sich Freud der Religiosität, wie sie der Schriftsteller Romain Rolland beschrieben hatte: Als ein „Gefühl […] von etwas […] ‚Ozeanischem‘“ (Freud 1930, S. 422). Die hier beschriebene Macht ist alleine vom individuellen Streben nach Glück geprägt, somit eine narzisstische. Dieser Form der Macht widmet er sich jedoch nur zu Beginn seines Werks. Im Folgenden geht er über zu einem repressiven Machtbegriff.
2.1.1 Natürlichkeit der Sexualität
Freud entwirft den Menschen als ein mit zwei Grundtrieben ausgestattetes Wesen: Dem Liebes- und dem Todestrieb. Der einzelne Mensch strebe primär nach Triebbefriedigung. Erst durch das Bilden einer Gemeinschaft beschränkten sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft in ihrer Triebbefriedigung. Dies bezeichnet Freud als „entscheidende[n] kulturelle[n] Schritt“ (Freud 1930, S. 455). Jedoch gehe ein Mensch nie vollkommen in der Gemeinschaft auf, vielmehr verteidige er zeit seines Lebens seine „individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse“ (a. a. O., S. 456).
Freud verweist auf die Bezeichnung „Analcharakter“ (ebd.) für einen ordnungsliebenden, sparsamen und reinlichen Menschen. Da diese Eigenschaften als „Kulturansprüche“ (a. a. O., S. 457) gälten, obwohl sie keines der beiden Ziele der Kultur verfolgten (Kultur als etwas, das den Menschen vor der Natur schützt und das menschliche Zusammenleben regelt), diagnostiziert er eine Parallelität von kultureller Entwicklung und Libidoentwicklung.
2.1.2 Der Antagonismus von Kultur und Sexualität
Die Kultur erfordere nicht nur eine Sublimierung der Triebe, sondern habe die Unterdrückung der Triebe zur Voraussetzung. Diese „Kulturversagung“ (a. a. O., S. 457) ist Kern der Repressionshypothese, die Freud hier umreißt.
In dieser Unterdrückung sieht er die Ursache der „Kulturfeindlichkeit“ (a. a. O., S. 445) – der Unmut des Individuums über die Kultur. Diese Unterdrückung sei gefährlich, wenn sie keine Kompensation erfahre. Freud fragt hier, welche Umstände diese Repression der Triebe ermöglichten. Zunächst möchte er untersuchen, wodurch der Kulturprozess eingeleitet wurde und welchen Einflüssen er ausgesetzt war:
Als „Keimzelle der Kultur“ (a. a. O., S. 473) betrachtet Freud die Familie. Den Ursprung der Familie datiert er auf die Zeit des archaischen Homo sapiens. Ursache der polygynen Familiengründung sei der Sexualtrieb des Männchens, welches die begehrten Sexualobjekte jederzeit in Greifweite haben wollte. Ausgelöst worden sei dieser permanente Sexualtrieb durch die Sichtbarkeit der Geschlechtsorgane, die mit dem „[Entschluss] zum aufrechten Gang“ (a. a. O., S. 459) einhergegangen sei. Diese Sichtbarkeit sei somit nicht nur der Ursprung des Schamgefühls, sondern auch des Kulturprozesses (dessen erster Schritt nach Freud die Bildung einer Gemeinschaft ist, s. o.). Ein wichtiger Schritt im Kulturprozess sei die Überwältigung des Urvaters durch die Söhne gewesen, die bei diesem Ereignis die Überlegenheit der Gruppe gegenüber dem Einzelnen erfahren hätten. Das Bestehen der Gemeinschaft sei Freud zufolge von da an durch die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit und durch die sexuellen Bedürfnisse der Männer gesichert gewesen. Mütter hingegen seien in der Gemeinschaft geblieben, weil sie ihre Kinder nicht missen wollten.
Die beiden letzten Punkte subsumiert Freud unter dem Begriff „Liebe“ (a. a. O., S. 460), letzteren bezeichnet er als „zielgehemmt“ (a. a. O., S. 461). Obwohl die Liebe in ihrer geschlechtlichen Form einem Menschen die stärkste Befriedigung verschaffen könne, setze sie doch voraus, dass man sich von jemandem abhängig mache, der der Außenwelt angehört. Diese Abhängigkeit berge eine immense Gefahr in sich, der es aus dem Weg zu gehen gelte. Schutz vor etwaigen Enttäuschungen böte die Verteilung der Liebe auf alle Menschen gleichermaßen. Außerdem sei dem Sexualtrieb nur in seiner „zielgehemmten“ (ebd.) Form nachzugeben.
Die Kultur sei somit liebesfeindlich, während die Liebe wiederum den Interessen der Kultur widerstrebe: Zunächst widersetze sich die durch Liebe verbundene Familie in der größeren Gemeinschaft aufzugehen. Das Bilden großer Einheiten sei hingegen ein Hauptziel der Kultur. Des weiteren betrachtet Freud die Frauen als Verfechterinnen eines ausgeprägten Sexuallebens. Durch ihre unablässigen Forderungen nach ebendiesem träten sie in Wettstreit mit der Kultur um die libidinösen Energien der Männer. Dieser Konflikt untermauere die Kulturfeindlichkeit der Frauen.
Die Kultur wiederum enge die Liebe durch Tabuisierung, Verbote und sittliche Verurteilung ein. So sei etwa das Inzestverbot die „vielleicht […] einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat“ (a. a. O., S. 463).
Freud sieht einen „Zwang der ökonomischen Notwendigkeit“ (a. a. O., S. 464) zur Auseinandersetzung von Kultur und Sexualität, da beide um die psychische Energie des Menschen konkurrieren. In diesem Wettstreit habe die Kultur zwar die Oberhand, müsse die Sexualität aber unterdrücken und streng überwachen, um sie im Zaum zu halten. Bereits in frühester Kindheit werde die Sexualität von der Kultur verpönt und somit in ihre Schranken gewiesen. Des weiteren lenke die Kultur die Sexualität in enge Bahnen, indem sie nur heterosexuelle Beziehungen zulasse und nur bestimmte Arten der sexuellen Befriedigung zulasse. Diese müssten in der Kulturgesellschaft ausschließlich genitaler Natur sein und sich ausschließlich in der monogamen Ehe abspielen. Einziges Ziel dieser von der Kultur erwünschten Sexualität müsse stets die Vermehrung sein.
Freud zufolge gehe die Kultur sogar noch einen Schritt weiter: Sie leugne die diversen Restriktionen, die sie der Sexualität auferlege.
Die Einhaltung der diversen Restriktionen des Sexuallebens schätzt Freud als unmöglich ein. Daher habe sich „die Kulturgesellschaft […] genötigt gesehen, viele Überschreitungen stillschweigend zuzulassen, die sie nach ihren Satzungen hätte verfolgen müssen“ (a. a. O., S. 465). Er betont jedoch, dass die restriktive Grundhaltung der Kulturgesellschaft dennoch keinesfalls harmlos sei: „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion“ (ebd.). Somit sei die Sexualität nicht länger Hauptquelle des von Freud als „Lebenszweck“ (ebd.) beschriebenen Glücksgefühls. Freud gibt jedoch einschränkend zu bedenken, dass es nicht gesichert sei, ob allein der Einfluss der Kultur die sexuelle Befriedigung einschränke, oder ob es im Wesen der Sexualität selbst läge, dass sie sich als Folge des aufrechten Gangs zurückbilde und es zu „Sublimierungen und Libidoverschiebungen“ (a. a. O., S. 466) käme.
Um die mangelnde sexuelle Befriedigung zu kompensieren, schüfen sich die Betroffenen „Ersatzbefriedigungen“ (ebd.), die jedoch oft weitere Leiden mit sich brächten. All diese Widrigkeiten ließen sich Freud zufolge umgehen, wenn die Kultur nicht mehr gegen die Sexualität agierte. Er skizziert das Ideal einer sexuell ungehemmten Gesellschaft, die sich aus vielen Liebespaaren zusammensetze. Jeder Mensch würde sexuelle Befriedigung innerhalb der Partnerschaft erfahren und verfüge gleichzeitig über ausreichend überschüssige Energie, die ihn zur Zusammenarbeit mit Menschen außerhalb dieser Partnerschaft befähige. Die Realisierung dieser Idealvorstellung einer Gesellschaft, in der Kultur und Sexualität harmonisch koexistierten, werde jedoch von der Kultur vereitelt.
Freud möchte den Hinderungsgründen auf die Spur kommen und stößt auf den Aggressionstrieb, den „Hauptvertreter des Todestriebes“ (a. a. O., S. 481) – neben dem Eros der zweite Grundtrieb des Menschen. Diese Neigung zur Aggression bedrohe das Fortbestehen der Gesellschaft permanent: „[T]riebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen“ (a. a. O., S. 471). Um dieser Zerstörung entgegenzuwirken, sei die Einschränkung der Sexualität und die Erschaffung zielgehemmter libidinöser Beziehungen in Form von Freundschaften zwingend. Nichtsdestotrotz bilde die Aggression den „Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind“ (a. a. O., S. 473). Den allgegenwärtigen Aggressionstrieb nicht zu befriedigen, sei daher nahezu unmöglich. Ein Ausweg aus diesem Dilemma böten kleine Kulturkreise, die aggressive Handlungen an Angehörigen anderer Kulturkreise zuließen. Freud nimmt an, dass es möglich sei, fast beliebig viele Menschen miteinander zu verbinden, solange die Möglichkeit bestünde, Aggressionen an Außenstehenden auszulassen. Ein gemeinsames Feindbild stärke das Kollektiv.
Beide, der Sexualtrieb und der Aggressionstrieb, würden von der Kultur derart im Zaum gehalten, dass es nicht erstaunlich sei, dass die Mitglieder der Kulturgesellschaft nicht glücklich seien. Im Zuge der Entwicklung vom Urmenschen zum Kulturmenschen wäre ein Stück Glück in Form von uneingeschränkter Triebbefriedigung gegen ein Stück Sicherheit eingetauscht worden. Diese Sicherheit garantiere allen Menschen gleichermaßen Schutz und ein geringes Maß an Triebbefriedigung.
2.1.3 Unterdrückung der Sexualität auf individueller Ebene
In seinen Ausführungen zu den „Ichtrieben“ (a. a. O., S. 476) und den „Objekttrieben“ (ebd.) bezieht sich Freud auf Friedrich Schiller, der den Hunger und die Liebe als Antriebskräfte des menschlichen Handelns bezeichnete. Aus dem Kampf des Selbsterhaltungstriebs gegen die Libido gehe zwar ersterer als Sieger hervor, dennoch bringe der Konflikt und die damit einhergehenden Einschränkungen die Neurose mit sich. Der Sinn der Kulturentwicklung sei es, uns den „Kampf zwischen Eros und Tod, Lebenstrieb und Destruktionstrieb“ (a. a. O., S. 481) zu zeigen, den „Lebenskampf der Menschenart“ (ebd.).
Darüber hinaus fragt Freud nach den Mitteln, mithilfe derer sich die Kultur gegen die Zerstörung durch den menschlichen Destruktionstrieb wehrt. Der wichtigste Mechanismus richte die Aggression gegen das Ich selbst. Hier werde die Aggression vom „Über-Ich“ (a. a. O., S. 496) verwaltet, das sie als Gewissen über die „Handlungen und Absichten des Ichs“ (ebd.) wachen und urteilen lasse. Ziel sei es, den Aggressionstrieb nicht an anderen Individuen zu befriedigen, was eine Zerstörung der Kultur mit sich brächte, sondern ihn mittels des Über-Ichs am Ich auszulassen. Die Kontrolle des Über-Ichs äußere sich im Schuldbewusstsein, das mit dem Bedürfnis der Selbstbestrafung einhergeht. Das Schuldbewusstsein sei demzufolge das trojanische Pferd in uns, das uns im Auftrag der Kultur schwächt.
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