Die Rolle der Hisbollah im politischen System des Libanon. Zwischen Konflikt und Kooperation


Bachelor Thesis, 2010

43 Pages, Grade: 2,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Einordnung: Gesellschaftlicher Diskurs und wissenschaftliche Theorie
1.2. Methode
1.3. Struktur der Arbeit

2. Rahmenbedingungen
2.1. Politisches System
2.1.1. Problematiken
2.2. Entstehungskontext

3. Zwischen Konflikt und Kooperation
3.1. Ideologie
3.2. Organisationsstruktur
3.3. Die Hisbollah als Akteur des Widerstandes
3.3.1. „Speerspitze des nationalen Widerstandes“ im Sommerkrieg
3.3.2. Terrorismusvorwurf
3.4. Rolle in Parlament und Regierung
3.4.1. Opposition
3.4.2. Regierungsbeteiligung: Zwischen Zwang und Politisierung
3.4.3. Krise der Regierungskoalition
3.4.4. 2006: Paralyse libanesischer Institutionen
3.4.5. Einheitsregierung
3.4.6. Neuauflage des „Open Letter“
4. Schlussbetrachtungen

4.1. Zusammenfassung
4.2. Fazit

5. Bibliographie
5.1.Literatur
5.2. Internetquellen:

1. Einleitung

Am Ostufer des Mittelmeeres wird seit einigen Jahrzehnten „Die Reise nach Jerusalem“ in furchterregender und fürchterlicher Wirklichkeit gespielt. Wenn die Musik der Diplomatie abbricht, dann wird der Kampf um die Stühle mit der Waffe ausgetragen.1

Diese Worte wählte Theodor Hanf 1990 als Vorbemerkung zur Genese des Libanonkonfliktes in seinem Buch „Koexistenz im Krieg - Staatszerfall und Entstehung einer Nation im Libanon“. Zwanzig Jahre später wähle ich dieselben Worte zur thematischen Einleitung vorliegender Arbeit, weil sie nicht nur die Entstehungsbedingungen der Zweiten Libanesischen Republik auf treffende Weise schildern, sondern auch die Atmosphäre, in der sich ein Akteur konstituierte, der sie später maßgeblich mitgestalten sollte: Die Hisbollah (arab.: Hizb Allah, dt.: Partei Gottes). Beim „Kampf um die Stühle“, der im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990 auf libanesischem Boden durch externe und interne Konfliktparteien ausgetragen wurde, tat sie sich als Organisation des Widerstandes gegen Israel und seine westlichen Verbündeten hervor, während eine staatliche Ordnungsmacht de facto nicht existierte2. Nach Kriegsende rückte die Hisbollah als bewaffnete Miliz ins Interesse der Weltöffentlichkeit3. Attentate auf westliche Botschaften, der Kampf gegen die israelische Armee und ihre Propagierung eines islamischen Staatswesens dominieren auch heute das Bild der Partei Gottes in westlichen Köpfen und Medien. Unberücksichtigt bleibt dabei oft ihre Rolle als politischer Akteur im Libanon. Hier scheint sie weit verbreitete Legitimität zu genießen. Straßenplakate mit dem Konterfei ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah zieren sowohl in Beiruter Stadtvierteln als auch entlang abgelegener Dorfstraßen die Hauswände4. Zwar ist die Hisbollah immer noch eine bewaffnete Widerstandsgruppe, gleichzeitig ist sie jedoch mit zirka 200 000 Parteimitgliedern auch die zahlenmäßig größte libanesische Partei5. Neben ihrer politischen Tätigkeit unterstützt sie die Bevölkerung durch die Wahrnehmung sozialer, karitativer und kultureller Aufgaben. Es weckt Neugier, wie sich die Hisbollah mit einem solch heterogen und kompliziert scheinenden Charakter in einen ebenso kompliziert scheinenden Staat integriert6. Oder integriert sie sich womöglich gar nicht? Sowohl aufgrund ihrer Identität als Widerstandskämpferin und gewaltbereitem Akteur, als auch aufgrund ihrer vermeintlich religiösen Rhetorik liegt es nahe, ihr ein erhöhtes Konfliktpotential gegenüber staatlichen Institutionen zuzuschreiben. Inwiefern dies berechtigt ist, soll in folgender Arbeit analysiert werden. Sie verfolgt das Ziel, das Konfliktpotenzial der Hisbollah bzw. ihr tatsächlich konflikthaftes Verhalten im Staat einerseits und ihr kooperatives Verhalten bzw. ihr Kooperationspotential andererseits aufzufinden und letzteres gegen ersteres abzugrenzen. Daraus entstehen drei Forschungsfragen: Welche Verhaltensweisen der Hisbollah sind gegenüber dem libanesischen Staat von konflikthaftem Charakter? Welche Verhaltens-weisen sind ihm gegenüber von kooperativem Charakter? Wo lässt sich die Hisbollah darauf aufbauend im politischen System des Libanon im Zeitraum 2000 bis 2010 verorten?7

1.1. Einordnung: Gesellschaftlicher Diskurs und wissenschaftliche Theorie

Es wäre zwar interessant, die Entwicklung der Partei von ihrer Gründung an detailliert darzustellen, jedoch würde ein derart weites zeitliches Ausholen den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deswegen beschränkt sie sich auf die aktuelleren Forschungen zum Phänomen Hisbollah. Diese finden vorwiegend unter der Prämisse ihrer Kategorisierung als Akteur des politischen Islam8 statt9. Gegenwärtig sind diese Akteure bezeichnend für die Form des politischen Aktionismus im Nahen Osten10. Sie sind verstärkt in das Interesse der Wissenschaft, und seit den Anschlägen des 11. Septembers in das der Medien gerückt. Schlagzeilen wie „Im Zangengriff der Islamisten“11 oder „Töten im Auftrag der Partei Gottes“12 rücken sie in das Bewusstsein der westlichen Bevölkerung. In der Sozialwissenschaft mutet die Beschäftigung mit den Gruppierungen des politischen Islam seriöser an. Meist findet die Beschreibung bzw. Kategorisierung solcher Akteure im Rahmen der sozialen Bewegungsforschung statt. Diese erkennt die Schwierigkeiten, die aufgrund unterschiedlichster ideologischer Ausrichtungen und Aktionsformen der Akteure einer klaren Klassifizierung letzterer im Wege stehen, an. Sie untersucht die politischen Gelegenheitsstrukturen, die sich diese Akteure zunutze machen, um politische Räume zu besetzen, und hinterfragt, wie sie ihre Anhängerschaft mobilisieren und vergrößern13. Der Aufbau von Parallel-Systemen wird innerhalb dieses Forschungsfeldes als probates Mittel betreffender Akteure identifiziert, um mit staatlichen Regimen zu konkurrieren, vor Allem wenn sie von der institutionellen Politik ausgeschlossen sind14. Oft findet so die Beschäftigung mit einem solchen Akteur unter der Prämisse statt, dass er zunächst einmal eine Bedrohung für den Staat darstellt.

Die meisten Abhandlungen, die sich der Untersuchung der Hisbollah widmen, sind inhaltlich auf einen Teilaspekt der Gruppierung fokussiert. Diskutiert werden etwa ihre Demokratietauglichkeit, der von ihr scheinbar durchlaufene Transformationsprozess vom Gewaltakteur zur politischen Partei, der für manche im Widerspruch zu ihrer vermeintlichen Ideologie steht15, ebenso wie Gewaltaspekte ihres Handelns als „terroristische Gruppierung“16. So unterschiedlich die thematische Fokussierung ist, so lassen sich die Autoren doch grob in zwei Lager einteilen, die für das in dieser Arbeit formulierte Erkenntnisinteresse von Belang sind. Generell scheinen einige Autoren der Hisbollah tendenziell kritisch gegenüberzustehen, was ihre Position im Staat betrifft17, während andere sich eher positiv über sie äußern und vorwiegend stabilisierende Potenziale in ihr entdecken18. Sie betrachten den Integrations- prozess der Gruppierung ins politische System und die Beteiligung an der Regierung als vorwiegend „ehrliche“ Angelegenheit. Erstere identifizieren im Verhalten der Hisbollah jedoch vorwiegend Konfliktpotenzial und vermuten hinter integrativem Verhalten oft destruktive Absichten und bezeichnen ihr Handeln als opportunistisch.

Um an dieser Stelle etwas mehr Klarheit zu schaffen, wie konflikthaftes und kooperatives Verhalten im politischen Sinne und in diesem Kontext zu verstehen sind, und um sie später klar voneinander trennen zu können, wird kurz auf die Friedens- und Konfliktforschung, das zweite hier relevante Fachgebiet, eingegangen. Man unterscheidet grob zwischen internationalen Konflikten und innergesellschaftlichen Konflikten. Islamistisch-fundamen- talistischer Aktionismus ist Ausdruck eines Teiles der Konflikte, die nach Ende des Kalten Krieges vorwiegend innerstaatliche Natur angenommen haben19. Er kann als eine Reaktion auf die empfundene „politische und kulturelle Hegemonie“20 der USA gedeutet werden. Die Konfliktdefinitionen, die die Wissenschaft anbietet, variieren. Nach Johann Galtung, einem bekannten Friedens- und Konfliktforscher, wird Konflikt als „eine Eigenschaft eines Systems, in dem es miteinander unvereinbare Zielvorstellungen gibt, sodass das Erreichen des einen Zieles das Erreichen des anderen ausschließen würde“, bezeichnet21. Wichtig ist, zwischen dem Konflikt an sich und der Konfliktaustragungsform zu unterscheiden. Der Ausdruck des Konfliktes bezieht sich auf den Gegenstand, über den zwischen Akteuren Uneinigkeiten bestehen. Ein Konflikt kann auf unterschiedliche Formen ausgetragen werden.

Die Konfliktkonstellation, die in vorliegender Arbeit untersucht wird, ist grundsätzlich inner- staatlicher Natur. Es werden jedoch im Verlauf der Untersuchung das Verhalten externer staatlicher Akteure, bzw. externe Konflikte mit in den Argumentationsstrang einfließen, weil sich die regionalen Konstellationen auf die hier zu untersuchende Akteurskonstellation auswirken. Die Konfliktpartner, um die es geht, sind politische Akteure. Auf der einen Seite steht die Hisbollah, auf der anderen Seite stehen staatliche Institutionen, bzw. die libanesische Regierung. Diese bilden das Rahmenwerk, in dem sich die Hisbollah bewegt. Das Verhalten eines politischen Akteurs innerhalb eines solchen Rahmenwerkes sei nun in Referenz zu den obigen Erläuterungen als kooperativ definiert, wenn er die staatlichen Institutionen anerkennt, und sich an die Spielregeln dieser Institutionen hält22. Analog dazu verhält er sich konflikthaft, wenn er die staatlichen Institutionen in ihrer Legitimität anzweifelt, das politische Rahmenwerk gewaltsam umstürzen will, oder er das Gewaltmonopol des Staates angreift. Zu beachten ist bei dieser Differenzierung, dass die Hisbollah selbst seit 2005 an der Regierung beteiligt ist, und somit nicht nur mit staatlichen Institutionen interagiert, sondern auch die Möglichkeit hat, sie umzugestalten.

1.2. Methode

Die Arbeit stützt sich auf die Erkenntnismethode der Hermeneutik (altgr.: hermeneuein, dt.: ausdrücken, interpretieren, übersetzen). Sie bezieht sich auf die Auslegung von Werken und auf deren sinngemäßes Verstehen23. Sie wird hier als geeignet erachtet, die Absichten und Motive der Akteure zu identifizieren24 und dadurch jenes sinngemäße Verstehen zu ermöglichen. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wird vorwiegend Sekundärliteratur als Grundlage zu Rate gezogen. Dabei fließen Werturteile und das subjektive Vorverständnis des Forschers in die Sinndeutung mit ein25. Der dadurch eingeschränkten Nachprüfbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse wird versucht durch intensive Durchsicht verschiedener Textquellen zu begegnen, um nach und nach zu einer möglichst objektiven Aussage zu gelangen26. Dabei wird darauf geachtet, die Arbeiten von Autoren mit verschiedenen politischen Standpunkten und thematischen Schwerpunkten zu berücksichtigen. Ergänzend werden primäre Textquellen (Interviews, Reden, Programme, Internetpräsenzen) Verwendung finden.

1.3. Struktur der Arbeit

Zunächst soll das politisch-institutionelle Umfeld, in dem die Hisbollah agiert, beschrieben werden. Ebenso ihre Vorgeschichte, die die nötigen Zutaten zu ihrer Genese bereitstellte, wird Beachtung finden. Dies scheint vor allem im Hinblick auf die hermeneutische Vorgehensweise, für die eine ausreichende Entwicklung von Empathie für den zu unter- suchenden Akteur in seinem historischen Kontext qualitätsbestimmend ist, sinnvoll. Das darauf folgende Kapitel widmet sich der Beschreibung des Gedankengutes und dem formellen Aufbau der Partei und beschreibt ihr Verhalten und das der mit ihr interagierenden Akteure im

Untersuchungszeitraum. Im letzten Kapitel sollen anhand dieser Beschreibungen die

Forschungsfragen beantwortet werden.

2. Rahmenbedingungen

2.1. Politisches System

Der Libanon ist eine Republik mit parlamentarisch-demokratischer Regierungsform. Das 128 Sitze umfassende Einkammerparlament, mit einer Legislaturperiode von vier Jahren, wählt den Parlamentssprecher sowie den Staatspräsidenten in sechsjährigem Abstand. Dieser beauftragt den Ministerpräsidenten mit der Kabinettsbildung. Die Verfassung existiert seit 1926 und wurde 1990 zum letzten Mal verändert27. Das politische System der libanesischen Republik war seit ihrer Unabhängigkeit von der Mandatsmacht Frankreich durch die multikonfessionelle Natur seiner Bevölkerung geprägt. Mit 18 offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften, deren größte Gruppen die Schiiten, Sunniten und Maroniten bilden, ist sie stark fragmentiert28. Wie in manch anderen ethnisch oder konfessionell heterogenen Staaten hat sich im Libanon eine „Konkordanzdemokratie“ etabliert. Diese wurde während der Mandatszeit von Frankreich eingeführt und entwickelte sich im Libanon aus dem 1943 verkündeten Nationalpakt. Die Mitglieder christlicher Konfessionen verzichten hierin auf die Protektion durch den Westen, wohingegen die muslimischen Gemeinschaften dem Versuch eines Anschlusses des Landes an Syrien oder an eine arabische Union abschwören29. Dem Pakt zufolge sollen alle Gemeinschaften an der Macht beteiligt werden30.

Als Grundlage des heutigen politischen Systems gilt das Ta´if-Abkommen. Neben dem Fahr- plan zur Wiederherstellung der libanesischen Souveränität nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs (der unter anderem die Festlegung einer vorübergehenden Präsenz syrischer Truppen im Libanon beinhaltete)31, werden in Ta´if die allgemeinen Verfassungsprinzipien und der Aufbau des politischen Systems bestimmt32. Dieses stellt Volker Perthes zufolge lediglich ein „Neuarrangement der grundlegenden Kompromissformel“ dar33, die im Nationalpakt ausgearbeitet wurde. Im konkordanzdemokratischen Regierungssystem des Libanon gestaltet sich diese Kompromissformel nach einem Verteilungsschlüssel, der auf den jeweiligen Anteilen der wichtigsten Gesellschaftssegmente an der Gesamtbevölkerung beruhen soll. Dieser sogenannte Proporz kommt im Falle des Libanon durch Konfessionszugehörigkeit zustande und basiert auf einer Volkszählung aus dem Jahr 193234. Deren Ergebnis bescheinigt den maronitischen Christen ihre zahlenmäßige Dominanz. Die Sunniten gehen als die zweitgrößte, und die Schiiten als die drittgrößte Gemeinschaft aus dem Zensus hervor. Die 128 Sitze im Parlament werden gleichmäßig35 zwischen Christen und Muslimen aufgeteilt36.

Die höchsten Staatsämter bleiben den drei größten Religionsgemeinschaften vorbehalten. Demnach steht den Maroniten das Amt des Staatspräsidenten zu, das des Regierungschefs bzw. des Premierministers den Sunniten, und das des Parlamentspräsidenten bzw. Parlamentssprechers wurde den Schiiten zuteil37. Die Konkordanzdemokratie38 ist im Wesentlichen durch gemeinschaftliche Entscheidungsfindungen zwischen diesen Gruppen gekennzeichnet39, zumindest soweit es sich um Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung handelt. In übrigen Belangen wie zum Beispiel dem Bildungswesen, dem Zivilrecht und bei Personenstandsangelegenheiten sowie der Verwaltung und dem Sozialwesen behalten die Gruppen weitgehende Autonomie. Dieses System war als Übergangslösung gedacht, um den Nachkriegslibanon zu stabilisieren. Die in Ta´if vorgesehene Abschaffung des politischen Konfessionalismus, die auch von der Hisbollah befürwortet wird, wurde bis jetzt nicht umgesetzt40.

2.1.1. Problematiken

Durch den Konfessionalismus wird den Religionsgemeinschaften als regionen- und schicht- übergreifenden Interessengemeinschaften ein herausragender Stellenwert zugeschrieben. Der Libanon kann zwar in dem Sinne als säkular gelten, sofern er keine Staatsreligion hat, bei dem aber die konfessionelle Zugehörigkeit aufgrund des Proporzsystems entscheidend für die politischen Partizipationsmöglichkeiten, bzw. generell für die Verteilung von öffentlichen Positionen und anderen Ressourcen ist. Dem Politikwissenschaftler Jochen Hippler zufolge ist dies einer demokratischen Funktionsweise des Staatsapparates hinderlich, da die inner- konfessionellen Machtstrukturen im Libanon stark klientelistisch geprägt sind41. So ist es wahrscheinlich, dass die tatsächliche Politikgestaltung in den Händen einiger Eliten liegt, die ihre Klientel entlang konfessioneller Grenzen dauerhaft an sich binden42. Viele schiitische Bürger fühlen sich außerdem im System unterrepräsentiert43. Das ihrer Konfession zugeteilte Amt des Parlamentspräsidenten ist im Vergleich zu dem des maronitischen Staatspräsidenten und dem Amt des sunnitischen Premierministers relativ schwach, obwohl die Schiiten inzwischen mit 34 Prozent die größte aller Religionsgemeinschaften im Libanon sind.

2.3. Entstehungskontext

Eine schlechte sozioökonomische Lage, eine ungenügende Repräsentation im Proporzsystem und die Verwicklung in regionale Konflikte bedingen im Vorfeld der Gründung der Hisbollah eine zunehmende politische Mobilisierung der libanesischen Schiiten. Sie siedelten vorwiegend in der Beqaa-Ebene und in den südlichen Landesteilen, die damals wie heute unterentwickelt waren bzw. sind. Aus dem politischen System resultierte eine Benachteiligung der schiitischen Bevölkerung, die bis heute anhält.

Bereits in den 1960er Jahren wurde klar, dass der demografische Wandel, d.h. besonders das Wachstum des schiitischen Bevölkerungsanteils in dem System „proportionaler“ Machtteilung nicht reflektiert wird44. Vielmehr reflektierte es die politische und ökonomische Vormachtstellung der sunnitischen und vor allem maronitischen Eliten45. Hinzu kommt, dass allmählich die PLO (engl.: Palestinian Liberation Organization) und andere Gruppen palästi- nensischer Freiheitskämpfer im Libanon Fuß fassten, um von dort gegen den Nachbarstaat Israel vorzugehen. Sie bildeten ab zirka 1970, gestützt durch den libanesischen Staat46, eine Art „Staat im Staate“, der selbstständig Krieg gegen Israel führen konnte. Dessen Guerilla- aktivitäten47 gegen Israel wurden von israelischer Seite mit Militärschlägen beantwortet, von denen jedoch eher die vorwiegend im Südlichen Libanon lebende schiitische Zivilbevölkerung betroffen war48. Der Aufenthalt der PLO im Libanon verstärkte die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die 1975 im Bürgerkrieg kulminierten49 und förderte die Mobilisierung der Schiiten, die bisher im Libanon die Hauptbetroffenen des israelisch-palästinensischen Konfliktes waren. Offenbar wurde dies, als die 1974 von dem schiitischen Kleriker Imam Musa al-Sadr gegründete „Bewegung der Entrechteten“ (arab.: Harakat al-Mahrumin) die Forderung nach Gleichberechtigung aller Libanesen und Beseitigung maronitischer Dominanz im Staat laut werden ließ. Als deren bewaffneter Arm agierte ab 1975 die Amal (arab.: afwaj al-muqawamat al-lubnaniyya) im beginnenden Bürgerkrieg als erste nennenswerte, politisch- radikale schiitische Organisation50. Sadr, der sich bereits 1976 von der PLO abgewandt hatte, verschwand 1978 unter mysteriösen Umständen. Die von ihm gegründeten Bewegungen säkularisierten sich zunehmend. Die Zusammenstöße zwischen Amal-Kämpfern und PLO- Aktivisten häuften sich. Die zweite israelische Invasion 1982 wurde von der Amal sogar größtenteils begrüßt, weil das israelische Militär damit die Machtposition der PLO im Süden zerschlug51. Ihr Anführer, Nabih Berri ließ sich auf einen Dialog mit Israel ein, was Teilen seiner Anhänger und einem Großteil der schiitischen Gemeinde missfiel. Es kam zu Spaltungstendenzen innerhalb der Amal, die 1982 dazu führten, dass sich ihr islamisch orientierter Flügel von ihr abtrennte52. Ihre Anhängerschaft versprach sich der Bekämpfung der israelischen Truppen auf libanesischem Boden. Der Iran unterstützte sie dabei.

Seit 1979 schiitischer Gottesstaat und Beispiel einer erfolgreichen islamischen Revolution, begann er nun damit, Revolutionswächter in den Libanon zu entsenden, um sich der militärischen Ausbildung seiner schiitischen Klientel zu widmen53. Schiitische Geistliche befruchteten die entstandene Gruppierung der Widerstandskämpfer ideologisch54. Es ging neben der Vertreibung auswärtiger Mächte von libanesischem Staatsgebiet -wie auch innerhalb der Harakat al-Mahrumin und der Amal- um die Herstellung von Gerechtigkeit für die Schiiten im Libanon. Im Unterschied zu diesen säkular ausgerichteten Bewegungen, sahen die anfänglichen Hisbollah-Kämpfer in der Errichtung einer islamischen Staatsordnung ein geeignetes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Die Hisbollah scheint letztlich aus einem Gefühl der Unterdrückung heraus entstanden zu sein55, das durch den israelischen Einmarsch 1982 in den Libanon explosionsartig anwuchs. Es bildete die Rahmenbedingungen für den Kampf gegen die als Feinde wahrgenommenen Besatzungsmächte und die Rekultivierung der iranisch-islamischen Revolutionsidee auf libanesischem Boden.

3. Zwischen Konflikt und Kooperation

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, definiert sich die Hisbollah noch immer über ihren Charakter als Akteur des nationalen Widerstandes. Daneben hat sie inzwischen eine wichtige Rolle als politischer Akteur in der libanesischen Politik eingenommen und sich einen Ruf als Sozialdienstleister gemacht. Die der Hisbollah zugeschriebenen Attribute, die als vermeintlich problematisch gelten, bzw. destabilisierend auf den libanesischen Staat wirken können, sind vor allem ihre Unberechenbarkeit als bewaffneter substaatlicher und vermeintlich terro- ristischer Akteur und eine in ihr vermutete islamistische Ideologie. Hinzu kommt der ihr oftmals zugeschriebene Charakter des „Staates im Staate“, durch den sie das staatliche Gewaltmonopol untergräbt. Wie die Hisbollah sich im letzten Jahrzehnt innerhalb der staatlichen Ordnung positionierte, soll im Folgenden behandelt werden. Dabei sind vor allem ihre Rolle als Akteur des Widerstandes und ihre Rolle als politische Partei von Bedeutung.

Einleitend wird in groben Zügen auf den formellen Aufbau und das Gedankengut, auf dem sich die Hisbollah gründete, eingegangen. Danach wird ihr konkretes Verhalten im Untersuchungszeitraum beschrieben und in Kontext mit ihrer Umgebung gesetzt. Im Anschluss daran sollte klar werden, wie und ob sich die hier aufgezählten, potentiell problematischen Attribute in konkreten Verhaltensweisen äußern. Erweisen sie sich tatsächlich als problematisch für den Umgang des Staates mit der Partei? Wo liegen ihre Konflikt- und Stabilisierungspotenziale? Als Maßstab hierzu dient die in der Einleitung gegebene Definition von konflikthaftem bzw. kooperativem Verhalten.

3.1. Ideologie

Einen Großteil ihres Gedankengutes bezog die Hisbollah anfänglich aus dem vom iranischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini begründeten System des Wilayat al-Faqhi (dt.:Herrschaft der Rechtsgelehrten). Es bezieht sich auf die Vorstellung eines islamischen Staatswesens56, in dem schiitische Geistliche mit der politischen und religiösen Leitung der muslimischen Gemeinschaft (arab.:Umma) betraut sind57. Mit der erfolgreichen islamischen Revolution im Iran verhalf diese Lehre ihrem Erschaffer (Khomeini) selbst zur Stellung als politischem und geistlichen Führer der Nation. Gegenwärtig wird das Amt des Revolutions- führers im Iran von Khomeinis Nachfolger, Ali Khameini bekleidet, den auch die Hisbollah als ihren politischen und geistigen Führer anerkennt58. Die Absicht der Errichtung eines islamischen Staates nach iranischem Vorbild wurde von ihr im Offenen Brief propagiert, der sich an „alle Entrechteten im Libanon und in der Welt“ richtet59. Um eine Unterdrückung der Massen zu beseitigen, würden Veränderungen an der Basis des Systems nötig. „It [das System] should be radically changed“, liest man hier60. Es wird aber betont, dass diese Umgestaltung nur durch die Zustimmung und den Willen der Bevölkerung realisiert werden solle61. Umstritten ist, inwieweit die Hisbollah an ihrem Ziel einer Errichtung eines islamischen Staates festhält62. Die meisten der von einer kritischen Auffassung der Hisbollah geprägten Forschungsarbeiten beziehen sich in ihrer Kritik auf diese anfänglichen Verlautbarungen.

[...]


1 Vgl. Hanf (1990), S. 15.

2 Vgl. Meyer (2010), S. 176.

3 Vgl. Meyer (2010), S. 173.

4 Anmerkung: Information beruht auf Eigenbeobachtung.

5 Vgl. Hamzeh (2004), S. 145.

6 Anmerkung: Warum der Libanon und die Hisbollah mit Attributen wie „heterogen“ und „kompliziert“ belegt werden können, wird sich bei weiterer Durchsicht der Arbeit erklären.

7 In Anlehnung an Theodor Hanf ließen sich die Forschungsfragen folgendermaßen metaphorisch umformulieren: Auf welchem Stuhl sitzt die Hisbollah am Stammtisch der Institutionen, und wie interagiert sie mit ihren Tischnachbarn?

8 Anmerkung: Die Bezeichnung „Akteur des politischen Islam“ unterscheidet sich von den Bezeichnungen „Islamist“ oder „islami stischer Fundamentalist“ dadurch, dass sie ihren Akzent auf die politischen Ambitionen bzw. Tätigkeiten dieser Akteure setzt. Damit deckt sie prinzipiell das Spektrum dieser Akteure ab, da die meisten von ihnen politische Ambitionen hegen (Vgl. Albrecht/Köhler, 2008), S. 13.

9 Vgl. Mohns (2008), S. 206.

10 Ebd.

11 Online-Artikel vom 4.1.2009 zur Hamas, In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ NET: http://www.faz.net/s/RubB30ABD11B91F41C0BF2722C308D40318/Doc~EC5254367E888491098091DAEF542C1A7~ATpl~Ecommon~Scontent.html (Stand: 26.9.2010).

12 Online-Artikel zur Hisbollah vom 10.10.2007, In: Welt Online: http://www.welt.de/politik/article1247545/Toeten_im_Auftrag_der_Partei_Gottes.html (Stand: 26.9.2010).

13 Vgl. Mohns (2008), S. 206.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. Norton: Hezbollah: A Short History (2007).

16 Vgl. Ranstorp: Hizb´Allah in Lebanon: The politics of the Western Hostage Crisis (1997).

17 Vgl. Hamzeh: In the Path of Hisbollah (2004).

18 Vgl. Palmer-Harik: Hezbollah: The Changing Face of Terrorism (2004).

19 Vgl. Schultze/ Zinderer (2004), S. 11 (Anmerkung: Ausgenommen sind als islamistische Gruppen deklarierte Akteure, die sich internationalen Terrorismusvorwürfen stellen müssen).

20 Vgl. Schultze/ Zinderer (2004), S. 12.

21 Vgl. Hanschitz (2005), S. 68.

22 Anmerkung: Das heißt, dass kooperatives Verhalten nicht das Fehlen eines Konfliktes darstellt. Es charakterisiert vielmehr die Austragungsform desselben. 6

23 Vgl. Reese-Schäfer (2007), S. 206.

24 Vgl. Lauth/Wagner (2009), S. 392.

25 Dies wird erwähnt, um dem Anspruch auf Objektivität eine eindeutige Absage zu erteilen. Im Gegensatz zur Naturwissenschaft beschäftigen sich die Sozialwissenschaften immer mit einer sinnstrukturierten Welt. Da der Sozialwissenschaftler immer ein Teil dieser ist, und die von ihm vorgenommene Sinnzuschreibung immer auf seiner eigenen subjektiven Weltsicht beruht, kann sein Forschen niemals objektiv erfolgen (Siehe auch: Reese-Schäfer, 2007), S. 206.

26 Anmerkung: Hans-Georg Gadamer hat ein Grundproblem der Sozialwissenschaften, nämlich die unzureichende Nachprüfbarkeit ihrer Forschungsergebnisse, die sie aus Textanalyse gezogenen Schlussfolgerungen zu Tage fördert, folgendermaßen kommentiert: „Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis scheint der Intuition des Künstlers näher verwandt als dem methodischen Geist der Forschung.“ (Vgl. Gadamer, 1993), S. 38.

27 Vgl. CIA World Factbook:Lebanon: https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/le.html (Stand: 10.08.2010).

28 Vgl. Hanrath (2010), S. 132.

29 Vgl. Hanf (1990), S. 99.

30 Vgl. ebd., S. 100.

31 Vgl. Auswärtiges Amt, Länderinformationen, Libanon (März 2010): http://www.auswaertiges- amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Libanon/Innenpolitik.html (Stand: 28.9.2010).

32 Vgl. Perthes (1994), S. 18.

33 Vgl. ebd.

34 Vgl. Sakmani (2008), S. 25.

35 In Ta´if wurde der parlamentarische Verteilungsschlüssel, der bislang mit einem Verhältnis 6:5 zwischen Christen und Muslimen bestand zugunsten der Muslime auf ein Verhältnis 5:5 abgeändert (Vgl. Sakmani, 2008), S. 26.

36 In dieser Aufteilung sind die Drusen, eine weitere wichtige Konfession im Libanon, mit enthalten. Sie werden in der Literatur meist als eine Untergruppe der schiitischen Muslime gefasst. Da sie sich selbst als Geheimreligion positionieren, und großen Wert auf eine Abgrenzung zu den restlichen muslimischen Gruppen legen, ist die Adäquanz dieser Einordnung ggf. in Zweifel zu ziehen (Vgl. Ende/ Steinbach, 2005), S. 526.

37 Vgl. Sakmani (2008), S. 25.

38 Der Begriff „Konkordanz“ entstammt dem lateinischen Wort „concordantia“ (dt.: Übereinstimmung).

39 Vgl. Schmidt (2000), S. 340.

40 Vgl. Mohns (2005), S. 39.

41 Vgl. Hippler (2006), S. 9.

42 Vgl. ebd.

43 Vgl. Sakmani (2008), S. 27.

44 Vgl. Staten (2008), S. 36.

45 Vgl. Perthes (1994), S. 19.

46 Möglich wurde dies im wesentlichen durch die 1969 im Rahmen des Kairoer Abkommens stattgefundenen Verhandlungen zwischen Yassir Arafat und dem Chef der libanesischen Armee, Emile Boustany, die die bewaffnete Präsenz der Palästinenser im Libanon legitimierten. (Vgl. Hanf 1990), S. 218.

47 Vgl. Perthes (1994), S. 95.

48 Vgl. Perthes (1994), S. 95

49 Vgl. Hanrath (2010), S. 133.

50 Vgl. Sakmani (2008), S. 30.

51 Vgl. Norton (2007) S. 23.

52 Vgl. Sakmani (2008), S. 31.

53 Vgl. ebd., S. 32.

54 Vgl. ebd., S. 33.

55 Deutlich wird dies v.a. in dem Satz: „...they...do not enable us to decide our future according to our own wishes“. In: Open Letter: ICT Herzliya: http://www.ict.org.il/Articles/tabid/66/Articlsid/4/currentpage/35/Default.aspx (Stand: 02.08.2010).

56 Vgl. Fradkin (2009), S. 11.

57 Vgl. ebd., S. 14.

58 Anmerkung: Jedoch existieren hierüber innerhalb der Hisbollah Meinungsverschiedenheiten. Diese treten jedoch selten offen zutage, da sich die Partei nach außen sehr einheitlich präsentiert. Bekannt ist aber Hussein Fadlallahs (er wird als der spirituelle Führer der Partei in ihrer Anfangszeit betrachtet) Kritik an der Unterordnung unter den iranischen Revolutionsführer und sein System (Vgl. Abdul-Hussain, 2009), S. 79.

59 Der Offene Brief von 1985 wird als offizielles Gründungsdokument der Hisbollah aufgefasst.

60 Open Letter: ICT Herzliya: http://www.ict.org.il/Articles/tabid/66/Articlsid/4/currentpage/35/Default.aspx (Stand: 02.08.2010).

61 Vgl. ebd.

62 Vgl. Ende/ Steinbach (2005), S. 690.

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Details

Title
Die Rolle der Hisbollah im politischen System des Libanon. Zwischen Konflikt und Kooperation
College
University of Dusseldorf "Heinrich Heine"
Grade
2,0
Author
Year
2010
Pages
43
Catalog Number
V277519
ISBN (eBook)
9783668156746
ISBN (Book)
9783668156753
File size
857 KB
Language
German
Keywords
rolle, hisbollah, system, libanon, zwischen, konflikt, kooperation
Quote paper
Anja Tuchtenhagen (Author), 2010, Die Rolle der Hisbollah im politischen System des Libanon. Zwischen Konflikt und Kooperation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277519

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