Kultursensible Altenpflege in ländlichen Gebieten mit niedrigem Migranten-Anteil


Hausarbeit, 2014

29 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffserklärung
2.1 Der Begriff der Kultur
2.2 Kultursensible Pflege
2.3 Interkulturelle und transkulturelle Kompetenzen

3 Lerntheoretische Grundlagen
3.1 Der Kognitivismus
3.2 Der Konstruktivismus
3.4 Rahmenbedingungen für Selbstlernprozesse

4 Das praktische Arrangement
4.1 Förderung der interkulturellen Kompetenzen der Mitarbeiter
4.2 Multikultureller Teams
4.3 Konstruktive Umsetzungen mit Vertiefung und Erweiterung der erworbenen Kompetenzen am Patienten und in seinem Umfeld

5 Fazit mit Ausblick

Abbildungsverzeichnis 1: Reiz-/Reaktionsschema aus Sicht des Behaviorismus und des Kognitivismus
2: Motivationale und kognitive Kompetenzen selbstgesteuerten Lernens
3: Schätzung von Pflegebedürftigen ausländischen Personen und Personen mit Migrationshintergrund, Frauen und Männer 1999 – 2009
4: Betriebliches Bildungsmanagement
5: Betriebliche Bildungsarbeit, Regelkreislauf
6: Lernformen betrieblicher Bildung

Anhang
Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Als in den fünfziger Jahren Gastarbeiter[1] angeworben wurden, ging die deutsche Gesellschaft von Rückkehrabsichten derselben in ihre jeweiligen Heimatländer aus. Auch von Seiten der Politik wurde immer wieder betont, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Zuwanderungsland sei (Schmidt 2003, S. 13). Eine Auffassung, die heute angesichts demografischen Wandels und schrumpfender deutscher Bevölkerung auch von politischer Seite revidiert wurde und in der Erkenntnis mündete, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Zuwanderungsland ist (ebd.). Dies bedeutete jedoch zugleich anzuerkennen, dass die Migranten[2] bis an ihr Lebensende bleiben und nicht im Alter in ihre Heimatländer zurückkehren.

Zuwanderung wird in Öffentlichkeit, Politik und (Integrations-)Forschung vor allem als großstädtisches Thema bzw. als auf Ballungsgebiete zentriert wahrgenommen (Schader, 2011, S. 7). Die Bedingungen für Migranten im ländlichen Raum finden erst seit kurzer Zeit die Aufmerksamkeit der Integrationsforschung (a.a.O., S. 11). Ihre wesentlich geringere Präsenz im ländlichen Raum im Verbund mit den oft knapp bemessenen finanziellen Lagen der kleineren Gemeinden, wirkt sich nicht nur erschwerend auf die Integrationsbemühungen sowohl der Institutionen und Einrichtungen vor Ort als auch der Migranten selbst aus (ebd.; z.B. S. 112f). Somit nimmt es nicht wunder, dass auch in der ambulanten Altenpflege die Auswirkungen spürbar sind. So zeigt sich, dass in ländlichen Gebieten 71% der ambulanten Pflegedienste keinen Kontakt zu Patienten mit Migrationshintergrund haben (Kohls 2012, S 63f). Dies hat zur Folge, dass kultursensible Altenpflege hier noch kaum angekommen ist.

Da die Autorin dieser Arbeit selbst lange Zeit in der ambulanten Altenpflege tätig war, soll in dieser Hausarbeit folgender Frage nachgegangen werden: Wie kann für kultursensible Pflege in der ambulanten Altenpflege im ländlichen Raum sensibilisiert werden, wenn die Wichtigkeit dieses Themas von den Pflegenden kaum erkannt wird ?

Auf Grundlage von Maßnahmen und Aspekten der Personalentwicklung fußend sollen Selbstlernprozesse in Form von Selbstgesteuertem Lernen für eine kultursensible ambulante Altenpflege angestoßen werden Hierzu werden zunächst die Fachtermini erläutert, um dann im 3. Abschnitt die lerntheoretischen Grundlagen des Kognitivismus und des Konstruktivismus kurz zu beleuchten und Rahmenbedingungen für Selbstlernprozesse auszuloten. Im darauf folgenden Abschnitt wird im praktischen Teil dieser Hausarbeit dargelegt, dass nur mittels eines interkulturellen Managements der Weg zur kultursensiblen Altenpflege bereitet werden kann (Habermann, o.J.). Die Führung der Einrichtung muss bereit sein, sich auf den Implementierungsprozess einzulassen und Energien und Ressourcen für den Auf- und Ausbau inter- und transkultureller Kompetenzen der Mitarbeiter zu investieren. Ist diese zentrale Voraussetzung geschaffen, kann in einem Top-Down-Prozess kultursensible Altenpflege als Qualitäts- und Kompetenzziel der Mitarbeiter transparent gemacht und damit Akzeptanz und Motivation für Fort- und Weiterbildungen geschaffen werden. Im Fazit und Ausblick sollen je nach Notwendigkeit die aufblitzenden Probleme aufgegriffen und nach Möglichkeit evtl. Lösungsansätze aufgezeigt werden.

2. Begriffsklärung

„Wenn Zwei das Gleiche sagen, meinen sie noch lange nicht das Selbe“ – diese kleine Abwandlung eines alten Sprichwortes[3] beschreibt recht anschaulich, warum in der wissenschaftlichen Arbeit stets eine Klärung von wichtigen Begrifflichkeiten vonnöten ist. Begriffe wie Kultur o.ä. sind in den verschiedenen Disziplinen je nach Gegenstandsbereich anders konnotiert. So versteht bspw. ein Archäologe etwas völlig anderes unter diesem Begriff als ein Soziologe. Um eventuellen Unklarheiten vorzubeugen soll die Funktion der Begriffe „Kultur“, „kultursensible Pflege“ und „interkulturelle und transkulturelle Kompetenzen“ mit Blick auf den Inhalt dieser Hausarbeit geklärt werden.

2.1 Der Begriff der Kultur

Trotz aller Erklärungsversuche besteht bis heute kein Konsens darüber, was „Kultur“ meint, welche Merkmale sie aufweist, was sie bewirkt oder auch, wie man sie für eine wissenschaftliche Untersuchung operationalisieren soll (Schiersmann 2013, S. 43). Einigkeit besteht allenfalls darin, dass es sich bei „Kultur“ um ein sehr komplexes Phänomen handelt (ebd.). Deshalb kann in dieser Arbeit höchstens eine Annäherung an den Begriff, jedoch keine endgültige Klärung desselben erfolgen. Der ursprünglich lateinische Begriff „cultura“ bezieht sich auf den Ackerbau, wurde jedoch schon von Cicero im metaphorischen Sinne auf den Menschen übertragen („cultura hominis“) (Böhm 2005, S. 380). Aber erst Pufendorfer stellte im 17. Jhdt. dem rohen Naturzustand des Menschen seinen höheren Kulturzustand entgegen (ebd.). K.-H. Flechsig zeigt auf, dass sich im Laufe der Geschichte drei noch heute aktuelle Bedeutungen für den Kulturbegriff entwickelt haben (Flechsig 1/2000): 1. Kultur als „Veredelung“ (Bildung, Kunst, Wissenschaft etc.); als Synonym für höhere Lebensgestaltung, aber auch als Unterscheidung zwischen Zivilisation und wilden Entwicklungszuständen (Flechsig, 1/2000). 2. Kultur wurde im 18. Jhdt. zum Synonym für alles, was der Mensch selbst hervorgebracht, erarbeitet, erfunden etc. hat; also alles, was nicht Natur ist, aber trotzdem zur Umwelt des Menschen gehört (Gebäude, Kleidung, Werkzeuge, wissenschaftliche Arbeiten, (medizinische) Therapien, etc.). Kultur in diesem Sinne wird heute noch so in den Sozialwissenschaften verwendet und wurde so auch umgangssprachlich übergenommen (Flechsig 2000). 3. Mit Beginn des 19. Jhdts. wurde der Begriff Kultur mit territorialen, ethnischen, linguistischen, mentalen und ideologischen Kriterien behaftet und steht für „Volk“ oder „Nation“. Zur Unterstützung von Herrschaftsansprüchen wird der Begriff Nationalkultur bemüht. Bis heute wird der ideologische Charakter dieses Begriffs sowie für ethnozentrische Überzeugungen als auch für Ab- und Ausgrenzungsbemühungen benutzt (Flechsig 2000). Um den Begriff der Kultur zu fassen hat, nach Meinung der Autorin dieser Arbeit, Flechsig (2000) einen guten Ansatz geliefert. Er bezeichnet Kultur als ein Konstrukt oder auch als „kulturelle historische Programmierung“ (ebd.). Das Individuum wird in eine bestimmte Umwelt hineingeboren und lernt im Verlauf seiner Sozialisation „seine“ Kultur. Man bezeichnet dies auch als „Enkulturation“. Kultur bezeichnet somit keine Wirklichkeit, sondern eine als gesellschaftliche Rekonstruktion erzeugte Wirklichkeit. Sie ist ein System, dass sich aus Einstellungen und Verhaltensweisen, aber auch aus Werten zusammensetzt, die das Gefüge einer Gesellschaft zusammenhalten. Sie ist ein Abstraktum, mit dem Menschen sich selbst identifizieren können oder auch dem sie andere Menschen zuordnen. Dies führt oft zu stereotypen Annahmen über Individuen; so „ist“ der Franzose ein Feinschmecker, der Italiener singt gern, der Deutsche „ist“ ordnungsliebend etc. Entspricht jemand nicht „seinem“ Stereotyp, so ist er eben kein „richtiger“ Italiener, Deutscher etc. Diese Zuschreibung von Eigenschaften wird oft über Generationen weitergegeben. Hier zeigt sich, dass das Individuum immer dann, wenn es Aussagen bzgl. der Stereotypisierung der Anderen, Fremden macht, sehr viel über sich selbst, seine eigenen Einstellungen preisgibt (Flechsig 2000).

2.2 Kultursensible Pflege

Mit Blick auf die unter Punkt 2.1 gemachten Ausführungen zum Begriff Kultur, zeigt sich, das kultursensible (Alten-)Pflege mehr ist, als bspw. dem muslimischen Patienten kein Schweinefleisch aufzutischen. Peters (2006) setzt kultursensible Pflege mit einer Pflege gleich, die nicht nur den religiösen Hintergrund, sondern die gesamte Biografie des Patienten mit beachtet (S. 2). Hierzu gehört, dass eigene pflegerische Handeln im Kontext des migrationsbedingten Hintergrunds zu reflektieren (ebd.) und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass es um Menschen geht, deren individuelle Merkmale sehr vielfältig sind (a.a.O., S.4). Das bedeutet, dass neben Kultur, Religion oder Migrationshintergrund auch immer das Geschlecht oder bspw. die sexuelle Orientierung Beachtung finden (ebd.). Kultursensible (Alten-)Pflege lässt sich also nicht darauf eingrenzen, dass der Pflegende sich über religiöse oder landestypische Spezifika des Patienten mit Migrationshintergrund informiert und dann schablonenhaft je nach Herkunft des Patienten pflegt. Das käme einer kulturellen Typisierung gleich, die dann wieder von eigenen Vorurteilen geleitet wird. Sicher sollten in der kultursensiblen Altenpflege die Migrationshintergründe des Patienten Berücksichtigung finden (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BmFSFJ) 2005, S. 23), wichtiger sind jedoch Offenheit gegenüber dem „Anderen, Fremden“, Empathie zur Deutung des Nonverbalen, der Umwelt und der Gesten desselben und eine interaktiv-dialogische, sensible Annäherung an den zu pflegenden Menschen (a.a.O., S. 24). So gesehen, den Aufbau einer „individuelle(n), bedürfnis- und biografieorientierte(n) Pflegebeziehung zwischen Pflegekraft und Patient“ (Peters 2006, S. 4).

2.3 Interkulturelle und transkulturelle Kompetenzen

Der Begriff Kompetenz stellt laut Elsholz (2013) die subjektive Perspektive des Individuums – d.h. die Befähigung des lernenden Menschen - in den Mittelpunkt (S. 8). Sie umfasst neben der beruflichen Qualifikation auch die Persönlichkeitsbildung und –entwicklung (a.a.O.). Der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) hat folgendes Kompetenzverständnis festgelegt (Elsholz 2013, S. 19): “Kompetenz bezeichnet im DQR die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen, Kenntnisse und Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten zu nutzen und sich durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten. Kompetenz wird in diesem Sinne als umfassende Handlungskompetenz verstanden „ (AK DQR). Kompetenzen werden dementsprechend in Fachkompetenz und personale Kompetenz unterteilt. Fachkompetenzen umfassen das Wissen und die Fertigkeiten des Individuums, personale Kompetenz umfasst die soziale Kompetenz (z.B. Teamfähigkeit) und die Selbständigkeit (z.B. Reflexivität, Lernkompetenz) (ebd.). Was aber kennzeichnet interkulturelle Kompetenz? Eine klare Definition ist derzeit nicht in Sicht. Die meisten Definitionsversuche fußen, so konstatiert Habermann (2003, S. 12) auf Erfolge hinsichtlich wirtschaftlicher oder betriebsorientierter Zielsetzungen. Sprich: in einer interkulturellen Situation erfolgreich handeln können als persönliches Merkmal. Eine Abgrenzung der interkulturellen Kompetenzen von den transkulturellen Kompetenzen ist schwierig und kann nicht trennscharf sein. Habermann (2003, S. 12) konstatiert, dass eine Auflistung interkultureller Merkmale viele Komponenten eher unspezifisch sind und Persönlichkeitsmerkmale aufzeigen, über die eine Führungskraft oder ein Mitarbeiter in der Pflege generell verfügen sollte. Hierzu zählen u.a. Unvoreingenommenheit, Verzicht auf negative Bewertungen, Höflichkeit, Freundlichkeit, Diplomatie, Toleranz, Geduld, Ambiguitätstoleranz, Kommunikationsfähigkeiten, ruhiges und kontrolliertes Verhalten bei Schwierigkeiten, reflektierter Umgang mit Stereotypen u.v.m. (ebd.). Spezifisch erscheinen hier nur Sprachkompetenzen und kulturspezifisches Wissen. Habermann weist darauf hin, dass die interkulturell stattfindende Handlung einer Person auch immer abhängig ist von der Situation, in der diese Interaktion stattfindet (ebd.). Auch anhand der Definition von Deardorff (Bertelsmann Stiftung 2006, S. 5) kann die Uneindeutigkeit in den Definitionen der Interkulturellen Kompetenz nochmal verdeutlicht werden: „Interkulturelle Kompetenz beschreibt die Kompetenz, auf Grundlage bestimmter Haltungen und Einstellungen sowie besonderer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren“. Uzarewicz (o.J.) sieht transkulturelle Kompetenz als Teil des professionellen (pflegerischen) Handelns und somit als eine erweiterte soziale Kompetenz. Sie beschreibt die Inhalte transkultureller Kompetenz mit folgenden Merkmalen: - die Reflexion der eigenen (gewöhnlich nicht-bewussten), der biomedizinischen sowie der pflegerischen Wissens- und Sinnordnungen; - das Erschließens der je subjektiven Wissens- und Sinnordnungen der Klienten bzw. Bewohner; - der Versuch einer Transformationsleistung im Sinne einer Ineinanderverschränkung der Wissens- und Sinnordnungen; die eigenen Deutungsmuster dürfen nicht als ausschließliche normative Grundlage dienen; - das Herausfiltern von Ähnlichkeiten/Gemeinsamkeiten sowie von Widersprüchen und Unterschieden, um Ansatzpunkte für eine gemeinsame Handlungsstrategie zu entwickeln (ebd., Uzarewicz & Uzarewicz, 2001). Das bedeutet, dass man nicht nur auf die Unterschiede (z.B. kulturellen, religiösen, geschlechtlichen etc. Hintergrund) schaut – diese aber auch nicht leugnet -, sondern auch die Gemeinsamkeiten eruiert (ebd.). Es handelt sich um eine spezifische Sensibilität für Situationen, die durch die Schulung von persönlichen Fähigkeiten erreicht werden kann. Diese Fähigkeiten beschreibt Domenig (ebd., 2001) als die 3 Säulen der Transkulturellen Kompetenz: Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung sowie Empathie im Umgang mit Anderen und Andrem (ebd.).

3. Lerntheoretische Grundlagen

Lerntheorien sind laut Böhm 2005 (S. 408f) nichts anderes als der Versuch, Lernprozesse zu erklären. Drees 2013 (S. 34f) zeigt auf, dass das Lernen bis zum Beginn 20. Jahrhunderts von der Psychologie dominiert war. Tiefenpsychologische oder auch Ganzheitspsychologische Konzepte, die entweder vom Unbewussten auf das (Lern)Verhalten (Freud) oder von der Wahrnehmung eines Gesamtbildes auf die Einsichts- und Problemlösefähigkeit des Menschen (z.B. Wertheimer), wurden erst mit dem Aufkommen des Behaviorismus hinterfragt. Drees 2013 erläutert folgende fünf Theorien des Lernens (S. 35 – 116): Behaviorismus, Konstruktivismus, Handlungstheorie, Konstruktivismus sowie die subjektwissenschaftliche Lerntheorie. In dieser Arbeit wird der Fokus auf die konstruktivistische und die kognitivistische Lerntheorie gelegt, da sich beide Theorien gerade in Bezug auf die Kompetenzerweiterung von Mitarbeitern sehr gut miteinander verbinden lassen. Der Konstruktivismus bezieht sich darauf, dass von außen kommende Lernanstöße vom Subjekt als Störungen des bisher Gewussten empfunden und zu einer Veränderung von z.B. Wissen oder Eistellungen führen (a.a.O., S. 93) kann; der Kognitivismus untersucht vornehmlich innere Vorgänge wie Kognitionen, Motivationen u. ä. Da einmal Erlerntes jedoch nicht als feststehende Größe betrachtet werden kann, sind in Bezug auf die berufliche Kompetenzerweiterung auch die Rahmenbedingungen für weitergehende Selbstlernprozesse von Interesse.

3.1 Der Kognitivismus

Der Kognitivismus als wissenschaftliche Lerntheorie ist geprägt von einer reichhaltigen Vielzahl an teils konkurrierenden Ansätzen, Konzepten und Richtungen (Drees 2013, S. 60). Da diese im Rahmen dieser Arbeit nicht alle aufgeführt und erklärt werden können, soll hier nur der Versuch unternommen werden, wichtige Eckdaten des Kognitivismus herauszuarbeiten. Der Kognitivismus dockt an das Reiz-/Reaktions-Schema des Behaviorismus an. Der Behaviorismus orientiert sich an objektive, beobachtbare und beweisbare Fakten (a.a.O., S. 36) und sieht innere Vorgänge als in einer Blackbox allen Deutungsversuchen entzogen an. Demgegenüber versucht der Kognitivismus auch die Verarbeitungsprozesse im Inneren des Individuums in Form theoretischer Modelle zu erklären.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Reiz-/Reaktionsschema aus Sicht des Behaviorismus und des Kognitivismus

(Quelle: eigene Darstellung; angelehnt an Drees 2013, S. 37 oder S. 60)

Interessant ist, dass man im Zuge des technischen Wandels die Vorgänge im Inneren des Individuums mit der Datenverarbeitung von Computern vergleicht (ebd., S. 47). Denken und Lernen werden nun als aktive Informations- und Datenverarbeitung (a.a.O., S. 48), statt als reine Reaktionen auf bestimmte Reize betrachtet. Zielgerichtetheit und die Beteiligung äußerer (z.B. Umwelt, Milieu etc.) und innerer (z.B. Einstellungen, Vorerfahrungen, Motivationen etc.) Bedingungsfaktoren bei der Auseinandersetzung mit den Reizangeboten der Umwelt gelten als bezeichnend für die aktive Beteiligung des Individuums an seinen Lernprozessen (ebd. S. 61). Der Lernende entwirft – bewusst oder unbewusst – eine sogenannte „kognitive Landkarte“, die Ausdruck seines individuellen Denk- und Wahrnehmungssystems ist und in die neue Reize integriert und eingearbeitet werden können. Diese neuen (äußeren) Reize müssen dabei nicht zwingend sinnlich unmittelbar wahrnehmbar sein. Auch reine Denkvorgänge können zu neuen Einsichten (sogenanntes „Aha-Erlebnis“) führen. Zu Bedenken gilt es jedoch, dass nicht jede neue Einsicht oder jedes neu Erlernte auch zu dem (vom Lehrenden) erwünschten Effekt führt. Gerade in Bezug auf Verhaltensänderungen gilt es zu beachten, dass die wichtigsten Verhaltenselemente in sozialen Situationen erlernt werden. Dies führt auch zu der Erkenntnis, dass Lernende immer in ihrer ganz individuellen Art und Weise neuen Lernstoff mit ihrem schon bestehenden Denk- und Wahrnehmungssystem in Beziehung setzen. Und unter Einbezug bestehender Einstellungen, Arten der Wahrnehmungsverarbeitung, Haltungen oder auch die Art der Situationswahrnehmung wird das neu Erlernte aktiv verarbeitet bzw. integriert. Als Ergebnis entscheidet der Lernende dann, ob es sich „lohnt“, z.B. sein Verhalten zu ändern oder nicht. Es sollte auch nie außer Acht gelassen werden, dass das neu Erlernte durchaus auch ein völlig anderes Resultat z.B. bezgl. der Verhaltensänderung haben kann, als angestrebt; so ist es denkbar, dass auch unerwünschte Verhaltensweisen sogar verstärkt werden.

3.2 Der Konstruktivismus

Auch der Konstruktivismus ist geprägt von einer Vielzahl unterschiedlicher Spielarten; Drees 2013 (S. 85) nennt als häufigste Varianten den radikalen Konstruktivismus, den gemäßigten, den sozialen und den interaktionistischen Konstruktivismus sowie den Konstruktivismus der Erlanger Schule und den Situated Cognition Ansatz, die sich z.T. noch in Unterformen oder Untertheorien aufsplittern. Da eine genaue Beschreibung aller Ansätze den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird auch hier nur der Versuch unternommen, die Hauptmerkmale des Konstruktivismus herauszuarbeiten. Dieser Versuch erhebt demnach auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ein zentrales Abgrenzungsmerkmal zum Kognitivismus ist die Art und Weise der der Informationsverarbeitung des Lernenden. Spricht der Kognitivismus von einem aktiven Informationsverarbeitungsprozess, so geht der Konstruktivismus von der Prämisse aus, dass der Lernende Wissen bzw. Erkenntnis in seiner je individuellen Art produziert (Drees 2013, S. 87). Das bedeutet auch, dass das Bild von der Wirklichkeit und der Erkenntnis keine analoge oder objektive Abbildung ist, sondern eine Konstruktion aus Begriffen und Kategorien darstellen, die immer auch von den gesellschaftlichen Umständen beeinflusst sind (Finn 2008, S. 26). Somit ist Wissen auch nicht von einem Menschen auf den anderen übertragbar (operationale Geschlossenheit). Der Mensch wird zwar als ein gegenüber anderen Menschen, aber auch gegenüber der Umwelt strikt abgegrenztes System betrachtet (Autopoiesis), das sich selbst organisieren und erhalten muss (ebd.). Und dieses System setzt sich aus einzelnen Elementen zusammen, deren Beziehungen untereinander wiederum die Eigenschaften des Systems definieren (ebd.). Andererseits können Impulse oder Reize aus der Umwelt trotz dieser Geschlossenheit und Abgegrenztheit zu Erkenntnis führen, indem sie die bisherigen Wirklichkeitskonstrukte in Frage stellen bzw. stören (Perturbation) (ebd., S. 90), so dass die individuelle Wirklichkeit des Einzelnen neu konstruiert werden muss (ebd., S. 88). Diese Konstruktionsleistungen können bewusst oder unbewusst vonstatten gehen und werden immer den schon bestehenden Strukturen angepasst (Strukturdeterminiertheit) (ebd.). Die Erkenntnisse selbst werden stets zueinander in Zusammenhang gebracht und stehen unter ständigem Selektionsdruck; d.h. sie müssen sich in der Praxis bewähren (Viabilität) (ebd., S. 89).

[...]


[1] Bei personenbezogenen Bezeichnungen werden zur besseren Lesbarkeit nur die männlichen Formen verwendet. Sie bezeichnen jedoch immer Personen beiderlei Geschlechts.

[2] „Migranten“ schließt in dieser Arbeit alle Personen mit Migrationshintergrund in erster, zweiter, dritter etc. Generation mit ein

[3] „Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe“ (Quod licet Iovi, non licet bovi ) Terenz (römischer Komödiendichter)

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Kultursensible Altenpflege in ländlichen Gebieten mit niedrigem Migranten-Anteil
Hochschule
FernUniversität Hagen  (KSW)
Veranstaltung
Modul 3D: Betriebliches Lernen und Organisationsentwicklung - Themenfeld: Lebenslanges Lernen und berufliche Bildung
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
29
Katalognummer
V279817
ISBN (eBook)
9783656736165
ISBN (Buch)
9783656736172
Dateigröße
903 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interkulturelle, Altenpflege, ambulante Pflege, Kultur
Arbeit zitieren
Barbara Diepold (Autor:in), 2014, Kultursensible Altenpflege in ländlichen Gebieten mit niedrigem Migranten-Anteil, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279817

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