Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Begriffsbestimmung: Was ist eigentlich Erziehung?
2.1. Prämissen der Erziehung
2.2. Methoden der Erziehung im geschichtlichen Kontext
2.3. Erziehung ist kinderfeindlich
3. Kindertagespflege: Bildung ohne Erziehung
3.1. Zeitliche Perspektiven im Umgang mit Problemsituationen
3.2. Zukunft ohne Zukunftspläne
3.3. Der Pädagogische Gegenteileffekt
4. Antipädagogische Grundsätze als Ausweg aus dem Dilemma Erziehung
4.1. Das Notwehrprinzip
4.2. Die Rechte der Kinder
4.3. Wertevermittlung durch Vorbildverhalten
4.4. Ergebnisse antipädagogischer Grundsätze
5. Antipädagogische Forderungen im sächsischen Bildungsplan
6. Quellennachweis
7. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Schaut man sich den sächsischen Bildungsplan an, dann kann man immer wieder lesen, dassneben der Bildung auch die Erziehung eine große Rolle in der fachlichen Qualitätserhebung inder Arbeit einer Tagespflegeperson spielt. Hat man sich mit dem Begriff „Erziehung“ noch niekritisch auseinandergesetzt, dann fühlt sich diese Forderung nach beispielsweise derfrühkindlichen Erziehung ganz alltäglich und normal an. Als ich jedoch in einem Buch vonAlice Miller las, jede Form von Erziehung sei Bevormundung,1 habe ich große Zweifelbekommen, wie ein richtiger Umgang mit Kindern aussehen muss und welche Rolle dieErziehung dann noch spielen sollte. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich auch mitdem Phänomen des Wiederholungszwanges. Demzufolge ist der Umgang mit Kindern sehrstark geprägt, von den eigenen frühkindlichen Erfahrungen, die unbewusst übernommenwerden, auch dann wenn sie dem eigenen Selbstbefinden geschadet haben. Das Recht aufgewaltfreie Erziehung steht in Deutschland per Grundgesetz Artikel § 1631 Abs. 2 BGB jedemKind zu. Im Wortlaut heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. KörperlicheBestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sindunzulässig.“2 Aber was ist darunter zu verstehen? Auch wenn Kinder nicht (mehr) geschlagenwerden, so können sie einem Erwachsenen doch nichtsdestotrotz schutzlos ausgeliefert sein, indem der Erwachsene das Kind gar zu sehr nach seinem Bilde zu formen versucht. Auch durchgeschickte Manipulationsversuche wird ein Kind gewaltvoll erzogen. In dem Buch vonEkkehard von Braunmühl mit dem Titel „Zeit für Kinder“3 habe ich viele Situationen ausmeinen eigenen Erfahrungen der Kindheit wiedererkannt, aber leider auch sehr aktuelles ausmeinem direkten Umfeld als Tagespflegeperson, worüber ich zunächst ratlos, teilweise auchschockiert war. Es gibt viele Bücher, die über die Schädlichkeit der Erziehung berichten undich fragte mich, genau wie Alice Miller einst: „Warum mag dieses Wissen so wenig in derÖffentlichkeit zu verändern?“4 Aus meinem anfänglichen Bauchgefühl, dass etwas im Umgangmit Kindern in unserer Gesellschaft noch nicht stimmig ist, wurde Gewissheit. Der Schlüsselzur Veränderung der Einstellung zu Kindern, findet sich in einer neuen bzw. anderenDenkrichtung: Der Antipädagogik. Ich möchte deshalb in dieser Arbeit darlegen, warum ich es wichtig finde, diesen Weg einzuschlagen bzw. sich darüber bewusst zu werden, welche Folgen Handlungen haben können, wenn sie als erzieherische Maßnahmen eingesetzt werden und welche menschlichen Potentiale und Fähigkeiten durch diese wegen des Gegenteileffektes verhindert werden.
2. Begriffsbestimmung: Was ist eigentlich Erziehung?
Das Wort „erziehen“ geht auf irziohan ( „herausziehen“ = althochdeutsch) zurück und nimmtunter dem Vorbild des Wortes educare (lateinisch für „großziehen“, „ernähren“, „erziehen“)bald die Lehnbedeutung „jemandes Geist und Charakter bilden und seine Entwicklungfördern“ an. Im allgemeinen versteht man darunter die von Erziehungsnormen geleiteteEinübung von Kindern und Jugendlichen in diejenigen körperlichen, emotionalen,charakterlichen, sozialen, intellektuellen und lebenspraktischen Kompetenzen, die in einergegebenen Kultur bei allen Menschen vorausgesetzt werden. Über Erziehung im Konkretengibt es ziemlich viele Ansichten, weil viele Menschen, die mit Kindern in Berührung kommeneine Meinung über Erziehung haben und weil alle Menschen in ihrer Kindheit mehr oderweniger selbst erzogen worden sind.
2.1. Prämissen der Erziehung
Allen Ansichten scheint eines gemein zu sein: Sie werden an ihren erzieherischen „Erfolgen“ausgerichtet. Des weiteren gehen sie von den Voraussetzungen aus: Der Mensch seioffensichtlich von Natur aus ein erziehungsbedürftiges Wesen und er sei das einzige Wesen,das erzogen werden müsse.5 Demnach ist die Pädagogik unzufrieden mit dem Menschen, sowie er jeweils ist und möchte ihn verändern. Es wird dabei von folgenden Prämissenausgegangen: „Der Mensch ist ein Kulturwesen. Um Mensch zu werden, bedarf es derErziehung und Bildung, in seinen spezifischen Leistungen ebenso wie in seiner
Grundstruktur.“6 Dabei setzt „Erziehung Ziele der Lebensgestaltung. Erziehung formt Werthaltungen, die den “Kurs“ fürs Leben setzen, darüber bestimmen, was, individuell undgesellschaftlich, als lebenswert und als richtige Lebensführung betrachtet und angestrebtwird.“7 Ekkehard von Braunmühl nennt die Erziehung ihrem Wesen nach intolerant,misstrauisch, totalitär und auf Entselbstung zielend, was er als Kinder-, Menschen- undLebensfeindlichkeit erachtet. Er erkennt, dass eine erzieherische Einstellung das Recht desKindes auf Respektierung seiner Existenz wie sie ist, verneint. „Der Anspruch andereMenschen zu verbessern, zu ändern, kann durch keinen Trick der Welt mit den Ideen vonToleranz, Respekt und Vertrauen in Übereinstimmung gebracht werden.“8 Wenn man sich dasLeben in unserer Gesellschaft für ein Kind vorstellt, dann trifft man sehr oft auf Menschen,welche einen Konflikt zwischen den Generationen konstruieren. Die Kinder seien heutzutagegar nicht mehr erzogen, sie kennen keinen Respekt mehr, sind frech und störrisch. Das hat fürmich viele Fragen aufgeworfen, was überhaupt Erziehung bedeuten kann. Daher habe ich michauf den Weg in die Geschichte der Kindheit begeben und folgendes herausgefunden. „DieGeschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“9
2.2. Methoden der Erziehung im geschichtlichen Kontext
Die früheren Pädagogen sahen die Hauptaufgabe der Erziehung darin, den sogenanntenEigensinn, den Trotz und die Heftigkeit kindlicher Gefühle so früh wie möglich zu brechen,um für immer Herr des Kindes zu sein. Sie sollten zu tugendhaften, rechtschaffenen Menschengemacht werden, wobei kein Anlass versäumt werden dürfte an ihnen zu arbeiten. Auch dieLiebe zur Ordnung müsste man den Kindern einpflanzen und vor allem müsste der Gehorsamgegen die Eltern und Erwachsene im allgemeinen dem Kind anerzogen werden. Der Grunddafür war die Überzeugung: „Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wirdauch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft gernunterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem Willen zu handeln. Dieser
Gehorsam ist so wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams.“10 Das Ziel dieser „schwarzen Pädagogik“ 11 wenn sich die Kinder nicht mehr erinnerten, dass sie jemals einen eigenen Willen gehabthatten. Mit dieser Einstellung raubt man dem Kind die Fähigkeit Gefühle spontan erleben zukönnen, man beraubt es seiner Vitalität. Die Mittel der Unterdrückung des Lebendigem sind:Fallen stellen, lügen, Listanwendung, Verschleierung, Manipulation, Liebesentzug, Isolierung,Misstrauen, Demütigung, Verachtung, Spott, Beschämung und auch Gewaltanwendung. AliceMiller zitiert sehr viele der erzieherischen Forderungen, die früher mit körperlicher Züchtigungumgesetzt wurden, was heute gesellschaftlich nicht mehr toleriert ist. Aber sie sagt auch: „Dieeinstige physische Verstümmelung, Ausbeutung und Verfolgung scheint in der Neuzeit immermehr durch seelische Grausamkeit abgelöst worden zu sein, die außerdem mit demwohlwollenden Wort ’Erziehung’ mystifiziert werden. Schläge sind nur eine Form derMisshandlung [] Aber neben der Prügelstrafe gibt es eine ganze Skala von raffiniertenMaßnahmen „zum Wohle des Kindes“, die für das Kind schwer durchschaubar sind undgerade deshalb oft verheerende Wirkungen auf sein späteres Leben haben.“12 Diese Worteklingen sehr hart und ich denke, so extrem kann man diesen Satz nach über 30 Jahren nachErscheinen ihrer Bücher nicht mehr stehen lassen. Aber ich möchte gern diese Extremformbeibehalten, denn die meisten Menschen, die sich heute um kleine Kinder kümmern, habenihre eigene Kindheit in diesen Extremen noch erleben müssen. Sie wurden erzogen unddepersonalisiert. Sie mussten lernen, zu wollen, was sie wollen sollten, nicht was sie selbergewollt hätten. Sie mussten ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu Gunsten derUnterwerfung unter ihre Eltern/ Erzieher von ihrem Selbst abtrennen und sie seitdem imUnbewussten in der Verdrängung halten. Das interessante ist laut Alice Miller und vielenanderen Autoren, die sich kritisch mit dem Begriff Erziehung auseinandergesetzt haben, dassdieses erlittene Leid in einer Art Körpergedächtnis abgespeichert ist und in Form einesWiederholungszwanges zutage tritt, wenn man selbst die Elternschaft erreicht. Das heißt manwiederholt die erlittenen Demütigungen seiner Kindheit und wird dadurch vom Opfer zumTäter, weil: „Die Abhängigkeit des Kindes von der Liebe seiner Eltern es ihm auch später unmöglich macht, die Traumatisierungen zu erkennen, die oft das ganze Leben lang hinter den Idealisierungen der Eltern der ersten Jahre verborgen bleiben.“13
2.3. Erziehung ist kinderfeindlich
Wenn ein Erwachsener ein Kind nicht unbefangen annehmen kann, wie es ist bzw. wie es seinwill, dann kann es sein, dass er dem Kind gegenüber pädagogisch/ erzieherisch eingestellt ist.Er verhält sich dann nicht spontan, echt und ehrlich, weil er immer über bestimmteErziehungsziele und Wunschbilder verfügt, nach denen er Spielzeuge, Ereignisse,Freundschaften etc. immer danach beurteilt, welche Wirkung sie auf das Kind haben, wie siesie beeinflussen. Er versucht das Verhalten eines Kindes an diese Ziele anzugleichen und gerätin Panik, wenn Ereignisse stattfinden, die diese Ziele gefährden. Wie muss man sich dann aberKindern gegenüber verhalten, um kinderfreundlich zu werden? Kinderfreundlichkeit heißtnicht, dass man ein Kind ganz wild aufwachsen lassen kann. Was es braucht, ist der Respektseiner Bezugsperson, die Toleranz für seine Gefühle, die Sensibilität für seine Bedürfnisse undKränkungen, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit - und nicht erzieherischeÜberlegungen - dem Kind Grenzen setzt.
3. Kindertagespflege: Bildung ohne Erziehung
„Kinder, die man respektiert, lernen Respekt. Kinder die man bedient, lernen dienen, lernendem Schwächeren dienen. Kinder, die man so liebt, wie sie sind, lernen auch Toleranz. Aufdiesem Boden entstehen ihre eigenen Ideale, die gar nicht anders als menschenfreundlich seinkönnen, weil sie aus der Erfahrung der Liebe hervorgehen.“14 Wie stellt man das impädagogischen Kontext der Tagespflege an, ohne das Kind zu erziehen bzw. es zumanipulieren? Dazu muss man sich zunächst einmal bewusst werden, welche Handlungeneinen schädlichen Effekt haben könnten. Als Faustregel kann dabei gelten: Alle Eingriffe, diedie Persönlichkeit eines Kindes angreifen, damit es später einmal im Leben (Schule, Beruf) seinen Platz finden kann, sind Erziehung und können negative Folgen für das Selbstbewusstsein und das Selbstwertgefühl eines Kindes haben. Und das wäre fatal, denn: „Jevollständiger ein Mensch depersonalisiert wurde, desto aussichtsloser sucht er in sich selbstnach etwas Eigenem, desto schwerer fällt es ihm, auch vor sich selbst die Verantwortung fürsein Leben zu übernehmen, desto konsequenter misstraut er sich und allen anderen, destointoleranter, pädagogischer, totalitärer ist sein Denken. Er ist zur existentiellen Hilflosigkeit, zurRolle des Opfers verdammt.“15 Deshalb müssen wir sehr darauf achten, wie wir mit unserenKindern umgehen. Und man darf niemals vergessen, dass jedes Kind, welches von liebendenEltern Erziehungsmaßnahmen unterworfen wird, außer der Liebe auch zur Kenntnis nimmt,dass seinen Eltern die angestrebten Erziehungsziele, wie beispielsweise Sauberkeit, Ordnung,Pünktlichkeit, Fleiß, Ehrlichkeit und so weiter, wichtiger sind als sein Wohlbefinden.16
3.1. Zeitliche Perspektiven im Umgang mit Problemsituationen
Wenn man sich über die Zukunft eines Kindes Gedanken macht, kommen Eltern und Erzieherimmer wieder an einen Punkt, an dem sie Bedenken haben und sich Sorgen machen, wie siedas Kind ausreichend vorbereiten können, damit es in unserer Leistungsgesellschaft nichtscheitert. Braunmühl schlägt ein Schema vor, mit welchem man diese Sorgen zunächst einmalsortieren kann.
P1 beschreibt die Tagesperspektive. Hier geht es um einen harmonischen Tagesablauf, derbeim Auftreten einer schwierigen Situation schnell wiederhergestellt werden soll.P2 beschreibt die kurzfristige Zukunftsperspektive. Man hat die Befürchtung, dass das heutigeProblem auch morgen oder übermorgen auftauchen wird, wenn man jetzt nicht richtig handelt.P3 überträgt die Sorgen auf bestimmte Lebensabschnitte und beschreibt die mittelfristigeZukunftsperspektive.
P4 beschreibt die langfristige Zukunftsperspektive, bei der die Kinder als zukünftige Erwachsene betrachtet werden. Hier wird gefragt, ob das Kind ein sinnvolles, glückliches Leben führen wird.
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1 Vgl. Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 119.
2 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002, S. 324.
3 Ekkehard von Braunmühl: Zeit für Kinder, 2. Auflage 2010, Leipzig, Erstveröffentlichung 1978.
4 Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 32.
5 Vgl. Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung, Leipzig, 1. Auflage 2006 (Neuauflage), S. 64.
6 Alice Miller: Du sollst nicht merken. Die Realität der Kindheit und die Dogmen der Psychoanalyse, Frankfurt am Main, 1981, S. 37.
7 Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik, 2006. S. 70f.
8 Ebd. S. 73.
9 De Mause: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 1980. S. 12.
10 Vgl. Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 27.
11 Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik, Berlin, 1977.
12 Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1983, S.18 und S 33. 4
13 Alice Miller: Am Anfang war Erziehung, 1983, S. 18.
14 Alice Miller: Du sollst nicht merken, 1981, S. 126. 5
15 Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik, 2006, S. 13.
16 Vgl. Ekkehard von Braunmühl: Zeit für Kinder, 2010, S. 21. 6