Vergleich der Bildungsansichten von Ibn Haldun und Wilhelm von Humboldt


Thèse de Master, 2014

130 Pages, Note: 2


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Forschungsstand
1.3 Forschungsfrage
1.3 Methodische Vorgehensweise und Aufbau
1.4 Darstellung der herangezogenen Literatur

2. Historie und Bildungsbegriff
2.1 Kurzer Abriss der Bildungsgeschichte
2.1.1 Europa
2.1.2 Islamische Welt
2.2 Bildungsbegriff

3. Abū Zaid ‘Abdurrahmān bin Muḥammad bin Ḫaldūn al-Ḫadramī (Ibn Ḫaldūn)
3.1 Sein Leben und Wirken
3.2 Sein Werk „Al-Muqaddima‘“
3.3 Seine Ansichten über Bildung
3.3.1 Themen in der Grundlagendidaktik bei Ibn Ḫaldūn
3.3.2 Curriculum im Tertiärbereich
3.3.3 Methoden des Unterrichts
3.3.4 Formale und nicht-formelle Bildung
3.3.5 LehrerInberuf
3.3.6 Berufsausbildung
3.3.7 Zentrale Bedeutung der Logik
3.3.8 Erkenntnis und Begreifen
3.3.9 Sprachlehre

4. Wilhelm von Humboldt
4.1 Sein Leben und Wirken
4.2 Seine Bildungstheorie
4.2.1 Anthropologie - das Menschenbild
4.2.2 Der Bildungszweck
4.2.3 Bedingungen für die Bildung
4.2.4 Umsetzung seiner Bildungstheorie
4.2.5 Neuordnung des Bildungswesens
4.2.6 Der Königsberger Schulplan
4.2.7 Religiöse und sittliche Bildung
4.2.8 Poesie und Bildung
4.2.9 Die Bedeutung der Sprache

5. Ibn Ḫaldūn und Wilhelm von Humboldt im Vergleich ihrer Bildungsansichten
5.1 Die Wissenschaften (Definition und Einteilung)
5.2 Lehrinhalte
5.3 Lehrmethoden
5.4 Formale Bildung
5.5 LehrerInsein und LehrerInberuf
5.6 Berufsausbildung
5.7 Vernunft und Logik
5.8 Erkenntnis und Begreifen
5.9 Sprache und Sprachlehre
5.10 Menschenbild
5.11 Zweck und Aufgabe der Bildung
5.12 Morallehre und religiöse Erziehung
5.13 Geschichte und Geschichtswissenschaft
5.14 Poesie und Dichtkunst

6. Resümee

7. Schluss

8. Literaturverzeichnis

9. Anhang

10. Danksagung

11. Kurzfassung

12. Abstract

1. Einleitung

Ibn Ḫaldūn, den man aus heutiger Sicht als einen Soziologen und Historiker betrachten kann, war ein Gelehrter, der im 14. Jahrhundert lebte. Er hat zahlreiche Werke in verschiedenen Disziplinen verfasst, Sein Hauptwerk ist das „Kitāb al-‘ibar“, welches aus sieben Bänden besteht. Das erste Band „al-Muqaddima“ enthält viele methodologische und geschichtsphilosophische Thesen. Das Anliegen dieser Arbeit ist es, seine Ansichten über die Bildung von seinem Hauptwerk „al-Muqaddima“ zu erforschen und diese mit den Bildungsansichten des Wilhelm von Humboldt, unter Beachtung der großen historischen, kulturgeschichtlichen und kulturellen Differenz der beiden Autoren, zu vergleichen.

1.1 Einführung in die Thematik

Ibn Ḫaldūn ist gewiss einer der wichtigsten Wissenschaftler und Denker in der islamischen Geschichte (vgl. Hassan 1998, S. 28). Seine Ansichten und Thesen beschäftigen und bewegen die ganze Welt. Allein sein Werk „al-Muqaddima“ wurde aus dem Arabischen in verschiedene Sprachen, wie Türkisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Persisch, Urdu, Indische Portugiesisch und Hebräisch übersetzt (vgl. Fischel 1967, S. 9f). Sein besonderer Zugang zur Geschichts-philosophie und Etablierung der Geschichtswissenschaften haben neue Wege im Verständnis von Wissenschaften hervorgebracht. In seinem großen Werk „al-Muqaddima (Die Einführung)“ behandelt er viele sozial-ökonomische, sozial-ethische und sozialgeisteswissenschaftliche Themen.

Die Bekanntheit Ibn Ḫaldūn’s im Westen begann erst im 19. Jahrhundert mit der Übersetzung seines Werkes „al-Muqaddima“. Der erste Übersetzer war der österreichische Historiker Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall (1774-1856), der auch Yusuf bin Hammer genannt wurde. Er machte in seinem Werk “Notice sur L'Introduction â la Connaisance de L'Histoire, Celebre Ouvrage Arabe d'Ibn Khaldoun“ die ersten fünf Teile des „al-Muqaddima“ bekannt. Nach ihm hat Quatremère de Quincy (1852) den Originaltext des „al-Muqaddima“ und William McGuckin de Slane (1863) dessen französische Übersetzung veröffentlicht und somit Ibn Ḫaldūn’s Ansichten der westlichen Welt zugänglich gemacht (vgl. Gürkan 1967, S. 224).

Möglicherweise haben einige Wissenschaftler im Westen im 18. Jahrhundert von seinen Überlegungen über soziologische und geschichtsphilosophische Phänomene gehört oder gelesen. Zu denen könnte auch der Deutsche Wilhelm von Humboldt gehören, der sich wissenschaftlich und systematisch mit dem Bildungsverständnis um das Jahr 1800 beschäftigte. Humboldt begründete die neuhumanistische Bildungstheorie. Es geht bei seiner Bildungstheorie um individuelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Bildung. Ganz wichtig ist auch die Frage nach den Inhalten von Bildung und wie man Bildung vermittelt (Didaktik).

Auch Ibn Ḫaldūn machte sich tiefgründige Gedanken über ein gut funktionierendes Erziehungsmodell und eine geeignete Bildungstheorie. Diese Ansichten kann man auch in seiner „al-Muqaddima“ finden.

Da zur Zeit der Entwicklung von Bildungstheorien im Westen ab dem 18. Jahrhundert auch allmählich die Werke und Ansichten von Ibn Ḫaldūn in der hiesigen Sprache zu Tage kamen, könnten die Bildungstheoretiker auch von seinen Ansichten erfahren haben.

Auf diesem Hintergrund möchte ich in meiner Masterarbeit der Frage nachgehen, ob mögliche Berührungspunkte bzw. Parallelen zwischen den Bildungsansichten von Ibn Ḫaldūn und dem Deutschen Bildungstheoretiker Wilhelm von Humboldt zu erkennen sind. Ziel der Arbeit ist es, einen Vergleich über die Bildungsansichten der beiden Wissenschaftler zu bieten.

Mein Interesse an dieser Forschung resultiert daraus, dass ich im Sommersemester 2012 in der Lehrveranstaltung „Religionssoziologie und Religionspsychologie – Islam als soziales Phänomen“ über Ibn Ḫaldūn eine Seminararbeit zum Thema „ʿUmrān - Ein zentraler Begriff bei Ibn Ḫaldūn“ geschrieben habe. Dabei habe ich mich insbesondere mit dem Werk „al-Muqaddima“ befasst. Ibn Ḫaldūn’s Ansichten haben mich während der Seminararbeit so bewegt, dass ich in kürzester Zeit mit deren Ausarbeitung fertig war. Daher wollte ich mich noch intensiver mit Ibn Ḫaldūn beschäftigen und seine Gedanken insbesondere über Bildung erforschen. Daneben interessieren mich in dieser Hinsicht auch die Bildungstheorien von Wilhelm von Humboldt, der einer der ersten Bildungstheoretiker des 18. Jahrhunderts in Deutschland war. Er hat die Berliner Universität mitbegründet, die heute bekannt ist unter seinem Namen als Humboldt-Universität.

1.2 Forschungsstand

Es gibt viel Literatur über Ibn Ḫaldūn, über sein Werk „al-Muqaddima“, und seine Ansichten über verschiedene Themen in diesem Werk.

Es gibt auch viel Literatur über Wilhelm von Humboldt und seine Bildungstheorien. Sie sind im Literaturverzeichnis angegeben.

Ein Vergleich der Bildungsansichten von Ibn Ḫaldūn, nicht nur mit Wilhelm von Humboldt sondern auch mit einem sonstigen westlichen Bildungstheoretiker, ist bis heute jedoch ein unerforschtes Gebiet. Zu dieser Thematik gibt es folglich auch kaum Literatur.

1.3 Forschungsfrage

Welche möglichen Berührungspunkte, Parallelen und Unterschiede gibt es zwischen den Bildungsansichten von Ibn Ḫaldūn (14. Jahrhundert) und den Bildungstheorien von Wilhelm von Humboldt (18. Jahrhundert) unter Beachtung der großen historischen, kulturgeschichtlichen und kulturellen Differenz der beiden Autoren?

1.3 Methodische Vorgehensweise und Aufbau

Die Forschungsfrage wird in Form einer Quellen- bzw. Literaturarbeit bearbeitet. Der methodische Ansatz bei der Forschung ist theoretisch-hermeneutisch. „Wissenschaftliche Verfahren, die auf eine solche rationale, methodisch durchdachte und überprüfbare Auswertung von sinnhaltigen Dokumenten, insbesondere von Texten, abzielen“ (Klafki, et.al. 1971, S. 128) werden als hermeneutische Methoden bezeichnet.

Diese Masterarbeit ist folgendermaßen aufgebaut:

In der Einleitung wird in das Thema eingeführt, in dem die Fragestellung herausgearbeitet und formuliert wird. Daneben wird die methodische Vorgehensweise, wie dieses Thema bearbeitet wird begründet. Außerdem wird am Ende der Einleitung, die für die Masterarbeit herangezogene wissenschaftliche Literatur dargestellt und erläutert. Die Primärliteratur ist das Buch „al-Muqaddima“ von Ibn Ḫaldūn, das, wie schon erwähnt in vielen Sprachen vorhanden ist. Leider ist es kaum möglich Primärliteratur von Wilhelm von Humboldt in moderner deutscher Schriftsprache zu finden. Einige Texte, die ich von ihm fand, die durch ihn veröffentlich wurden, sind für mich schwer entzifferbar, weil sie in der altdeutschen Schriftsprache verfasst worden sind. Allerdings gibt es aber seine „Werke in fünf Bänden“, welche von Andreas Flitner und Klaus Giel im Jahre 1960 herausgegeben wurden. Ich werde mich insbesondere mit diesen Werken beschäftigen. Außerdem werde ich des Öfteren auch auf Sekundärliteratur zurückgreifen. Nach Darstellung der Primärliteratur wird zuerst noch ein kurzer Überblick über die Bildungsgeschichte in Europa und der islamischen Welt dargeboten und anschließend der Bildungsbegriff in beiden Kulturen verglichen.

Im Hauptteil wird, nach dem näheren Betrachten der lebensgeschichtlichen Besonderheiten beider Wissenschaftler, die in der Einleitung begründete Fragestellung untersucht. Vergleiche, Parallelen, Probleme, Widersprüche oder auch Einwände werden dargestellt und im Text diskutiert.

Den Schlussteil der Masterarbeit bilden eine Zusammenfassung und eine Diskussion der Ergebnisse. Die Ergebnisse werden in einen Bezug mit der spezifischen Fragestellung gebracht und weitere Forschungsfragen im Kontext der Thematik werden benannt.

1.4 Darstellung der herangezogenen Literatur

Die erste Primärliteratur ist das Buch „al-Muqaddima“ von Ibn Ḫaldūn. Sie ist die Einleitung zum Hauptwerk Kitāb al-‘ibar. Geschrieben hat Ibn Ḫaldūn die „al-Muqaddima“ zwischen den Jahren 1375 und 1378. Das Buch wurde ins Türkische, Englische, Französische, Deutsche, Persische, Urdu, Indische Portugiesische und Hebräische übersetzt. In diesem Werk behandelt er viele sozial-ökonomische, sozial-ethische und sozialgeisteswissenschaftliche Themen, sowie die Geschichte der Araber und Berber. Mit diesem Buch etablierte er eine neue Wissenschaft der Geschichte. Näheres zum Buch „al-Muqaddima“ kann man im Punkt 3.2 detailliert nachlesen.

Als zweite Primärliteratur wurden die „Werke in fünf Bänden“ von Wilhelm von Humboldt herangezogen, welche von Andreas Flitner und Klaus Giel im Jahre 1960 herausgegeben wurden.

Die fünf Bände sind thematisch geordnet:

I. Schriften zur Anthropologie und Geschichte
II. Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik / Die Vasken
III. Schriften zur Sprachphilosophie
IV. Schriften zur Politik und zum Bildungswesen
V. Autobiografische Dichtungen, Briefe / Kommentare und Anmerkungen zu Band I – V / Anhang mit weiteren Schriften zur Sprachphilosophie

Der III. Band, die Schriften zur Sprachphilosophie, ist der meist verkaufte und somit der meist gelesene unter allen fünf Bänden. Die Spannweite der Interesse Humboldts zeigt sich an den vielen Themen, die er behandelt. Im I. Band geht es für Humboldt mehr um die Theorie von der Anthropologie des Menschen und der Geschichtswissenschaft. Im Band II findet man Humboldts Bericht über seine Sprachreise zu den Vasken (bzw. “Basken”). Im III. Band widmet er sich der “Sprachwissenschaft”. Im Band IV erleben wird einen politischen Humboldt mit all seinen Amtsschriften. Daneben interessiert uns dieses Band auch aufgrund seiner Ansichten über das Bildungswesen. Band V beinhaltet Briefe von ihm und ein Nachwort des Herausgebers.

Neben diesen beiden Primärquellen von Ibn Ḫaldūn und Humboldt werden zahlreiche Sekundärliteratur und andere Literatur als Quelle herangezogen, deren Auflistung man dem Literaturverzeichnis entnehmen kann.

2. Historie und Bildungsbegriff

Da für die Bearbeitung der Forschungsfrage die Beachtung der historischen und kulturgeschichtlichen Differenzen zwischen Ibn Ḫaldūn und Wilhelm von Humboldt grundlegend ist, soll am Anfang der Arbeit vorerst ein kurzer Überblick über die Bildungsgeschichte in Europa und in der islamischen Welt gegeben werden, damit die Besonderheiten und Differenzen beider Kulturen erkennbar werden.

Anschließend wird der Begriff der „Bildung“ in beiden Kulturen mit ihren verschiedenen Definitionen dargestellt und verglichen.

2.1 Kurzer Abriss der Bildungsgeschichte

Im nächsten Abschnitt wird ein grober Überblick über die Bildungsgeschichte in Europa zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit gegeben.

2.1.1 E0uropa

Im europäischen Mittelalter war die katholische Kirche hauptsächlicher Bildungsträger, meistens in Kloster- und Lateinschulen. Im mittelalterlichen Weltbild waren Glaube, Religion, Staat und Kirche miteinander eng verbunden. Kuhlmann stellt diesbezüglich fest:

„Dabei ging es weniger um Erkenntnis oder Wahrheit (wie im Bildungsverständnis der griechischen Antike), als vielmehr um Bekehrung, Umkehr und Befreiung von Sünden. Mit dieser an sich positiven Hinwendung zu moralischen Fragen und einem in der Antike unbekannten Glauben daran, dass vor Gott alle Menschen gleich sind (auch Frauen, Fremde, behinderte Menschen), kam aber auch die Kehrseite des Glaubens an die Sündhaftigkeit des Menschen in die pädagogische Reflexion.“ (Kuhlmann 2013, S.19)

Im 16. Jahrhundert veränderte sich Europa schlagartig. Durch Manufaktur und Erfindung des Buchdruckes und Webstuhls änderte sich der traditionelle und familiäre Lebensstil der Bevölkerung. Viele Menschen wanderten in Großstädte aus, doch die Armut der Menschen stieg ständig an. Dank des Buchdruckes konnten sich die Menschen in vielen Bereichen selbständig geistlich weiterbilden. Das Vertrauen in die Kirche verlor langsam an Gewicht. „Die These des Kopernikus, dass sich die Sonne nicht um die Erde, sondern die Erde um die Sonne drehe, stellte mehr als einen Glaubenssatz der geistlichen Macht (die zugleich damals auch die weltliche war) in Frage.“ (Kuhlmann 2013, S. 20). Zeitgleich kam es unter anderem in der Theologie zu einer neuen Reformation durch Martin Luther. Diese Reformation bezog sich nicht nur auf die Theologie, sondern stellte die grundlegende Kirchenspaltung am Beginn der Neuzeit dar, welche eine große konfessionelle Auseinandersetzung auslöste. Es kam zum 30 jährigen Krieg zwischen Protestanten und Katholiken. Luthers Theologie beeinflusste in Deutschland den Bereich der Bildung sehr stark. Weil er der Bildung und der Schule einen hohen Stellenwert zuschrieb, wurden seine Ansichten über Bildung, Wissen, Lehren und Lernen institutionalisiert (vgl. Mugerauer 2011, S. 10).

Im Zuge der Neuzeit kam es in vielen europäischen Ländern zu weiteren Reformprozessen, auch im Bereich der Bildung. Einer der ersten Didaktiker dieser Neuzeit war Comenius, der verschiedene Lehrbücher schrieb. Er beschäftigte sich mit Fragen wie „was und wie gelernt und gelehrt“ werden soll. Auch verfasste er ein Schulbuch mit dem Namen "orbis sensualium pictus - gemalte Welt", in dem er die Buchstaben des Alphabets beschrieb. Außerdem entwickelte Comenius einen Lehrplan, der die Lehrinhalte untereinander verknüpfte und sprach in diesem Lehrplan auch alle Wege der Sinneswahrnehmungen an. Sein Buch „große Didaktik“ galt Jahrhunderte lang als Standardwerk für Lehrpersonen. (vgl. Kuhlmann 2013, S. 24). In diesem vertrat er folgende didaktischen Grundprinzipien: „zuerst das Allgemeine, dann die Details, - zuerst das Nahe, dann das Ferne, - zuerst das Leichte, dann das Schwere, - zuerst den Stoff, dann die Form, - zuerst das Beispiel, dann die Regel“ (Kuhlmann 2013, S. 25)

Im 18. Jahrhundert erlebte Europa seinen zweiten Umbruch. Die Menschen begannen der Vernunft einen hohen Stellenwert einzuräumen. Das Zeitalter der Aufklärung und die Suche nach den Wahrheiten, die außerhalb von religiösen Begründungen standen, brach herein. Der Europäer löste sich endgültig von der Kirche, für ihn war seine Selbstbestimmung das höchste Ziel.

Jean Jaques Rousseau (1712-1778) ist nach Immanuel Kant einer der bekanntesten Philosophen dieser Epoche. Im Jahre 1762 verfasste er seinen Roman „Emile oder über die Erziehung“. Darin beschrieb er die Entwicklungsphasen eines Kindes. „Das Buch wurde zu dem Erziehungsroman des 19. Jahrhunderts und prägte noch die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts nachhaltig. Rousseau entwarf ein Kind - quasi am "Reißbrett" -, um an ihm ein Ideal von Erziehung aufzuzeigen“ (Kuhlmann 2013, S. 33). Ein neues pädagogisches Prinzip, welches als „negative Pädagogik“ bezeichnet wird, ist bei Rousseau vorzufinden. In der Erziehung vor allem bis zum 12. Lebensjahr soll zu allererst mehr unterlassen als getan werden. In Bezug auf die Erziehung und Bildung von Mädchen besitzt er, obwohl er im Zeitalter der Aufklärung lebte, eine eigentlich wenig aufklärerische Haltung: „Mädchen sollen nur so viel Bildung erhalten, dass sie ihren späteren Mann bewundern und unterstützen können. Rousseau fordert die Pädagogen auf, die Spiele der Mädchen bewusst zu unterbrechen, damit sie früh lernen, sich zu fügen. Für ihn sind Mädchen "von Natur aus" weder selbstbestimmungsfähig noch ist ein solcher Zustand bei ihnen wünschenswert“ (Kuhlmann 2013, S. 36)

Pestalozzi, der von Rousseau’s Schriften so begeistert war, dass er sogar seinen Sohn nach ihm benannte, lebte in der gleichen Epoche und war einer der führenden Denker seiner Zeit. Seine Bildungsmethode versuchte „eine systematische und mit Anschauungsmaterial versehene Vermittlung der Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen durch eine besondere Lernumgebung, in der Kinder mit "Zahlen", "Formen" und "Wörtern" Erfahrungen sammeln konnten“ (Kuhlmann 2013, S. 40). Sein Hauptaugenmerk galt vor allem den Waisenkindern, die verwahrlost herumlebten. Er baute für sie Waisenheime, in denen auch Hauslehrer die Bildungsaufgaben übernahmen.

Ein dritter in dieser Epoche ist der bekannteste deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Sein höchstes Ideal war die. Seinen kategorischen Imperativ „Handle so dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann“ lernen alle SchülerInnen schon im Ethikunterricht des Gymnasiums auswendig. Erziehung zur Mündigkeit verläuft nach Kant in vier Stufen:

„1. Zunächst muss der Mensch im frühen Kindesalter diszipliniert, werden, d. h. seine "Wildheit" (seine Triebe) werden "bezähmt".
2. Daran anschließend soll er kultiviert werden, d. h. seine Geschicklichkeit und seine Fähigkeiten sollen ausgebildet werden (z. B. wenn er schreiben lernt).
3. Danach wird sein Verhalten zivilisiert, d. h. Umgangsformen und Manieren, die gesellschaftlich erwartet werden, sollen hier vermittelt werden.
4. Abschließend wird im letzten und wichtigsten Schritt das Kind moralisiert, d.h. es soll lernen mit der Vernunft einzusehen, welche Entscheidungen nach ethischen Gesichtspunkten richtig und falsch sind. Es geht also weniger um eine Belehrung über Moral als vielmehr um die Ausbildung der Fähigkeit, eine Wahl guter Zwecke für das eigene Leben treffen zu können“ (Kuhlmann 2013, S. 45).

Dieser formulierte Anspruch an ein selbstbestimmtes Leben wurde in vielen demokratischen Ländern in die Kinderrechte eingebunden.

Ungefähr ein Jahrhundert später begann in Europa in Bezug auf Bildung das Zeitalter der Reformpädagogik. Zu einem der berühmtesten Persönlichkeiten dieser Epoche zählt Maria Montessori (1870- 1952). Die Italienerin studierte als erste Frau Naturwissenschaften, später Pädagogik und Medizin. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Ärztin mit taubstummen und geistig behinderten Kindern. Nach ihrer Ansicht haben die Erwachsenen die Hauptaufgabe die Kinder zu fördern, ihre Selbständigkeit zu erwerben. Die Erzieher helfen dem Kind am besten, wenn sie eine Umgebung schaffen, in der es Selbständigkeit ausüben kann. Daher spricht sie die zentrale Forderung der Kinder an Erwachsene folgender Maßen aus: "Hilf mir, es selbst zu tun!" (Kuhlmann 2013, S. 105). Damit sie besser arbeiten können, entwickelte sie für Kinder Sinnesmaterialen mit folgenden besonderen Eigenschaften: „- Es soll sinnlich erfahrbar sein, aber jeweils vor allem einen Sinn ansprechen (z. B. Buchstaben aus Sandpapier) - Es soll eine selbständige, vom Erwachsenen unabhängige Fehlerkontrolle ermöglichen (z. B. Lösungen auf der Rückseite) - Es soll zur Ordnung aufrufen (von groß nach klein, von laut nach leise) - Es soll nur jeweils einmal vorhanden sein, damit die Kinder lernen, sich zu arrangieren.“ (Kuhlmann 2013, S. 106) Diese Sinnesmaterialien haben nur die Funktion von Arbeitsmaterialien, da Kinder zu deren Nutzung weder Spiel noch Märchen brauchen.

Im Jahr 1900 verfasste Sigmund Freud (1856-1939) „Die Traumdeutung“, eine wissenschaftliche Theorie des Traums, welche ein grundlegendes Werk der Psychoanalyse ist. In der von ihm gegründeten Psychoanalyse geht es um tiefenpsychologisches Denken, das unbewusste Wünsche, Triebe und Gefühle als wichtige Motive für das menschliche Handeln hervorbringt. Die Annahme ist, dass das menschliche Verhalten nicht allein durch die Vernunft zu erklären ist, sondern Gefühle ausschlaggebend für die Handlungen sind. „Tiefenpsychologisch denken heißt für pädagogisches Handeln, anzuerkennen, dass immer auch das Kind in mir mit dem Kind vor mir agiert. Erwachsene werden von unverarbeiteten, manchmal tief verdrängten Gefühlen beeinflusst“ (Kuhlmann 2013, S. 173). Mit der Tiefenpsychologie hat Freud vor allem Verhaltensauffällig-keiten von Kindern untersucht, damit er diese besser verstehen konnte. In einem Zitat von ihm heißt es: „Von allen Anwendungen der Psychoanalyse hat keine so viel Interesse gefunden, so viel Hoffnungen geweckt und demzufolge so viele tüchtige Mitarbeiter herangezogen wie die auf die Theorie und Praxis der Kindererziehung“ (Freud 1987, S. 7f).

Nach der totalen Zerstörung vieler Teile Europas im zweiten Weltkrieg unter anderem als Reaktion auf das autoritäre Regime des Nationalsozialismus hat sich im Bildungswesen ein neuer Trend entwickelt. Die Zeit der „Antiautoritären Pädagogik“ brach ein, denn vor allem Deutschland erfuhr davor 12 Jahre lang Gewalt, Gehorsam und Unterdrückung durch das nationalsozialistische Regime. Allen voran hatten die Eltern die autoritären undemokratischen Vorgaben dieses Regimes so satt, dass sie ihren Kindern totale Freiheiten gönnten. Typisches Erziehungsziel war es den Menschen glücklich zu machen. Nach Alexander Sutherland Neill’s Auffassung (1883-1973) ist ein glücklicher Straßenkehrer besser als ein neurotischer Wissenschaftler, daher dürften Kinder nicht zu etwas gezwungen werden, was sie nicht freiwillig selber tun (vgl. Kuhlmann 2013, S. 197).

Bildung und Erziehung aus heutiger Sicht hat verschiedene Facetten. Diese antiautoritäre Pädagogik hatte zu Folge, dass viele Kinder nicht mehr auf ihre Eltern und Lehrer hörten und ungehorsam wurden. Daher war in der Gesellschaft die Nachfrage an „Erziehungsberater“ enorm gestiegen. Fernsehsendungen wie „Supernanny“ waren nun angesagt (vgl. Kuhlmann 2013, S. 234). Außerdem entwickelten sich verschiedene neuere Erziehungsmodelle. Partizipartiv-Autoritative Erziehung ist ein Erziehungsstil, der von einigen Familientherapeuten seit den 70 er Jahren empfohlen wird.

„Nach Klaus Hurrelmann zeichnet sich der partizipartiv-autoritative Erziehungsstil dadurch aus, dass Erwachsene bei Konflikten immer auf der Suche nach einem fairen Kompromiss zwischen Eltern und Kindern bleiben. Erziehung ist in diesem Verständnis ein freundliches Begleiten und Mitfühlen. Es erfolgen zwar eindeutige Sanktionen, wenn Regeln überschritten werden, aber es gibt eine ständige Bereitschaft zum Dialog. Der partizipartiv-autoritative Erziehungsstil grenzt sich vom autoritären wie auch vom permissiven ab und will Achtung vor und Rücksichtnahme auf kindliche Bedürfnisse vermitteln. Die Ausübung elterlicher Autorität und die Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse sollen dabei ins Gleichgewicht kommen“ (Kuhlmann 2013, S. 237).

Daneben sind heute auch demokratische Erziehungsprogramme und Elterntrainings sehr gefragt. „Aus der Menge der Angebote stechen aus erziehungswissenschaftlicher Sicht die Elternprogramme "STEP" (Systematic Training for Effective Parenting) und "Starke Kinder brauchen starke Eltern" hervor, weil sie sowohl praktikabel, wie auch demokratisch sind und den autoritativen Anteil auf das notwenige Maß beschränken“ (Kuhlmann 2013, S. 240). Das Ziel bei diesen Programmen ist es, dass die Kinder lernen zu kooperieren.

Natürlich muss man aber hier klarstellen, dass einige neuzeitliche pädagogische Ansätze wie antiautoritäre Pädagogik oder aber bestimmte Elternprogramme nicht die Erziehungswissenschaft im Ganzen bestimmt haben, sondern nur ein Spektrum davon ausmachten. Ein anderer Bereich der Pädagogik etablierte sich ab den 1950‘er Jahren in Frankfurt. Die „Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung“ wurde gegründet und trieb den Aufschwung von der empirischen Forschung im deutschsprachigen Raum an. „Im Zentrum empirisch-analytischer Ansätze steht die Grundannahme, dass die in den Naturwissenschaften üblichen klassischen Methoden des Experiments und der Beobachtung auch auf die Erziehungswirklichkeit übertragen werden können um Erfahrungen zu gewinnen und die Erziehungswirklichkeit zu erklären.“ (Reithel, Dollinger, Hörmann 2009, S. 180). Als Begründer im deutschen Sprachraum war es für Lay und Meumann mit der Etablierung dieser Forschung ein Ziel, einerseits die Willkürlichkeiten in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu beseitigen und andererseits eine vernünftige und wissenschaftliche Praxis zu schaffen (vgl. Reithel, Dollinger, Hörmann 2009, S. 180f).

Ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts kommt es endgültig zu einer empirischen Kehre in der Erziehungswissenschaft. Das heutige Bildungswesen richtet sich seither stark nach PISA und Bologna. Seit jenem Jahr werden durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) die PISA-Studien durchgeführt („PISA“ ist die Abkürzung für "Programme for International Student Assessment“). Diese Studie ermöglicht es internationale Vergleiche der Leistungsfähigkeiten der SchülerInnen und der Schulsysteme zu machen. Zwei Stunden lang werden eine Million 15-Jährige getestet. Dabei geht es im Wesentlichen um Kompetenzen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften (vgl. Kuhlmann 2013, S. 243). Es geht nicht nur um das Wissen, sondern ob die SchülerInnen dieses Wissen anwenden können. Daher wurden nach vielen Diskussionen neue Bildungsstandards festgelegt, die sich insbesondere nach Kompetenzerwerb richteten.

Kompetenzen haben auch bei dem sogenannten Bologna-Prozess, in dessen Folge Empfehlungen für die Vereinheitlichung der europäischen Bildungs-abschlüsse vorgeschlagen wurden, enorm an Bedeutung gewonnen. „Hier wurden von der Schulbildung, über die berufliche Ausbildung bis zur universitären Bildung ebenfalls Kompetenzniveaus festgelegt. In insgesamt sieben Niveaus unterscheidet die Empfehlung der Kultusministerkonferenz beispielsweise den Bachelor-Level vom Master-Level und diesen vom Promotions-Level. Es geht dabei um instrumentelle, systemische und kommunikative Kompetenzen.“ (Kuhlmann 2013, S. 244).

Nach diesem kleinen Abriss der europäischen Bildungsgeschichte wird nun ein Auge auf die Historie der Bildung in der islamischen Welt geworfen.

2.1.2 Islamische Welt

Die islamische Bildungsgeschichte beginnt mit dem Propheten Muḥammad (Gottes Segen und Frieden auf ihm)[1]. So wie alle anderen Propheten die ersten Lehrer für ihre Völker waren, war auch Muḥammad (Gottes Segen und Frieden auf ihm) die erste Person, die den Muslimen in Mekka sowohl mit Lehrtätigkeiten als auch als Vorbild zu Verfügung stand. Sehr oft erklärte er den Menschen, dass er als Lehrperson beauftragt worden war. Auch der Qur’ān bestätigt seine Vorbildfunktion: „Wahrlich, im Gesandten Allahs ist für euch ein schönes Vorbild“ (Qur’ān, 33:21). Daher hat er den Menschen die Grundlagen der Religion beigebracht und durch seine Praktiken vorgelebt. Wo er selber nicht hingelangen konnte, sandte er LehrerInnen mit dem Auftrag die Religion zu vermitteln.

Der Qur’ān spricht gleich im ersten herabgesandten Vers den Menschen mit „Lies“ (Qur’ān, 96:1) an. Wie das Lesen sein sollte erklärt der Prophet in zwei Aḥadīṯ folgendermaßen: „Wissen zu erwerben, begonnen von der Wiege bis zum Grab“ „ist für Männer und Frauen im Islam eine Verpflichtung“ (überliefert in Ši’ra).

Wie wir sehen, war es schon zu Lebzeiten von Muḥammad (Gottes Segen und Frieden auf ihm) für alle Muslime und Musliminnen eine Pflicht Wissen zu erwerben. An zwei weiteren Stellen im Qur’ān findet man die Wichtigkeit von Wissenserwerb: „Sind diejenigen, die wissen, gleich denjenigen, die nicht wissen?“ (Qur’ān, 39:9) und „Wenn ihr nicht wisst, dann fragt diejenigen, die wissen“ (Qur’ān, 16:73). Dennoch kann man davon ausgehen, dass am Anfang nur die Erwachsenen eine Bildung bekamen. Die ersten Muslime waren LehrerInnen und SchülerInnen gleichzeitig. Sie lernten den Qur’ān vom Propheten auswendig und brachten ihn wieder anderen bei. So stieg die Anzahl der ersten Ḥāfiẓ (diejenigen, die den ganzen Qur’ān auswendig können) rasch an. Der Ort, an dem die ersten Lehrtätigkeiten im Geheimen stattfanden, war das Haus von Arqam. Geheim deswegen, weil der Gesandte die ersten drei Jahre seine Botschaft nicht öffentlich verkünden konnte. Mekka wurde nämlich von den Götzenanbetern regiert, die eine neue Religion nicht duldeten.

Nach dem Qur’ān ist die Quelle des Wissens göttlich. Der erste Mensch und Prophet Adam lernte das Wissen von seinem Herrn, welches nicht einmal den Engeln gegeben wurde. Deshalb ist der Mensch ein Wesen, das von den Engeln geehrt werden musste (vgl. Bilgin 2001, S. 11).

Der Qur’ān berichtet uns diesbezüglich:

„31. Und Er lehrte Ādam die Namen alle. Hierauf legte Er sie den Engeln vor und sagte: „Teilt Mir deren Namen mit, wenn ihr wahrhaftig seid!“ – 32. Sie sagten: „Preis sei Dir! Wir haben kein Wissen außer dem, was Du uns gelehrt hast. Du bist ja der Allwissende und Allweise.“ 33. Er sagte: „O Ādam, teile ihnen ihre Namen mit!“ Als er ihnen ihre Namen mitgeteilt hatte, sagte Er: „Habe Ich euch nicht gesagt, Ich kenne das Verborgene der Himmel und der Erde, und Ich weiß auch, was ihr offenlegt und was ihr verborgen zu halten sucht?“ (Qur’ān, 2:31-33)

Der Qur’ān beschreibt die Lehrtätigkeit so, dass Menschen körperlich, kognitiv, emotional und moralisch nach guten, schönen und richtigen Sachen sich orientieren sollen und sich fern vom Schlechten halten sollen (vgl. Bilgin 2001, S. 11).

Da die meisten Mekkaner des Lesens unkundig waren, beauftragte der Gesandte Lehrer, die den Muslimen das Schreiben und Lesen beibrachten. So stieg die Anzahl der Lesekundigen ständig an.

Der Prophet schickte im zehnten Jahr seiner Berufung Musʿab ibn ʿUmair als Lehrer von Mekka nach Medina, um die dortigen Menschen die den Islam erst angenommen hatten zu unterrichten. Dieser brachte ihnen die Grundlagen des Islams und den Qur’ān bei.

Nach dem die Muslime im Jahre 622 n.Chr. alle nach Medina ausgewandert waren, wurde seitens Muḥammad (Gottes Segen und Frieden auf ihm) als aller erstens eine Moschee mit einem Bildungszentrum errichtet. Dieses Zentrum hieß Suffa. Die Bildungsaktivitäten wurden von dann an in der Moschee zu jeder Zeit durchgeführt.

Nach dem Ableben des Propheten verlief die Bildungsarbeit in gleicher Weise fort. Die Bildungsstätten waren die Moscheen, die Lehrkräfte waren ehrenamtliche Personen, die Grundlagen der Religion, Sprach und Literaturkunde weitergaben. Dies dauerte bis die ersten Madrasa (islamische Bildungseinrichtung) eingerichtet wurden.

Freitags war der wöchentliche Tag, an denen große Vorlesungen in den Moscheen stattfanden. Zu denen war die Teilnahme der Männer verpflichtend, aber auch Frauen pflegten mitzukommen und zuzuhören.

Im Jahre 1066 n. Chr. wurde in Bagdad die aller erste Madrasa durch den Seldschuken-Wasīr Nizām ul-Mulk (1018-1092) errichtet. Sie hieß Nizāmiya- Madrasa. Man kann sie als die erste Universität bezeichnen. Die Lehrkräfte bei diesen Bildungseinrichtungen waren sehr gut ausgebildet. Die Ausbreitung dieser Madrasa verlief schlagartig. Kreckel beschreibt die Madrasa wie folgt: „Erst seit dem 11. Jahrhundert seien mit der Einrichtung von “Medresen“ eigenständige islamische Hochschulen mit regulärem Lehr- und Prüfungsbetrieb, akademischen Graduierungen, einem Internat für die Studierenden, einem festen Lehrkörper und einem gewissen Maß an institutioneller und professioneller Autonomie entstanden“ (Kreckel 2013, S. 4).

Diese islamischen Bildungseinrichtungen wurden meistens neben den großen Moscheen erbaut. Außerdem errichtete man neben den Moscheen Bibliotheken und Räumlichkeiten für Kinder. Später wurden nach Bedarf Essenslokale, Krankenhäuser und caritative Hilfseinrichtungen in den Komplex hinzugefügt. Im heutigen Sinne waren diese Komplexe wie große Universitätscampuse.

In diesen Madrasa wurden keineswegs nur islamisch-religiöse Fachrichtungen unterrichtet. Fakultäten für Medizin, Bauwesen und Ingenieurwesen waren miteingegliedert. Auch die Dozenten wurden in diesen Einrichtungen ausgebildet (vgl. Bilgin 2001, S 15).

Interessanterweise kann man beobachten, dass schon damals die Madrasa gewissermaßen eine institutionelle Autonomie besaß, die dadurch gegeben war, „dass jede Medrese auf einer eigenständigen islamischen Stiftung (waqf) beruhte. Aus dem oft beträchtlichen Stiftungsvermögen wurden u.a. die Professorengehälter, die Stipendien und das Internat für die Studierenden finanziert. Die Medresen waren damit rechtlich und finanziell unabhängig […]“ (Kreckel 2013, S. 6).

Zeitgleich gab es auch in den Palästen speziellen Unterricht in allen gängigen Fächern für die Kinder der Sultane und Kalifen. Besonders gut ausgebildete Lehrer wurden seitens der Monarchen hergeholt, die den ganzen Tag mit der Erziehung der Zöglinge beschäftigt waren. Daneben sind deren Kinder auch in Schulen mit dem Namen Maktab zum Unterricht gegangen, damit sie mit anderen Kindern zusammen lernen und beisammen sein konnten (vgl. Çelebi 1998, S. 250).

In der islamischen Geschichte treffen wir auf vier Namen, die bei Etablierung von Bildungsreinrichtungen eine besondere Rolle gespielt haben. Neben dem schon genannten Nizām ul-Mulk sind die Namen ‘Abdullāh al-Ma’mūn, Nūraddīn Zangī und Salāhaddīn al-Ayyūbī hervorzuheben (vgl. Çelebi 1998, S. 293)

‘Abdullāh al-Ma’mūn (786-833) gründete im Jahre 830 die „Bayt al-Hikma“ (das Haus der Weisheit) in Bagdad. Dort ließ er vor allem griechische Werke in den Bereichen der Philosophie, Medizin und Naturwissenschaften übersetzen (vgl. Çelebi 1998, S. 293).

Nūraddīn Zangī (1118-1174) ist der Nachfolger von Nizām ul-Mulk. Er errichtete in Syrien zahlreiche Madrasa und öffnete ihre Toren den LehrerInnen, die in den Nebenstaaten Irak und Chorasan von der schlechten Führung unterdrückt wurden. Im Jahre 1167 ließ er in Damaskus als erster Herrscher einen prächtigen Madrasa-Moschee-Komplex mit einer Grabstätte errichten, in der er später begraben wurde (vgl. Çelebi 1998, S. 294).

Salāhaddīn al-Ayyūbī (1137-1193) ist der Nachfolger von Nūraddīn Zangī. Er herrschte in Ägypten und Syrien. Zahlreiche Madrasa ließ er in Ägypten errichten. Dies war keineswegs eine leichte Aufgabe für ihn, denn er musste diese Madrasa in Ägypten vor den Angriffen und Plünderungen der Tataren in Schutz nehmen. Er hat nicht nur StudentInnen aus seinem Heimatland Irak nach Ägypten eingeladen, sondern auch viele andere von den restlichen Gebieten Nordafrikas. So wurde er als ein Herrscher, der der Bildung einen hohen Stellenwert eingeräumt hat, hoch geschätzt (vgl. Çelebi 1998, S. 295).

Sehr interessant und verblüffend dabei ist, dass die Muslime schon zu der Zeit die Bildungsstufen eigentlich vorgegeben haben. Ibn Ḫaldūn selbst war es, der diese Stufen ansprach: „Du musst wissen, dass das Unterrichten derer, welche die Wissenschaften studieren, (nur dann) wirksam ist, wenn es stufenweise eines nach dem anderen mit jeweils geringem Zuwachs erfolgt. […] Dies ist die Art und Weise der wirksamen Unterweisung.“ (Ibn Khaldūn 2011, Die Muqaddima, S. 484). Im dritten Teil der Arbeit wird darauf näher eingegangen.

Nicht vergessen darf man, dass zu jener Zeit, als in Europa das „dunkle Mittelalter“ herrschte, die Blütezeit der islamischen Wissenschaften vorzutreffen ist. Viele islamische Gelehrte haben zahlreiche Errungenschaften in Physik, Chemie, Medizin, Mathematik, Astronomie, Bauwesen und Architektur hervorgebracht.

Auch waren die Bibliotheken, Buchhandlungen und Literaturhäuser in der damaligen Zeit sehr bekannt dafür, dass in ihnen Bildungsaktivitäten stattfanden. Vor allem wurden in ihnen verschiedene Dicht-und Literatur-veranstaltungen abgehalten, bei denen viele StudentInnen teilnehmen konnten.

Die Gelehrten hatten stets ihre Wohnungen für wissensdurstige StudentInnen offen. Diese suchten sie auf, nahmen an Vorlesungen teil, bedankten sich für die Gastfreundschaft der Lehrenden und vertieften sich über das Gelernte zu Hause weiter.

Die Blütezeit dieser islamischen Bildungsreinrichtung endete gegen Ende des 16. Jahrhunderts, weil die Zahl der StudentInnen ständig anwuchs und die Qualität dieser Madrasa abnahm. Die verschiedenen Fachrichtungen lösten sich allmählich auf, so dass am Ende nur die theologische Fakultät als einzige Fachrichtung bis zum Jahre 1924 in den Einrichtungen vorzufinden war. Danach wurden die Madrasa endgültig geschlossen (vgl. Bilgin 2001, S. 15). Erst 35 Jahre später, im Jahre 1959 konnten in der Türkei zunächst theologische Institute und im Jahre 1982 schließlich theologische Fakultäten wieder errichtet werden.

Im Jahre 1839 kam es im Bildungswesen des Osmanischen Reiches zu einigen Erneuerungen. Neue Staatsschulen, insbesondere im Primärbereich wurden gegründet. Der Religionsunterricht wurde fortan zu diesen Schulen verschoben.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde das Osmanische Reich aufgelöst. Die arabischen Völker wurden in Nationalstaaten umstrukturiert. Die Türkei wurde zu einer Republik ernannt, die Staatsstruktur wurde laizistisch, die Staatsverfassung wurde aus Europa übernommen. Die früheren Bildungseinrichtungen wurden geschlossen. Von Europa wurden die Bildungslehrpläne und -inhalte übernommen. Gleichartige Bildungseinrichtungen wurden geschaffen. Die Lehrinhalte waren nicht mehr religiös behaftet. Für religiöse Angelegenheiten wurde speziell ein Amt errichtet, das zuständig für den Einsatz von Imamen in den Moscheen war. In den Staatsschulen wurde Islamkunde und Morallehre für alle SchülerInnen ein Pflichtgegenstand.

Auch in vielen arabischen Ländern gab es nach den Nationalstaatsgründungen ähnliche Entwicklungen. Da sie zu meist von europäischen Ländern kolonialisiert wurden, haben sie deren Bildungssysteme in ihren Ländern integriert. Teilweise haben sie sogar die amtliche Staatssprache nach der Sprache der Kolonialstaaten umgeändert (Algerien, Marokko).

Nach diesem differenzierten Überblick der Bildungsgeschichte in Europa und in der islamischen Welt wird der Begriff der „Bildung“ näher betrachtet. Der Zweck dabei ist zu zeigen, wie vielschichtig dieser Begriff verstanden und definiert wird.

2.2 Bildungsbegriff

Drei Begriffe, nämlich „Pädagogik“ „Erziehungswissenschaft“ und „Bildungswissenschaft“ werden nahezu in identischer Form im deutschen Sprachgebrauch verwendet.

Das Wort Bildung kommt in der deutschen Sprache in vielen Feldern vor. Im Feld der Pädagogik kennen wir die Begriffe Bildungsprojekt, Bildungsgang, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung, kulturelle und interkulturelle Bildung. Im Bereich der Politik spricht man sehr oft von Bildungschance und Bildungsarmut. Im Bereich der Wirtschaft hört man meistens die Begriffe Bildungsplanung, Bildungsinvestition und Bildungsmanagement.

Wenn man den Bildungsbegriff geschichtlich betrachtet, hat er in sich viele Bedeutungen angehäuft. Daneben besitzt das Wort „Bildung“ ein typisch deutsches Deutungsmuster in den Geisteswissenschaften und kennt keine gleichwertige Übersetzung in anderen Sprachen. (vgl. Lederer 2010, S. 10).

Der Begriff Bildung hat eigentlich einen theologischen Ursprung. Die erste Person, die diesen Begriff in die deutsche Sprache implementiert hat, war der Dominikaner-Mönch Meister Eckhart (1260-1328). Er begreift

„den Menschen als ein Subjekt, dem alle bildnerischen Bemühungen zu gelten hätten. Bildung meint in seinem Sinne ein Ebenbild-Werden Gottes, ein Entfachen des jedem Menschen innewohnenden göttlichen Funkens gemäß der „Imago-Dei-Lehre“, der Idee von der „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen. Der Begriff Bildung ist somit theologischen Ursprungs und wird zunächst verstanden als gebildet werden durch Gott und nach dem Abbild Gottes. Die menschliche Seele wird dabei gebildet im Sin-ne von "nachgebildet". Bildung erscheint hierbei also ein Prozess, auf den der/die Einzelne gar keinen Einfluss hat. Es ist auch nicht die Aufgabe des Menschen, sich zu bilden (wie dies später Wilhelm von Humboldt fordert), da der Prozess von außen an den Menschen herangetragen wird.“ (Lederer 2010, S. 11f)

Wie oben schon geschrieben, werden der Erziehungs- und Bildungsbegriff sehr oft als Synonyme gebraucht. Bildung kann man im Allgemeinen beschreiben als: „subjektive Aneignung des objektiven Gehalts von Kultur, in der auf der einen Seite allgemeine oder gar universale Bestimmungen des Selbst- und Weltverhältnisses wie Vernunft, Rationalität, Humanität, Sittlichkeit verschränkt sind oder sein sollten mit den auf der anderen Seite besonderen Bestimmungen konkreter Individualität von Personen“ (Langewand 1994, S. 69).

Nach Langewand kann man folgende fünf formale Dimensionen des Bildungsbegriffs unterschieden (vgl. Langewand 1994, S. 74ff):

1.) sachliche Dimension: Bildung braucht inhaltliche Stoffe.
2.) temporäre Dimension: Bildung ist zeitabhängig und setzt Ziele.
3.) soziale Dimension: Die gesellschaftliche und soziale Zustimmung, neben Inhalt und Zeit, ist von großer Bedeutung für die Bildung
4.) wissenschaftliche Dimension: Wie kann Bildung möglich sein? Wissenschaftliche Erklärungen sind notwendig.
5.) autobiographische Dimension: Braucht das Individuum eine Bildung für sein Selbstverständnis?

Menze zitiert in seinem Buch den Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldt’s folgendermaßen: „alles, was Menschen Wert gibt, umfassenden Zweck […]; höchste Mannigfaltigkeit in der Ausbildung, Sinn für Gabe und Genuß jeglichen Grades und jeglicher Art, und dann Kraft genug, die höchste Mannigfaltigkeit aufs höchste zu vereinfachen, das Viele immer auf das Eine zu beziehen, in jedem einzelnen immer Seiten zu finden, wo es mit allem zusammenschmilzt […]“ (Menze 1965, S. 127)

Humboldt unterscheidet dabei zwischen den Begriffen Kultur und Bildung:

„Die Civilisation (Cultur) ist die Vermenschlichung der Völker in ihren äusseren Einrichtungen und Gebräuchen und der darauf Bezug habenden innren Gesinnung. Die Cultur fügt dieser Veredlung des gesellschaftlichen Zustandes Wissenschaft und Kunst hinzu. Wenn wir aber in unsrer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nemlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntniss und dem Gefühle des gesammten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergiesst.“ (Humboldt 1908, S. 30)

Wie wir aus den oberen Ausführungen erkennen können, gibt es unzählige Begriffserklärungen für das Wort Bildung, die zeit-, orts- und gesellschaftsabhängig definiert wurden. Auf alle Definitionen einzugehen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Im nächsten Abschnitt wird nun auf den ersten Autor Ibn Ḫaldūn eingegangen. Nach einer Biographie wird sein Hauptwerk „al-Muqaddima“ beschrieben und anschließend seine Bildungseinsichten dargestellt.

3. Abū Zaid ‘Abdurrahmān bin Muḥammad bin Ḫaldūn al-Ḫadramī (Ibn Ḫaldūn)

3.1 Sein Leben und Wirken

Durch die Autobiographie, die Ibn Ḫaldūn in seinem Kitāb al-‘ibar den Lesern zur Verfügung gestellt hat, bekommen wir detaillierte Kenntnisse über sein Leben. Dort beschreibt er seine Lebensumstände in chronologischer Abfolge, bleibt dabei aber immer unpersönlich und sachlich. Er „schildert den Ablauf seines wechselvollen Geschickes, beschreibt die markantesten Stationen seines Lebens, jedoch erörtert er nicht die Motive, die seinen Entscheidungen zugrunde lagen, nicht die inneren Beweggründe für sein äußeres Verhalten“ (Heinrich 1959, S. 20).

Der vollständige Name lautet Abū Zaid ‘Abdurrahmān bin Muḥammad bin Ḫaldūn al-Ḫadramī. Er wurde am 27. Mai 1332 in Tunis geboren. Seine Familie stammte aus Sevilla (damaliges Andalusien) und hatte bei der Eroberung ihres Landes durch die Christen dieses im Jahre 1235 verlassen und war nach Nordafrika übersiedelt. Wie sein vollständiger Name es schon preisgibt, war seine Familie ursprünglich aus Hadramaut gekommen und war somit arabischen Ursprungs (vgl. Heinrich 1959, S. 20).

Sein Großvater Muḥammad Beciya war politisch als Wächter des Kalifen tätig, sein Vater Muḥammad beschäftigte sich nur mit Bildung und Erziehung. Ibn Ḫaldūn, der ein sehr fleißiger Schüler war, erhielt auch eine solide Ausbildung in den Überlieferungswissenschaften des Qur’ān und Ḥadīṯ. Er studierte anfangs bei seinem Vater, später nahm er Unterricht von Muḥammad bin Sa’d bin Burrāl al-Ansārī, der ihn in der Wissenschaft des Rezitierens unterrichtete und bei dem er den Qur’ān auswendig lernte. Er wurde auch in der arabischen Sprache und Literatur von seinem Vater und einigen anderen Gelehrten unterrichtet. Dabei lernte er viele Gedichte bekannter Poeten auswendig. Außerdem las er bei Wādīāšī Ausschnitte aus der „Kutub-i Sitte” (Ḥadīṯsammlungen von sechs Gelehrten) und studierte Fiqh (Rechtswissenschaft) bei Muḥammad bin Abdullāh al-Ğeyyanī, Ibn Abdussalam al-Hawwārī und Muḥammad al-Kathīr (vgl. Uludağ 1999, S. 538).

Mit 17 Jahren verlor er infolge einer Seuche in Tunis seine Eltern. Nur drei Jahre später nahm er zum ersten Mal ein Amt als Schreiber im Hofe des Ḥafisiden Abū Ishāq ein. Doch dieses Amt verließ er relativ schnell und ging im Jahre 1354 mit seinen Lehrern zusammen nach Fès um weiter zu studieren. Dort wurde er als Sekretär im Hofe des Fürsten eingestellt. Bald aber wieder „verlor er das Wohlwollen des Mariniden Abū ‘Inān, weil er zu dem Ḥafisiden Abū ‘Abdallāh Muḥammed, dem früheren Herrscher von Bougie, in enge Beziehungen getreten war und sich an einer Wiedererrichtung seiner Herrschaft in Bougie beteiligen wollte“ (Heinrich 1959, S. 23) und wurde daraufhin im Jahre 1357 verhaftet.

Seine Haft dauerte nur ein Jahr lang. Gleich nach seiner Freilassung mischte er sich in politische Machtstreitereien ein und unterstützte in Fès den Thronpräsidenten Abū Sālim, den Bruder von Abū ‘Inān, der ihn dann zu seinem Privatsekretär ernannte.

Doch im Hofe Abū Sālims herrschten tiefe Intrigen, so dass Ibn Ḫaldūn sehr bald ohne seine Familie Marokko verlassen musste und im Zuge dessen 1362 nach Granada flüchtete. Von dort aus ließ er seine Familie holen. Er wurde dort im Hof des Naṣridin Muḥammed V. als Botschafter eingesetzt. Dieser beauftragte ihn als Botschafter nach Sevilla zu gehen. Dort versuchte der Fürst die Loyalität Ibn Ḫaldūn‘s für sich zu gewinnen und bat ihm dafür die früheren Landgüter seiner Familie zurück. Doch Ibn Ḫaldūn blieb diesmal seinem Oberhaupt treu, er lehnte dieses Angebot ab.

Drei Jahre später folgte er der Einladung seines alten Freundes, dem Ḥafisiden Abū ‘Abdallāh Muḥammed und ging nach Bougie um einen verantwortungsvollen Posten zu übernehmen. Er führte hier wieder Amtsgeschäfte und hielt Vorlesungen in Rechtswissenschaften. Doch auch diese Amtsausübungen dauerten nicht lange an. Nach nur drei Jahren verließ er wiederum Bougie und trat in die Dienste der ’Abdalwadiden in Tlemcen.

Im Jahre 1375 entschied Ibn Ḫaldūn sich zurückzuziehen und widmete sich nur noch seiner wissenschaftlichen Arbeit. Sein Hauptwerk al-Muqaddima verfasste er in dieser Zeit. Dieses Werk stellt „das Ergebnis sowohl seiner wissenschaftlichen Forschungen als auch seiner praktischen und politischen Erfahrungen“ (Heinrich 1959, S. 24) dar.

Zwischen den Jahren 1378 und 1382 hielt er sich in seiner Heimatstadt Tunis auf und arbeitete an seinem Werk über die Geschichte der Araber und Berber. Nach einem Streit mit dem Imām der Großen Moschee verließ er abermals Tunis und trat die Pilgerfahrt nach Mekka an. Er ging zunächst nach Alexandria. Weil er von dort aus nicht gleich nach Mekka verreisen konnte, begab er sich zunächst nach Kairo. Diese Stadt war damals so prächtig, dass er von ihr angetan war. Nach einer Nachfrage, ob er in Kairo Vorlesungen halten könne, verschob er seine Pilgerreise und erhielt dort einen Lehrstuhl. Darüber hinaus wurde er vom Sultan zum malikitischen Oberkadī (Oberster Richter) ernannt. Dieses Amt hat er bis zu seinem Lebensende sechsmal bekleidet (vgl. Heinrich 1959, S. 24). In der Zwischenzeit bestellte er aus Tunis seine Familie, die jedoch bei einem Schiffsbruch ums Leben kam. Kurze Zeit später ging er im Jahre 1387 nach Mekka und übte seine Pilgerreise aus und kehrte wieder nach Kairo zurück.

Im Jahre 1399 begab er sich mit dem Sultan nach Damaskus um gegen den Vormarsch der Mongolen vorzugehen. Doch der Sultan flüchtete aus Angst um sein Leben zurück und Ibn Ḫaldūn blieb in Syrien. Er ersuchte Timur, den Führer der Mongolen um einen Waffenstillstand. Dieser wollte von ihm einen detaillierten schriftlichen Bericht über Nordafrika und gestattete ihm nach Kairo zurück zu kehren.

Nach dem er wieder in Kairo angekommen war, wurde er wieder zum Oberkadī ernannt. Er starb wenige Jahre später in Kairo am 16. März 1406.

Ibn Ḫaldūn verbrachte somit die ersten zwanzig Jahre seines Lebens in Tunis, die nächsten 26 Jahre in Algerien, Marokko und Andalusien, weitere vier Jahre wieder in Tunis und die letzten vierundzwanzig Jahre in Kairo (Ägypten). Seit seiner Kindheit genoss er eine sehr gute Ausbildung, aber der Anziehungskraft der Politik konnte er dennoch nicht widerstehen. Sein Willen, an der Spitze der politischen Macht zu sein, endete oft im Exil oder in einem Gefängnissaufenthalt. Doch im Großen und Ganzen verbrachte er sein Leben bequem in Sarails und anderen Herbergen. Er hatte bei einigen Dynastien eine einflussreiche Stellung eingenommen.

Auch verbrachte er einige Zeit damit, um von Stamm zu Stamm zu gehen, um dort das Nomadenleben aus der Nähe zu erforschen. Er war auch ein bedeutender Gelehrter, der etlichen Studenten Unterricht in verschiedensten Disziplinen erteilte. Sein Hauptwerk al-Muqaddima schrieb er aus dieser Erfahrung heraus. Vom tunesischen Hayruddin Paša wurde am 22. Dezember 1896 ein Kulturzentrum eröffnet, welches nach dem großen Gelehrten Ibn Ḫaldūn benannt wurde. Der Name des Zentrums hieß „Al-Ğem’iyyat-ul-Ḫaldūniyya“ (vgl. Uludağ 1999, S. 541).

3.2 Sein Werk „Al-Muqaddima‘“

Al-Muqaddima ist die Einleitung zum Hauptwerk Kitāb al-‘ibar von Ibn Ḫaldūn, in dem er sich mit der Geschichte der Araber und den Berbern befasst.

Al-Muqaddima enthält methodische Vorbemerkungen und allgemeine Regeln von soziologischen Phänomenen. Er schrieb sie zwischen den Jahren 1375 und 1378, wobei er bis zu seinem Tod die Arbeit ständig überarbeitet und korrigiert hat.

Er versuchte mit dieser Arbeit auch eine neue Wissenschaft zu etablieren. Er selbst meinte dazu: „Es ist dies gleichsam eine in sich selbständige Wissenschaft, denn sie hat ein Objekt, und das ist die menschliche Kultur und die menschliche Gesellung; sie hat Frage(stellungen), und sie erklärt die Zustände, die mit dem Wesen (dieser Kultur) zusammenhängen, einen nach dem anderen. So ist es mit jeder Wissenschaft, die sich auf eine Autorität oder den Verstand gründet. Wisse, daß die Abhandlung über dieses Objekt ganz neu erschaffen, von unbekannter Art und von sehr großem Nutzen ist [...]“ (Ibn Chaldun 1951, S. 11f)

Die Einleitung des siebenbändigen Kitāb al-‘ibar, welche er als al-Muqaddima bezeichnet, besteht aus einer methodologischen Vorrede und sechs Teilen. Der erste Teil beinhaltet wiederum fünf Prologe. Man kann die al-Muqaddima durchaus mit einem Lehrbuch vergleichen. Am Anfang begründet er die neue Wissenschaft, folgt dann streng dessen Regeln, bestimmt auf diese Weise was Geschichte ist und nach welchen Methoden sie erforscht werden soll (siehe ʿUmrān-Wissenschaft). Bei dieser Geschichtswissenschaft geht es darum, die Natur der Dinge zu kennen, Zusammenhänge zu erkennen, Beobachtungen zu begründen, Verschiedenheiten und Übereinstimmungen durch Vergleich aufzuzeigen und schließlich Ursachen zu erforschen (vgl. Exenberger 2001, S. 106)

Die sechs Kapitel der al-Muqaddima gliedern sich wie folgt: Das erste Kapitel enthält Aussagen über die allgemeinen Grundlagen der menschlichen Zivilisation, sowie über die Geographie der damals bekannten Welt. Das zweite Kapitel befasst sich mit Ibn Ḫaldūn’s Betrachtung über die auf einfachem, nomadisch-ländlichem, und auf Ackerbau und Viehzucht spezialisierten Lebensweise beruhendem. Kapitel drei befasst sich über die Grundlagen politischer Macht (unter Berücksichtigung des Kalifats als besondere Herrschaftsform im Islam) sowie über die Ursachen, die zur Entstehung von Dynastien und Reichen und zum damit verbundenen Übergang von der „niederen“ zur höherentwickelten, sesshaft-städtischen Lebensweise führen. Kapitel vier beschäftigt sich über die sesshaft-städtische, vornehmlich auf Handel und Gewerbe beruhende Lebensweise. Das vorletzte Kapitel befasst sich mit der Vielzahl der damaligen Gewerbe und das letzte und sechste Kapitel handelt schließlich über die verschiedenen, an die städtische Kultur gebundenen Wissenschaften und Künste (vgl. Ibn Khaldun 1992, S. 12).

Was das Thema dieser Arbeit betrifft so kann man hauptsächlich im sechsten Kapitel der al-Muqaddima viele Anhaltspunkte herauslesen.

In diesem Kapitel geht es um „einleitende und anschließende Bemerkungen zu den verschiedenen Arten von Wissenschaften, zu den Methoden und übrigen Aspekten der Unterweisung sowie zu all den Dingen, die hiermit im Zusammenhang stehen“ (Ibn Khaldun 1992, S. 312).

Einige Überschriften der relevanten Abschnitte in diesem Kapitel: (vgl. Ibn Khaldun 1992, S. 312ff)

- 1. Abschnitt: Wissen und Unterweisung sind in der menschlichen Kultur.

- 2. Abschnitt: Die Wissensvermittlung zählt zu den Gewerben

- 4. Abschnitt: Die verschiedenen Wissenschaften, die es in der (muslimischen) Zivilisation dieser Zeit gibt

- 5. Abschnitt: Die Koranwissenschaften der Koranexegese und der Koranrezitation

- 6. Abschnitt: Die Hadith-Wissenschaften

- 9. Abschnitt: Die Grundlagen der Rechtswissenschaft und die zu ihr gehörende Dialektik und die kontroversen Fragen

- 13. Abschnitt: Die verschiedenen rationalen Wissenschaften

- 27. Abschnitt: Eine (zu) große Menge an Fachbüchern über wissenschaftliche Themen ist bei der geistigen Aneignung (eines Wissensgebietes) hinderlich

- 28. Abschnitt: Eine (zu) große Menge an wissenschaftlichen Kompilationen gereicht der wissenschaftlichen Lehre zum Schaden

- 29. Abschnitt: Wie man die Wissenschaften in der richtigen Weise vermittelt und Nutzen daraus zieht

- 31. Abschnitt: Das Schulwesen. Die unterschiedlichen Lehrmethoden in den großen islamischen Städten

- 32. Abschnitt: Härte gegenüber den Studenten gereicht diesen zum Schaden

- 33. Abschnitt: Reisen, um Kenntnisse zu erwerben und den anerkannten Professoren zu begegnen, vervollkommnet die Ausbildung erheblich

- 36. Abschnitt: Die Wissenschaften der arabischen Sprache

3.3 Seine Ansichten über Bildung

Obwohl im Weiteren auf die verschiedenen Bildungsansichten Ibn Ḫaldūn’s detailliert eingegangen wird, soll bereits an dieser Stelle wiedergegeben werden, welchen Stellenwert er der Bildung und Erziehung im Allgemeinen einräumt.

Viele Islamgelehrte vor Ibn Ḫaldūn, angefangen von al-Ġazzālī haben den Bereich Bildung und Erziehung als einen ehrenamtlichen Bereich betrachtet. Für Ibn Ḫaldūn ist aber Erziehung und Bildung ein Beruf und zugleich ein Handwerk. Der Lehrer soll sich nur auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren und für seine Leistungen honoriert werden. Dies ist deshalb so heraus zu lesen, weil er Methoden und Techniken verschieden anwendet: „Darauf, dass die Unterweisung in der Wissenschaft ein Handwerk ist, weist die Unterschiedlichkeit der Termini technici hin. Jede berühmte führende Persönlichkeit hat nämlich eine Terminologie für die Unterweisung, durch die sie sich auszeichnet, wie es bei allen Handwerken der Fall ist. Dies weist darauf hin, dass die Terminologie nicht zur Wissenschaft (selbst) gehört, denn wenn sie zur Wissenschaft gehörte, wäre sie bei allen Gelehrten gleich“ (Ibn Khaldūn 2011, Die Muqaddima, S. 416f).

Nach seiner Auffassung ist Bildung und Erziehung für den Menschen aus verschiedener Hinsicht notwendig. Zunächst ist der Mensch ein neugieriges Lebewesen und ist offen für Neues. Die arabischen Beduinen zum Beispiel waren Analphabeten und fragten des Öfteren die anderen Schriftenbesitzer (Christen und Juden) über die Hintergründe und Geheimnisse der Schöpfung (vgl. İbn Haldun 2011, Mukaddime 2, S. 787). Des Weiteren schreibt er, dass alle Fähigkeiten und Fertigkeiten substanzieller und sentimentaler Natur sind und deshalb die Notwendigkeit herrscht, Bildung und Erziehung direkt von der Lehrperson zu erwerben (vgl. İbn Haldun 2011, Mukaddime 2, S. 776).

Die Rolle der Bildung bei der kognitiven und affektiven Entwicklung von SchülerInnen ist nach seiner Ansicht enorm wichtig. So wie Nahrungsmittel die körperliche Entwicklung vorantreiben, ist der Erwerb von geistiger Nahrung essenziell für den Menschen. Denn „Die guten Fähigkeiten in der (wissenschaftlichen) Unterweisung, den Handwerken und den anderen Bräuchen lassen den menschlichen Verstand an Scharfsinn und das Denken an Klarheit zunehmen durch die vielen Fähigkeiten, die sich in der Seele einstellen. Wir haben schon vorher gesagt, dass die Seele durch die Wahrnehmungen und Fähigkeiten wächst, die auf sie einwirken. So werden die Menschen intelligenter aufgrund der wissenschaftlichen Einflüsse, die auf die Seele einwirken.“ (Ibn Khaldūn 2011, Die Muqaddima, S. 419).

Dabei spricht er offen darüber, dass die östlichen Völker intelligenter als die Westafrikanischen sind, weil sie sich mehrheitlich mit Wissen beschäftigen. Außerdem zeigt das Nomadenleben in Westafrika, dass sie nicht sesshaft geblieben und sich kein Wissen erworben haben sondern immer unterwegs waren und sich mit diesen Gebieten nicht befasst haben (vgl. İbn Haldun 2011, Mukaddime 2, S. 779f).

Für den Wissenschaftler spielen Bildungsaktivitäten insbesondere eine wichtige Rolle, denn diese halten den Menschen von sämtlichen schlechten Dingen und schlimmen Taten ab, hindern ihn aber nicht wie manche Tiere nutzlos herumzuirren. (vgl. İbn Haldun 2011, Mukaddime 2, S. 769)

Nach dieser Einführung möchte ich nun detailliert auf die verschiedenen Bildungsansichten von Ibn Ḫaldūn näher eingehen.

[1] Erwähnung des Namen des Propheten Muḥammad mit dem Zusatz „Gottes Segen und Frieden auf ihm“: Gott offenbart im Qur’ān folgenden Vers: „Gewiss, Allah und Seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. O die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn mit gehörigem Gruß.“ (Qur’ān, 33:56). Daraus resultiert, dass es für einen Muslim/eine Muslima nicht nur von gutem Benehmen sondern auch obligatorisch ist, den Propheten Gottes Frieden und Segen auf ihm, sowohl mündlich als auch schriftlich mit jenem Zusatz zu erwähnen. (Im Original: صلى الله عليه وسلم) In allen Schriften muslimischer Autoren wurde und wird diese Praxis angewandt. Als Muslim werde ich diese Methodik in meiner Arbeit auch anwenden.

[...]

Fin de l'extrait de 130 pages

Résumé des informations

Titre
Vergleich der Bildungsansichten von Ibn Haldun und Wilhelm von Humboldt
Université
University of Vienna  (Bildungswissenschaft)
Note
2
Auteur
Année
2014
Pages
130
N° de catalogue
V285002
ISBN (ebook)
9783656846499
ISBN (Livre)
9783656846505
Taille d'un fichier
1933 KB
Langue
allemand
Mots clés
Ibn Haldun, Wilhelm von Humboldt, Bildung, Geschichte, Islam, Bildungstheorie, Erziehung, Bildungsreform, Königsberger Schulplan, arabisch, Methoden, Unterricht, Schüler, Lehrer, Schule, Universität, Gymnasium, Madrasa, Humboldt, Neuhumanismus, griechische Antike
Citation du texte
Erkan Erdemir (Auteur), 2014, Vergleich der Bildungsansichten von Ibn Haldun und Wilhelm von Humboldt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/285002

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