Der Ursprung der Kunst. Eine These über die Evolution des menschlichen Schönheitssinnes


Livre Spécialisé, 2009

319 Pages


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Extrait


Inhalt

Erster Teil: Essay - Kurzfassung des Themas 9

Zweiter Teil: Ausführliche Fassung 26

Kapitel 1 - Worum es in diesem Buche geht 26
1.1 Wie kam der Mensch zur Kunst? 26
1.2 Ein fruchtbares Gespräch 31

Kapitel 2 - Die sexuelle Evolution 38
2.1 Evolution 38
2.2 Die sexuelle Evolution in der Darstellung von Geoffrey Miller 45
2.3 Die Rolle der Kunst als Fitness-Indikator in Millers Modell der sexuellen Evolution 54

Kapitel 3 - Was ist Schönheit? 60
3.1 Der philosophische Schönheitsbegriff 60
3.2 Schönheit, informationstheoretisch 78
3.3 Schönheit zwischen Ordnung und Chaos 82
3.4 Geschaute Schönheit 91
3.5 Erhabene Schönheit 101
3.6 Kostbare Schönheit 103
3.7 Harmonische Schönheit 108

Kapitel 4 - Über den Umgang mit dem Schönen 110
4.1 Das Normalmaß des Ästhetischen 110
4.2 Die zweistufige Partnerwahl 112
4.3 Persönliches Rangempfinden 114
4.4 Geschmack als Rangmerkmal 125
4.5 Gesellschaftsklassen 130
4.6 Die bürgerliche Gesellschaft 133
4.7 Narzissmus ? 139

Kapitel 5 - Die Lust am Schönen 143
5.1 Adaptiver Schönheitssinn 144
5.2 Der menschliche Geist als Gehirnfunktion 150
5.3 Instinkt und Gefühl 160
5.4 Kunst und Künstler 163
5.5 Naturschönheiten 168

Kapitel 6 - Rangordnungen in tierischen und menschlichen Gesellschaften 170
6.1 Tierische Rangordnungen 171
6.2 Menschliche Rangordnungen 176
6.3 Die oberste Stufe der Rangleiter 179
6.4 Schönheit und Geist 181
6.5 Das Prinzip der Einehe in der hierarchischen Gesellschaft 184
6.6 Die Ausbeutergesellschaft 189

Kapitel 7 - Die Evolution des menschlichen Schönheitssinnes 193
7.1 Der Aufbruch zur Menschheit 193
7.2 Die Evolution der Würdezeichen 194
7.3 Vom auffälligen zum schönen Würdezeichen: Die Erfindung der Kunst 209
7.4 Die Erfindung der schönen Zeichen in der Evolutionstheorie 213
7.5 Die Kunst des Abbildes 215
7.6 Kunsterfindungen 220
7.7 Frühe Kulturgesellschaften 224

Kapitel 8 - Schubkräfte der Evolution 227
8.1 Soziale Rituale 229
8.2 Transzendente Rituale 239

Kapitel 9 - Die Entfaltung des Schönheitssinnes 243
9.1 Die frühe Altsteinzeit 243
9.2 Die späte Altsteinzeit 247
9.3 Kultische Tierbilder 259

Kapitel 10 - Der Sündenfall - Die Entstehung der ständischen Gesellschaften 268
10.1 Die neolithische Revolution 268
10.2 Königreiche und Hochkulturen 280

Kapitel 11 - Die Krise der schönen Kunst 287
11.1 Die Ungleichheit unter den Menschen 290
11.2 Der Umbruch der Gesellschaftsordnung 294
11.3 Das Zeitalter der Sezessionen 298
11.4 Kulturelle Strömungen der Gegenwart 307

Bibliograpie 320

Essay: Die Erfindung der Kunst

Die Kunst gilt als die edelste Leistung der Menschheit. Zuweilen hat sie einen Nimbus wie einstmals nur die Religion. Die größten Künstler, wie etwa Leonardo da Vinci oder Ludwig van Beethoven, stehen wie Sterne am Himmel und genießen eine Verehrung, auf die die früheren Götter neidisch sein könnten. Über die Musik Mozarts sagte man, sie komme direkt von Gott.

Doch die positivistische Weltsicht kennt keinen Gott. Darum kann die Kunst nicht einfach vom Himmel gefallen sein. Geht man der Frage nach, warum es überhaupt Kunst gibt, warum den Menschen die Freude daran gegeben ist, so gelangt man zu einer schockierenden Erkenntnis: Ihre Wurzeln liegen weder bei den ewigen Idealen, noch in der Religiosität, noch in der einfachen Freude am Schönen, sondern in dem Drang der Menschen, sich übereinander zu erheben, die Gesellschaft in Herren und Knechte zu scheiden. Schmuck und Kunst hatten von Beginn an keinen anderen Zweck als den der Selbstdarstellung und Machtdemonstration. Erst seit dem Zeitalter der Aufklärung lernen wir die Kunst als eigen-ständigen Wert zu schätzen. Der Prestigewert von Kunst ist dadurch nicht verloren gegangen. Zugleich erleben wir, wie ihr ohne die Funktion als Standesmerkmal die innere Kraft ausgeht, wie sie zur Spielwiese eines intellektuellen Hedonismus verkommt. Auch wenn sich diese Behauptungen nicht unwiderleglich beweisen lassen, gibt es doch überzeugende Gründe für ihre Berechtigung. Davon soll hier die Rede sein.

Die Wissenschaft ist sich darüber einig, daß der Kunst- und Schönheitssinn ein dem Menschen - wenn auch in sehr unterschiedlichen Graden - angeborenes Vermögen darstellt. Alle Eigenschaften aller Lebewesen sind Ergebnisse der Evolution, so auch der Schönheitssinn. Neue Eigenschaften setzen sich durch, wenn sie ihren Trägern einen Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil gewähren. Als die Menschen der Altsteinzeit vor fünfzig- oder hunderttausend Jahren einen Sinn für das Schöne entwickelten und erste Kunstwerke schufen, müssen sie daraus einen evolutionär wirksamen Nutzen gezogen haben.

Die Evolution wirkt nach dem schlichten Grundsatz: Es überlebt, was überlebt! Das genetische Erbgut aller Lebewesen, gleich ob Pflanze, Tier oder Mensch, unterscheidet sich geringfügig von einem Individuum zum andern. Durch Mutationen entstehen immer wieder neue Varianten. Wenn sie zum Überleben vorteilhaft sind, hat das Lebewesen eine höhere Chance als seine Artgenossen, sein besonderes Erbgut fortzupflanzen. Auch der Schönheitssinn kann nicht anders entstanden sein.

Es ist indessen nicht ohne weiteres einzusehen, warum der Schönheitssinn zu den Eigenschaften gehören sollte, die einen Überlebensvorteil bieten. Schmuck und Kunst und - allgemeiner gesprochen - alles Schöne sind nicht lebensnotwendig. Im Gegenteil: wer schöne Dinge liebt, gibt einen Teil seiner Ressourcen dafür her. Vielen Menschen bedeutet Schönheit wenig und sie überleben trotzdem, ja sie können Notzeiten leichter überstehen, wenn sie von dem Geld, das andere für unnütze schöne Dinge ausgeben, Rücklagen schaffen.

Klaus Richter ist in seinem Buch "Die Herkunft des Schönen" der Frage nach evolutionär wirksamen Vorteilen der Schönheit nachgegangen. Am überzeugendsten ist ihm das in Bezug auf die Schönheit menschlicher Körper und Gesichter gelungen. Aber gerade da überlagern sich ästhetische mit erotischen Reizen unentwirrbar. Es ist offensichtlich, welchen Fortpflanzungsvorteil die Art daraus zieht, daß die Individuen einander gefallen. Für alle anderen rein ästhetischen Präferenzen lassen sich keine so handgreiflichen Vorteile entdecken.

Sie gewähren indessen mittelbare Vorteile, wie Geoffrey F. Miller in seinem Buch "Die sexuelle Evolution" dargelegt hat. Er beruft sich auf das sogenannte "Handicap-Prinzip", das Amotz Zahavi formuliert hat. Schon Darwin war aufgefallen, daß es bei vielen Tierarten scheinbar nutzlose, aber um so auffälligere und oft sogar für das menschliche Auge schöne Merkmale gibt, wie buntes Gefieder, Pfauenschwänze oder Hirschgeweihe, die die Paarungsbereitschaft fördern und sich auf diese Weise evolutionär immer deutlicher ausgeprägt haben. Das Handicap-Prinzip besagt nun, daß solche Merkmale für ihre Träger ökonomische Kosten verursachen müssen, indem sie Nährstoffe binden, Energie verbrauchen oder Freßfeinde anreizen. Ein Lebewesen, das sich luxuriöse Merkmale leisten kann, verfügt offensichtlich über eine hohe Lebenstüchtigkeit und rechtfertigt daher seine hohe Rangstellung innerhalb der Population. Und da sich diese Lebenstüchtigkeit aus seinen besonders "guten" Genen herleitet, hat es evolutionären Sinn, wenn sich sein Träger mittels seiner auffälligen Merkmale bevorzugt fortpflanzt. Bei vielen Tierarten genießt das ranghöchste Männchen das absolute Paarungsvorrecht bei allen Weibchen. Sie sind es, die den Sieger küren.

Dieser Evolutionsweg für neue Qualitäten, bei dem die Lebenstüchtigkeit mittelbar durch spezifische Signale angezeigt wird, verläuft deutlich schneller als wenn die Überlebensfähigkeit als solche die positive Auslese der Tüchtigsten bewirkt. Sobald die Empfänglichkeit für diese Signale evolutionär gefestigt ist, schreitet die Evolution von selbst fort. Auch dann sind tausende Generationen nötig, um ein Merkmal in der Art durchzusetzen. Die Evolution des Menschen verläuft in einem Zeitmaß von -zig-tausenden bis Hunderttausenden von Jahren.

Miller zeigt für eine Vielzahl menschlicher Qualitäten, wie Höflichkeit, Großzügigkeit oder Hilfsbereitschaft, daß sie derartige spezifische Signale darstellen. Sie gehorchen dem Handicap-Prinzip: sie kosten Ressourcen, aber machen beliebt und fördern dadurch die Paarbildung und die Nachkommenschaft. Zu diesen Signalen rechnet Miller auch die Kunst. Einerseits ist sie teuer, kostet also Ressourcen, andererseits gefällt sie und macht beliebt. Der Giessener Professor Eckart Voland geht sogar so weit, das Schöne mit dem Kostbaren, also dem Teuren gleichzusetzen. Obwohl es dafür überzeugende Beispiele gibt, kann kein Ästhet einer solchen Gleichsetzung zustimmen. Ein Schmuckstück mit noch so kostbaren Edelsteinen kann ästhetisch misslungen sein und würde trotz seines hohen Preises nicht als schön gelten. Andererseits kann ein Abendhimmel mit seiner Farbenpracht hinreißend schön sein, aber er kostet gar nichts. So sind die Kostbarkeit, der Luxus, die unwiederbringliche Einmaligkeit wohl häufige Begleiter des Schönen, aber sie machen nicht sein Wesen aus.

Was ist es denn, was am Schönen so fasziniert? Es lohnt sich, in dem gewaltigen Schrifttum der Ästhetik zu stöbern, das sich seit dem Altertum in den Bibliotheken angehäuft hat. Platon sah im Schönen ein Ideal, das weder in der Natur noch in der Kunst erreichbar sei. Alles Schöne, das wir kennen, enthält immer nur einen Abglanz des ideal Schönen. Plotin sah im Schönen eine Spiegelung der reinen Seele. Die vollkommen reine Seele bedürfe der schönen Dinge nicht: "Wer das überirdisch Schöne zu schauen vermag, bedarf der irdischen Schönheit nicht mehr." Für beide Philosophen sind alle schönen Dinge, die wir wahrnehmen, Mischformen aus irdischer und göttlicher Schönheit. Diese Komplexität des Schönen begegnet in der Philosophie immer wieder, bei Schelling als das Endliche gegenüber dem Unendlichen, Absoluten, bei Hegel als "eine der Mitten" zwischen dem absoluten Geist und der Natur, bei Schopenhauer als "Wille und Vorstellung", bei Nietzsche als das Dionysische und das Apollinische. In unserer Zeit sieht Friedrich Cramer Schönheit am Schnittpunkt von Chaos und Ordnung, also an dem Punkt, wo ein Formungsprozeß an seine naturgegebene Grenze stößt und im Augenblick des Umbruches etwas radikal Neues entstehen lässt.

Keine dieser Charakterisierungen erlaubt es, zwischen schönen und nicht-schönen Objekten zu unterscheiden, geschweige denn schöne Objekte zu konstruieren. Aber sie machen immerhin deutlich, daß an der Wahrnehmung von Schönheit Sinnliches und Geistiges im Wechselspiel teilhaben. Herbert Franke hat versucht, dem Schönheitssinn informationstheoretisch beizukommen. Jede Wahrnehmung von Objekten beruht auf einem Vorgang der Datenverdichtung im Gehirn. Allein vom Auge trifft ein Datenstrom von 10 Milliarden bit (kleinste Informationseinheit) pro Sekunde im Gehirn ein. Die Leistung des Gehirns besteht darin, diesen Datenstrom auf das Maximum von 160 bit pro Sekunde herunterzubrechen, das im Bewußtsein gerade noch bewältigt werden kann. Das gelingt durch stufenweises Zusammenfassen größerer Datenmengen zu sogenannten Zeichen und Superzeichen, also Kürzeln für frühere Seherfahrungen. Kunstwerke, so sieht es Franke, seien Objekte, die dieser lustbetonten Datenreduktion durch ihre eigene Struktur entgegenkommen. Auch bei dieser Deutung zeichnet sich ein Wechselspiel zwischen der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und den Gedächtnisinhalten andererseits ab.

Der deutsche Philosoph Nicolai Hartmann unterscheidet das bloße Sehen des schönen Objekts von der "Schau", bei der das Bewusstsein aus der Wahrnehmung der Einzelheiten des Dinges in seine Verinnerlichung als einheitliches "schönes Ding" übertritt. In diesem Übergang lassen sich sowohl der Endpunkt der Datenreduktion nach Franke als auch der Sprung aus der Ordnung des Datenströmens in das "Chaos" einer ganz anderen Erkenntnisebene nach Cramer wiedererkennen. Worauf es in diesem Zusammenhang ankommt ist dies: Das Schöne kann man nicht einfach sehen wie die Bläue des Himmels, sondern es bedarf zu seiner Erkenntnis eines komplizierten Wechselspiels zwischen sinnlicher Wahrnehmung und verinnerlichten Geistesinhalten. Darum bedarf das Schönheitsurteil der Erfahrung und Übung und nicht zuletzt der geeigneten Gehirnstrukturen, die das erforderliche Wechselspiel in Gang setzen. Sicherheit des Geschmacks verrät viel über die Leistungsfähigkeit des Gehirns und die "guten Gene", die bei seiner Bildung Pate standen. Aus diesem Grund konnte sich der Schönheitssinn als evolutionär wirksame Signalempfänglichkeit im Sinne der sexuellen Evolution nach Geoffrey F. Miller entwickeln.

Wie muß man sich nun die Evolution des Menschen vorstellen? Man darf davon ausgehen, daß unsere äffischen Urahnen ebenso wie viele andere Tierarten über Rangordnungen innerhalb ihrer Populationen verfügten. Für die Rangstellung waren animalische Qualitäten, wie Körpergröße, Kraft und Mut, maßgeblich. Alle Mitglieder der Population achteten auf die Gunst- und Drohgebärden des Ranghöchsten und richteten ihr Verhalten danach. Diese Gebärden waren Gegenstand ihrer Neugier.

Die Vormenschen waren Jäger, besaßen aber weder Krallen noch gefährliche Reißzähne, um Beute zu machen. Für ihre Lebenstüchtigkeit spielten daher neben den animalischen Qualitäten mentale Fähigkeiten eine zunehmende Rolle. Sie mussten ihre Beutetiere eher überlisten als überwältigen. Folgt man den Gedanken von Geoffrey F. Miller, so mussten die Menschen angesichts eines solchen evolutionären Druckes Signale für mentale Qualitäten sowie eine entsprechende Signalempfindlichkeit entwickeln. Ein entscheidender Evolutionsschritt in diese Richtung könnte die Entstehung von Neugier für auffällige Signale gewesen sein. Auffälligkeit bedeutet, daß die Signale einerseits eindeutig wahrnehmbar sind, aber andererseits mit keinem der artspezifischen Merkmale übereinstimmen. Während in den klassischen Rangordnungen instinkthaft festgelegte Signale gelten, wird nun gerade die Abweichung davon zum eigentlichen Signal. Ein einfallsreiches Individuum legt sich beispielsweise eine Efeuranke um den Hals und stellt erfreut fest, daß es dafür Zuwendung und Anerkennung von den Artgenossen erfährt. Es wird nun derartige Aktivitäten steigern und damit die Neugier aller anderen umso mehr reizen. Ein besonders wirksames Signal wird es sich als Würdezeichen dauerhaft zueigen machen.

Die Signalwirkung des auffälligen Zeichens ist zunächst eine Spekulation, aber sie erscheint plausibel durch die bis heute anhaltende Anerkennung und Bewunderung, die sich mit "tollen" Dingen erringen lässt. So geben Jugendliche gern mit ihren Handies an, besonders wenn sie mit den aktuellsten Klingeltönen aufwarten können. Männer sind stolz, wenn ihr Auto mehr Ventile hat als andere, auch wenn man beim Fahren davon nichts merkt. Die Steinzeitmenschen mögen sich an besonders geformten Faustkeilen ergötzt und deren Besitzer beneidet haben. Der Anspruch an die Auffälligkeit und Exklusivität der Würdezeichen wird über die Jahrtausende allmählich zugenommen haben. Damit musste die Förderung der für mentale Leistungen günstigen Gene einhergehen, das heißt: die Menschen wurden klüger. Im Verhältnis zu der gewonnenen Klugheit musste auch der Grad der Auffälligkeit zunehmen, um ein "ehrliches Signal" zu bleiben.

Hier sprang die Evolution mit einer neuen Erfindung ein: mit dem Schönheitssinn. Das künstlich hergestellte schöne Objekt galt plötzlich als höchste Stufe des Auffälligen und Außerordentlichen. Es erfüllt zum einen das Verlangen nach Kostbarkeit, weil es schwer zu machen ist, Zeit, Geduld und Mühe und womöglich einen seltenen Werkstoff erfordert. Noch wichtiger ist die komplexe Qualität der Schönheit. Wer nicht die nötigen Gene besitzt, verfügt auch nicht über die komplexen Gehirnstrukturen, die beim Erlebnis des Schönen tätig sind. Er - oder sie - vermag sich auch nicht so schön zu machen wie jemand, der einen sicheren Geschmack hat. Für die wechselseitige Partnerwahl spielt es nicht allein eine wichtige Rolle, daß der eine den anderen mit seinem ästhetischen Gebaren zu beeindrucken vermag, sondern daß sich die Partner wechselseitig als Träger eines guten Geschmacks erkennen.

Es bildete sich eine Gesellschaft mit einer sichtbaren Rangfolge der ästhetischen Kultur. Sie dürfte zuerst am Körperschmuck ablesbar gewesen sein, etwa in Form von Bemalung der Haut oder der Kleidung oder von Schmuckstücken. In altsteinzeitlichen Gräbern fand man durchbohrte Schneckenhäuser, die einmal eine Halskette gebildet hatten. Erst nachdem der Körperschmuck zum selbstverständlichen Würdezeichen geworden war, konnte die Ausschmückung des Lebensumfeldes eines Würdenträgers in seine Standesdemonstration einbezogen werden. So wurden Faustkeile nicht nur funktionsgerecht, sondern zunehmend symmetrisch geformt. Sicherlich wurden schon in der Altsteinzeit die Lagerplätze und Wohnstätten der Würdenträger ihrem Rang entsprechend ausgeschmückt.

Die frühesten erhaltenen Kunstwerke fand Nicholas Conard in Höhlen der Schwäbischen Alb: aus Mammut-Elfenbein geschnitzte Tierfiguren von stupender Schönheit mit einem Alter von 30 bis 40 Tausend Jahren. Sie mögen noch ältere Vorläufer aus Holz uns ähnlichen vergänglichen Werkstoffen gehabt haben, die sich nicht erhalten haben. Damit war das Abbild erfunden, bis heute der wirkungsmächtigste Gegenstand der Kunst. Es bezieht seine Kraft einerseits aus dem lustbetonten Abgleich zwischen gesehenem Objektes und erinnertem Vorbild, andererseits aus dem Bewusstsein der Schwierigkeit des Abbildens, also der Übertragung von Einzelheiten des Vorbildes in Gestaltungselemente des Abbildes in einem anderen Material. Frühe Darstellungen von Mensch-Tier-Mischwesen zeugen davon, wie eine weitere Bewußtseinsebene einbezogen wird, nämlich die imaginierte Vorstellung.

Man hält die frühen Tierplastiken für Symbole des Jagdzaubers. Auch die weltberühmten Höhlenmalereien in Spanien und Südfrankreich werden kultisch-magisch gedeutet. Überhaupt werden die aus den Frühzeiten der Menschheit überkommenen Kunst- und Kulturgüter zu einem großen, wenn nicht sogar zum überwiegenden Teil als Kultgegenstände gedeutet. Darin liegt kein Widerspruch zum Verständnis der Kultur als Standesmerkmal. Schon in Urzeiten fühlten sich die Menschen eingebunden in eine hierarchische Ordnung, die über die lebenden Mitmenschen hinausging. Dazu konnten die Seelen der Verstorbenen, gute und böse Naturgeister, Heilige und Götter gehören. Die Grenzen zwischen den Hierarchien der Lebenden und denen der gedachten Geister waren fließend. Ägyptische Pharaonen und römische Kaiser nahmen göttlichen Rang für sich in Anspruch. Die römischen Kaiser ernannten hochgeschätzte Verstorbene förmlich zu Göttern, wie zum Beispiel Hadrian seinen verstorbenen Lustknaben Antinous. Die Selig- und Heiligsprechungen, die der Vatikan bis heute vornimmt, sind nichts anderes! Es war nur folgerichtig, die gedachten ranghohen Gesellschaftsmitglieder oder, soweit man ihrer nicht habhaft werden konnte, wenigstens die Stätten ihrer Verehrung mit den angemessenen ästhetischen Würdezeichen auszustatten. Diesem Bedürfnis verdanken wir den großen Reichtum an sakraler Kunst.

Im Zusammenhang mit den ästhetischen Würdezeichen ist eine Besonderheit der Gattung Mensch von Bedeutung, die weitreichende Folgen hatte, nämlich das Prinzip der Einehe. Sie sind so weitreichend, daß man sie als den entscheidenden Grund für die Entwicklung der Einehe ansehen muß. Anders als bei den Hirschen, wo sich der Platzhirsch mit allen Weibchen seines Rudels paart, ist beim Menschen die Zweisamkeit die instinktiv bevorzugte Regel und jede Promiskuität, auch wenn es sie gibt, verpönt. Der Hang zur Zweisamkeit ist ein Ergebnis der Evolution und als solches muß er bis tief in die Altsteinzeit zurückgehen.

Während bei den Hirschen das Weibchen die Wahl trifft und der Platzhirsch keines seiner Weibchen verschmäht, geht Geoffrey Miller von einer gegenseitigen Partnerwahl unter den Menschen aus. Männer und Frauen haben eigene Rangfolgen. Miller beschreibt die Paarbildung so, daß sich der ranghöchste Mann mit der ranghöchsten Frau verbindet. Der zweithöchste Mann nimmt die zweithöchste Frau, nicht weil sie ihm besser gefällt, sondern weil er die Ranghöchste nicht kriegen kann. Das entsprechende gilt für die zweithöchste Frau; auch sie muß mit dem zweithöchsten Mann vorlieb nehmen. So ergibt sich eine Rangfolge von Paaren, die stufenweise immer weniger gute Gene an ihre Nachkommenschaft weiterzugeben haben. Hat unter diesen Umständen die Rangordnung überhaupt noch ihren evolutionären Sinn, nämlich nur das beste Erbgut zur Fortpflanzung zu bringen? Miller sagt ja, weil das ranghöchste Paar auch die höchste Lebenstüchtigkeit besitzt und mehr Nachkommen durchbringt als die niederrangigen Paare.

Auch wenn das eher eine statistische Betrachtung ist als eine prähistorische Szenerie, muß man sich die Praxis der Paarbildung doch etwas anders vorstellen. Die Menschheit bestand in der Altsteinzeit aus frei schweifenden Jägergesellschaften von dreißig bis hundert Personen. Hätten sich innerhalb dieser Gruppen Paare zusammengetan und Kinder gezeugt, so wären sie alsbald an Inzucht zugrunde gegangen. Die einzelnen Gruppen kamen jedoch, wenn sie den Tierzügen folgten, miteinander in Berührung. Obwohl sie Jagdkonkurrenten waren, müssen solche Begegnungen wohl eher friedlichen Charakters gewesen sein. Jedenfalls wurden dabei auch technische und kulturelle Fortschritte ausgetauscht, so daß Neuerungen sich rasch über ganze Kontinente verbreiteten. Diese Begegnungen dürften für die heiratsfähigen Männer willkommene Gelegenheiten gewesen sein, sich aus der anderen Gruppe eine Frau zu wählen. Seit Menschengedenken wünscht sich jeder einen ebenbürtigen Partner. Ein Mann hohen Ranges wird auch eine Frau entsprechend hohen Ranges freien wollen. Woran erkennt er ihren Rang? Gewiß an der Kultur ihrer Erscheinung, an ihrem Geschmack. Es wäre nicht so leicht, sich solche steinzeitlichen Brautwerbungen vorzustellen, wenn sie uns nicht aus den letzten Jahrhunderten so vertraut wären.

Bis zum Ende des Ancien Regime und sogar bis weit ins 19te Jahrhundert waren die menschlichen Gesellschaften ständisch gegliedert. Die Mitglieder jeder sozialen Schicht gaben sich durch eine breite Vielfalt von kennzeichnenden Standesmerkmalen zu erkennen. Dazu gehörten die Kleidermode, die Ausstattung von Haus und Hof, das möglichst gesittete Benehmen, die Art zu sprechen und sich zu bewegen, die Vertrautheit mit der standesüblichen Kultur und ihren Sitten. Die jungen Leute wurden frühzeitig mit der standesgemäßen Kultur vertraut gemacht und gingen selbstverständlich innerhalb ihrer Schicht auf Brautschau. Innerhalb jeder Rangstufe wurde ein spezifischer Bestand an kulturprägenden Genen weitergegeben. Warum sollte es in der Steinzeit anders gewesen sein?

Errungenschaften der Evolution setzen sich durch, wenn sie mit einem Überlebensvorteil verbunden sind. Die ständisch gegliederte Gesellschaft war in dieser Hinsicht offenbar ein Erfolgsmodell. Die Einehe als ihre Voraussetzung verfestigte sich ebenso wie die kulturelle Selbstdarstellung aller Stände. Der ökonomische Erfolg der ständischen Gesellschaft beruhte zweifellos auf der arbeitsteiligen Erwerbsstruktur, die sich bis in unsere Tage erhalten hat: Der oberste Rang beansprucht die Befehlsgewalt über alle Untergebenen und beutet ihre Tätigkeit aus. Die Geschichte der Menschheit ist zu weiten Teilen eine Geschichte der Ausbeutung. Auch wenn die ständische Gesellschaft eine evolutionsbedingte Naturform ist, ist sie allein dadurch nicht moralisch gerechtfertigt. Wir haben die Gleichheit der Menschen zum gesellschaftspolitischen Grundsatz erhoben, müssen dafür jedoch in Kauf nehmen, daß die ästhetische Kultur ihre Rolle als Standesmerkmal verloren hat. Ohne diese Rolle wäre der reiche Bestand an Kunst der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende nicht entstanden. Wir ständen kulturell und wahrscheinlich auch ökonomisch noch immer auf der Stufe der frühen Steinzeit.

An dieser Stelle ist einem Mißverständnis vorzubeugen. Hätten nicht die obersten Ränge der Gesellschaften aus lauter Künstlern bestehen müssen, wenn sich diese Ränge durch fortwährende Auswahl nach dem Schönheitssinn herausgebildet hätten? Auch wenn wir nicht wissen, aus welcher Rangstufe die frühesten Steinzeit-Künstler stammten, bestehen aus heutiger Sicht Zweifel an einer solchen Schlußfolgerung; jedenfalls sind aus der überschaubaren historischen Vergangenheit keine Fälle bekannt, daß ein Herrscher zugleich ein großer Künstler gewesen wäre beziehungsweise ein Künstler zur Herrschaft gelangt wäre. Künstler waren immer Ausnahmeerscheinungen; gerade das macht ihre Werke so exklusiv. Die "guten Gene" sind neben einer Reihe glücklicher Zufälle wohl nur eine der Voraussetzungen für hohes Künstlertum. Umgekehrt richtet sich die Rangstufe eines Menschen nicht ausschließlich nach seinem ästhetischen Vermögen, sondern auch nach viel animalischeren Qualitäten, wie Größe, Stärke, Mut und Tatkraft. Die Rolle der Künstler bestand immer darin, die ranghohen Mitglieder ihrer Gesellschaft mit den schönen Dingen auszustatten, mit denen sie erfolgreich zu imponieren vermochten.

Für unser heutiges Kulturverständnis entbehrt es nicht der Peinlichkeit, wenn wir den gesamten Bereich der Kunst, die uns geradezu heilig geworden ist, dem Bedürfnis nach Selbstdarstellung oder, um es gröber auszudrücken, der Angeberei verdanken sollen. Der stille einsame Kunstgenießer im Museum oder im Konzertsaal versteht sich nicht als Kulturprotz. Aber er ist ein Produkt der rational geprägten Endzeit. Schon in der Antike gab es Ansätze zu einem allein ästhetisch motivierten Kunstgenuß, doch im Zeitmaßstab der Evolution gehören die paar Jahrtausende der historischen Epochen zu dieser Endzeit. Die Kraft der Ratio dämpft die ursprüngliche Kraft der Instinkte zu bloßen Neigungen, denen wir uns willentlich widersetzen können. So haben wir es allmählich gelernt, Kunst hedonistisch um ihrer selbst willen zu schätzen. Aber steckt nicht auch darin eine Spur von Narzissmus, nämlich in dem freudigen Bewußtsein, mit den hochrangigen Genen des Schönheitssinnes gesegnet zu sein?

Vielleicht war die längste Zeitspanne, in der Menschen bereits mit Kunst lebten und darin Standesmerkmale sahen, nämlich die späte Altsteinzeit bis zum Beginn des Neolithikums, nicht so von Protzentum und Ausbeutung geprägt wie die geschichtlichen Perioden, von denen wir umfassende Kenntnis haben. Die Menschen in den kleinen, nicht sesshaften altsteinzeitlichen Gesellschaften mögen in Schmuck und Kleidung ihren jeweiligen Rang dargestellt und gehörigen Respekt eingefordert haben. Aber es waren überschaubare Gesellschaften, in denen jeder jeden kannte. Die ranghohen Mitglieder waren den Bitt- und Demutsgesten der Rangniederen zugänglich. Diese werden ihren bescheidenen Anteil an der gemeinsamen Jagdbeute erhalten haben, weil anderenfalls die Gruppe nicht überlebensfähig gewesen wäre. Jedenfalls kann man sich einigermaßen gedeihliche Verhältnisse vorstellen, ähnlich wie die selbstverständliche Solidarität in heutigen Kleinbetrieben mit einer ähnlich geringen Zahl von Beschäftigten.

Einen Umbruch der Verhältnisse gab es erst im Zuge der neolithischen Revolution am Ende der letzten Eiszeit vor etwa zehn- bis fünfzehntausend Jahren. Sie gilt als die tiefstgreifende Umwälzung in der Menschheitsgeschichte. Die Menschen begannen sesshaft zu werden, Vieh zu halten, Ackerbau zu betreiben und Besitz anzusammeln. Das geschah nicht auf einen Schlag und nicht in allen Gesellschaften zugleich. Die weiterhin nomadisch schweifenden Gruppen hatten keinerlei Verständnis für Eigentum und sahen in den Viehweiden der Seßhaften verlockende Jagdgründe. Zu deren Verteidigung mußten sie sich zu wehrhaften Gruppen zusammenschließen. So wurden die einstmaligen Jäger zu Kriegern. Um zum Schutze ihrer Herden in der Übermacht zu bleiben, mussten die Gesellschaften größer werden, mussten Siedlungen befestigt und Mannschaften im Kampf geübt werden. Das erforderte unbedingte Befehlsgewalt der Anführer und eine entsprechend höher gestaffelte Hierarchie. Sie musste mit entsprechend gesteigertem Aufwand ästhetisch zum Ausdruck gebracht werden. Je größer die Stämme wurden, um so weiter wurde der Abstand zwischen den obersten und den untersten Rängen, um so weniger waren die Herrschenden für die Bitt- und Demutsgesten der Unteren erreichbar.

Nachdem die sesshaft gewordenen Stämme gelernt hatten, sich der schweifenden Jäger zu erwehren, kamen sie auf die Idee, ihre Macht kriegerisch auf benachbarte sesshafte Stämme auszuweiten. So entstanden aus kleinen Stammesherrschaften zuerst kleine und dann immer größere Königreiche. Der ästhetische Aufwand, mit dem sich die Könige schmückten, wuchs in unermessliche Höhen. Um die gestiegenen Ansprüche zu befriedigen brauchte man Arbeitskräfte und fand sie in den unterworfenen Völkern. So entstand der neue soziale Stand der Sklaven. Natürlich standen sie am untersten Ende der Rangskala, auch wenn sie einstmals höheren Rängen angehört hatten und an deren Genbestand teilhatten. So wurde die evolutionär entwickelte Rangstufenfolge, in der die genetische Varietät zum Ausdruck kam, erstmals durchbrochen. Im Laufe der späteren kriegerischen Geschichte geschah das immer wieder.

Eine weitere Neuheit der Jungsteinzeit war die beginnende Kolonisation. In den sesshaften Völkern kam es zu Menschenüberschüssen. Kleinere Gruppen wanderten aus und suchten sich weit entfernt neue Siedlungsplätze, wo sie die dort noch lebenden Sammler- und Jägergesellschaften mittels ihrer überlegenen Kultur- und Kriegspraktiken verdrängten oder zu Sklaven machten.

Kerngebiet der neolithischen Kulturen war der vordere Orient. Dort entstanden die ersten Großreiche der Ägypter und Babylonier mit ihrer ungeheuren Prachtentfaltung. Sie wurde zur Darstellung der königlichen Macht als unerlässlich angesehen. Wer einen Überblick über den weiteren Verlauf der Kunstgeschichte hat, der weiß, in welche Hybris von Glanz- und Prunkentfaltung dieses zwanghafte Selbstdarstellungsbedürfnis hineinführte. Ständige Kriege und Unterwerfungen führten dazu, daß von dem ursprünglichen evolutionär entwickelten Zusammenhang zwischen ästhetischer Erscheinung und "guten Genen" nicht mehr viel übrig blieb. Die kulturträchtigen Gene waren schließlich in allen Bevölkerungsschichten anzutreffen, auch wenn sie sich in sozial aufsteigenden Schichten immer wieder erneut ansammeln konnten.

Solange die Darstellung fürstlicher Macht mit ästhetischem Aufwand ungebrochen andauerte, also bis zum Ende des Ancien Regime, solange galt die Übereinstimmung von Kunst und Schönheit. Ästhetische Machtsymbole, wie Paläste, Tempel oder Kirchen, wären ohne Schönheit nicht gemeinverständlich und somit auch nicht machtwirksam gewesen. Deshalb konnte Kunst mit schöner Kunst gleichgesetzt werden.

Dieses Selbstverständnis ist inzwischen verloren, spätestens seit Pablo Picasso im Jahr 1906 seine "Madmoiselles d' Avignon" malte. Keine Madmoiselle dieser Zeit hätte sich darin wiedererkennen mögen, geschweige denn sie zum ästhetischen Vorbild genommen. Die Entwicklung dahin hatte natürlich weit früher eingesetzt, schon bald nach der Französischen Revolution. Diese hatte den Zusammenhang von Pracht und Macht nachdrücklich in Frage gestellt. Die große Kunst war herrenlos geworden und wurde vom erstarkenden Bürgertum nur zögerlich in Obhut genommen. Der in bürgerlichen Händen entstehende Historismus und Eklektizismus brachte keine große Kunst mehr zuwege. Diese suchte sich in Sezessionen neue Bahnen und beanspruchte die Autonomie der Kunst. Nicht mehr die Fürsten, sondern die Künstler selbst bestimmten, was Kunst sei. Die Vielfalt der Neigungen und Vorlieben der Künstler ließ eine entsprechende Vielfalt von Stilen, Richtungen und immer neuen -ismen hervorsprudeln. In dem Maße wie bei den Gebildeten rationales Denken gegenüber emotionalem Empfinden in den Vordergrund trat, gewannen in der Kunst Elemente des Auffälligen und Außerordentlichen gegenüber denen der Schönheit zunehmende Bedeutung.

So wie die Französische Revolution selbst war auch die Autonomie der Kunst ein Kind der Aufklärung. Der von Rationalität beherrschte moderne Mensch sieht sich selbst als Machtfaktor und verlangt keinen Prunk zum Beweis der Staatsgewalt. Demokratie funktioniert ohne Kunst. So verkam die Kunst zum hedonistischen Zeitvertreib. Bei aller Liebe zur großen Kunst vergangener Zeitalter verdrängen wir gern, daß sie einst Sinnbild der Macht war, so wie ihre damaligen Auftraggeber verdrängten, daß sie zugleich Sinnbild der Ungleichheit und erfolgreicher Ausbeutung war.

Die kulturgünstigen Gene sind indessen auch in der heutigen Gesellschaft nicht verloren gegangen. Noch immer lassen sie den, der damit gesegnet ist, zum Künstler oder Kunstfreund werden. Das heilige Erschauern, das in Urzeiten dem Ranghöchsten oder den hierarchisch noch darüber gestellten Geistern und Göttern galt, wird heute der Kunst als solcher zuteil. Diesem Urgefühl verdanken wir die liebevolle Erhaltung der alten, ihrer einstmaligen Symbolwirkung entblößten Kunst, zumal uns bewußt ist, daß keine ebenbürtige Hochkunst mehr nachwächst, die Aussicht hätte, Jahrhunderte zu überdauern. Sie vermag auf dem rational durchtränkten Boden der Demokratie und unter der bläßlichen Sonne der Gleichheit nicht zu gedeihen.

Kapitel 1: Worum es in diesem Buch geht

1.1 Wie kam der Mensch zur Kunst?

Solange es Menschen gibt, haben sie sich mit dem Schönen befaßt. Die Kunst ist so alt wie die Menschheit selbst. Man findet sie in allen Zeitaltern und bei allen Völkern der Welt und sieht darin die edelste Ausprägung des Menschentums. Über Jahrtausende hinweg gab es nicht den geringsten Zweifel daran, daß Kunst vor allem schön sein mußte. Das Schöne war keineswegs auf den Bereich der Kunst und des Kunsthandwerks beschränkt, sondern es war ein selbstverständlicher Bestandteil der menschlichen Erscheinung, sofern es sich der Einzelne leisten konnte. Die Archäologie fördert immer ältere Zeugnisse frühen künstlerischen Schaffens zu Tage. Schon vor vierzigtausend Jahren haben kunstsinnige Menschen kleine Tierfiguren aus Elfenbein geschnitzt. Ein ähnliches Alter haben aus Schwanenknochen gefertigte Flöten, die somit auf ein ebenso altes Musikwesen hindeuten. In siebzigtausend Jahre alten Grabstätten fanden sich durchbohrte Schneckengehäuse, die einmal eine Halskette gebildet hatten. Noch älter sind Spuren von Rötelfarbe, die sich im Umkreis menschlicher Gebeine fanden und als Überreste früherer Körperbemalung gedeutet werden. Die allerersten Anfänge ästhetischen Bemühens dürften noch viel weiter zurückreichen. Aber sie haben keine überdauernden Spuren hinterlassen und werden uns darum für immer verborgen bleiben.

Die uralte Tradition der Kunst nötigt zu der Auffassung, daß der Umgang mit dem Schönen zum grundlegenden Wesen des Menschen gehört. Auch wenn dem Menschen das Schöpferische oder Künstlerische nicht so grundsätzlich angeboren ist wie den Vögeln ihr Gesang, so kann man doch in der Lust am Schönen oder wenigstens einer gewissen Ehrfurcht davor eine angeborene Gabe sehen. Darauf verweisen auch die amerikanischen Frühkulturen. Der amerikanische Kontinent stand nur während des Eiszeitalters, als der Meeresspiegel um hundert Meter abgesunken war, mit dem eurasischen Kontinent in einer überwindbaren Verbindung. In diesem Zeitalter, in dem es noch nirgends in der Welt eine hochentwickelte Kultur gab, sind verschiedene Völkerschaften nach Amerika ausgewandert und einige von ihnen haben dort innerhalb einiger Jahrtausende beachtliche Hochkulturen entwickelt, die den Vergleich mit denen im eurasischen Raum aushalten. Das wäre wohl nicht geschehen, wenn die grundsätzliche Fähigkeit dazu nicht in ihrem biologischen Erbgut angelegt wäre und die kulturelle Fortentwicklung auf ein Vorbild angewiesen gewesen wäre.

Wenn es zutrifft, daß die Empfindung für das Schöne dem Menschen angeboren ist, dann müßte auch die Kunst solange fortbestehen wie die Menschheit selbst. Bis vor rund zweihundert Jahren hätte man dieser Gewißheit auch vorbehaltlos zugestimmt. Zwar war die Zuneigung zur Hochkunst wohl nie Gemeingut aller Menschen, sondern vorwiegend Sache der Privilegierten. Auch wenn sie keineswegs alle über ein sicheres Kunsturteil verfügten, so waren sie doch in einen allgemeinen Konsens darüber eingebunden, was als schön galt und was nicht. Wer nicht über ein eigenes Werturteil in Kunstdingen verfügte, wußte immerhin, daß ein solcher Konsens bestand.

Inzwischen sind Zweifel an der früheren Gewißheit unüberhörbar geworden. Die aktuelle Kunst kommt ohne einen solchen allgemeinen Konsens aus; sie ist die Domäne einer interessierten Minderheit. Diese verfügt über die Hoheit der Bestimmung, was als die Kunst unseres Zeitalters gilt. Außerhalb dieser Domäne gibt es eine breite Vielfalt von Künstlern, Kunsthandwerkern und Dilettanten, die sich in ihrem Schaffen nach wie vor dem Primat der Schönheit verpflichtet fühlen. Sie finden auch ein breites Publikum aus Käufern, Konsumenten und Interessenten, aber sie wissen, daß sie keinen Anspruch auf einen Platz in der Kunstgeschichte erheben können. Der Sinn für das Schöne ist also keineswegs abhanden gekommen, aber ausgerechnet auf dem Gebiet der führenden zeitgenössischen Kunst, das man früher die "schönen Künste" nannte, hat Schönheit ihren Stellenwert weitgehend verloren.

Wenn man bedenkt, daß damit eine mindestens 50 000 Jahre, wenn nicht mehr als 100000 Jahre währende ästhetische Tradition zu Ende geht, drängen sich zwei Fragen auf:

Wie ist die uralte ästhetische Tradition überhaupt entstanden?

Wie kann sie plötzlich verloren gehen?

Ich will in diesem Buche Antworten auf diese Fragen anbieten. Sie werden vielleicht nicht jedem Leser behagen; denn sie entsprechen nicht immer der Denkhaltung, die heute als "politisch korrekt" gilt. Es wäre jedoch unaufrichtig, meine Antworten nur aus diesem Grund und nicht aus begründeten Zweifeln an ihren Voraussetzungen abzulehnen. Ich will zeigen, dass alle Kunst auf uralte, sogar vormenschliche Gegebenheiten zurückgeht. Aus dieser Sicht kann ich zeigen, was die ältesten Höhlenmalereien, die Statuen der griechischen Klassik und die "Honigpumpe" von Joseph Beuys gemeinsam haben und ihren Platz in der Kunst begründet.

Das junge Wissenschaftsgebiet der "evolutionären Ästhetik" hält wenigstens für die Frage nach dem Ursprung des Schönheitssinnes Antworten bereit, aber sie sind für den Kunstfreund wenig befriedigend. Nach neueren Erkenntnissen ist die ästhetische Urteilskraft ein Ergebnis der sogenannten "sexuellen Evolution", die es nicht nur in der Entwicklungsgeschichte der Menschen sondern auch vieler Tiere gab. Die Frühmenschen hätten, so heißt es, bei der Werbung um einen Partner eine Vielzahl von aufwändigen Darbietungen gegeben, um ihn oder sie für sich einzunehmen. Zu diesen Darbietungen hätte auch Kunst gezählt. Solche Darbietungen seien um so überzeugender gewesen, je aufwändiger sie waren. Daraus leite sich bis zum heutigen Tage die Forderung ab, daß Kunst vor allem kostbar zu sein habe. Man spricht vom "Handicap- Prinzip"; wer sich so aufwändige Darbietungen leisten kann, beweist damit seine Lebenstüchtigkeit und stellt dem Partner eine erfolgreiche Nachkommenschaft in Aussicht.

Ich habe keinen Anlaß, an dieser wissenschaftlichen Erkenntnis zu zweifeln. Sie bezieht sich auf das Zustandekommen instinkthafter Triebe, die dem handelnden Menschen nicht zum Bewußtsein kommen. Aber kein Künstler und kein Kunstfreund kann sich in solchen verborgenen Zusammenhängen wiederfinden. Ist es vorstellbar, daß ein ägyptischer Pharo eine Pyramide bauen ließ, um mit diesem künftigen Grabmal seine Braut zu beeindrucken? Als Friedrich der Große den Siebenjährigen Krieg siegreich überstanden hatte, baute er in Potsdam das Neue Palais, das kostbarste und größte seiner Schlösser. Seine rechtmäßige Ehefrau, Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, hatte er Jahrzehnte früher, gleich nach der Hochzeit, von seinem Hofe verbannt. Soll man sich vorstellen, der Fünfzigjährige hätte - bewußt oder unbewußt - mit dem Schloßbau eine Braut werben wollen? Er hat niemals Nachkommen gezeugt und einem ungeliebten Neffen seine Nachfolge überlassen. Das Prinzip der Partnerwerbung erscheint mir deshalb eher als der tiefere Hintergrund des ästhetischen Gebarens der Menschen. Es muß einen augenfälligeren Grund dafür geben und den möchte ich hier darlegen.

Die Antworten, die ich dem Kunstfreund anbiete, stehen im Einklang mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen der evolutionären Ästhetik, beruhen jedoch auf der Sicht aus einem anderen Blickwinkel. Die Wissenschaft hat das ästhetische Empfinden ohne weiteres als naturgegeben vorausgesetzt und ihm nach dem erwähnten Handicap-Prinzip eine geradezu banale Grundlage zugemessen, nämlich den teuren Aufwand. Dabei bleiben wesentliche Einsichten der philosophischen Ästhetik über die Natur der Schönheit unberücksichtigt. Empfindsame Menschen können unter dem Eindruck des Schönen erschauern, überwältigt werden, zu Tränen gerührt werden. Dies aber nicht in Ansehung der Kosten, die dieses Schöne gemacht hat, sondern weil die Seele - profaner ausgedrückt: das Gehirn - für die Empfindung von Schönheit über ein eigenes Organ verfügt. Das Schöne hat seinen Platz im menschlichen Gemüt nicht nur bei der Brautwerbung und es unterscheidet sich fühlbar von anderen Darbietungen im Bereich der Partnerwerbung.

Es gibt zwei Gründe, mit denen ich meine Sichtweise und die darauf gestützen Antworten rechtfertigen möchte: Zum einen hat mich die Natur mit der Gnade eines ausgeprägten ästhetischen Bewußtseins und künstlerischer Neigungen bedacht. Zum andern bin ich auf ähnlichen Wegen wie denen der wissenschaftlichen Vorgehensweise zu weitgehend den gleichen Erkenntnissen gelangt wie die evolutionäre Ästhetik. Sie können sich auf eine überzeugende Plausibilität stützen. Aus der Darstellung meines Erkenntnisweges ergibt sich der Blickwinkel, unter dem ich die Erfindung der Kunst durch die frühe Menschheit sehe.

1.2 Ein fruchtbares Gespräch

Ich habe diesen Blickwinkel nicht gezielt gewählt, sondern er ergab sich von selbst aus der Fragestellung, mit der ich mich dem Thema näherte. Und diese ergab sich aus der frühen ästhetischen Prägung im Elternhaus, denn jeder Mensch hat seinen eigenen ästhetischen Werdegang. Der meine begann in einem konservativen Elternhaus. Die Kunst des frühen 20sten Jahrhunderts war dort noch gar nicht angekommen, als sie von den Nationalsozialisten als "entartet" verfemt wurde. Meine frühesten Einblicke in die Welt der Kunst verdanke ich den Cigaretten-Bilder-Alben über die Malerei der Gotik, der Renaissance und des Barock sowie den Blauen Büchern des Langewiesche-Verlages über romanische und gotische "Deutsche Dome". Das war für mich schlechthin die Kunst. Als nach Kriegsende die Verfemung der Gegenwartskunst wegfiel, änderte das an meinem Bild der Kunst wenig. Die Not in der Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit war viel zu groß, um nach den verlorenen Jahrzehnten der Kunst Ausschau zu halten. Was ich in diesen Jahren sporadisch an neuer Kunst zu sehen bekam, blieb mir so unverständlich wie ein Text in fremder Sprache. Alles was nicht gegenständlich oder nicht schön war, wurde unter dem Sammelbegriff "Expressionismus" abgetan. Diese entweder verständnislose oder sogar ablehnende Haltung war damals weit verbreitet. Auch meine Schule machte in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren (des 20. Jh) keinerlei Anstalten, uns mit der Kunst der ersten Hälfte des Jahrhunderts vertraut zu machen. Meine ersten eigenen künstlerischen Versuche gründeten sich auf Vorbilder, die ganz und gar dem traditionellen Schönheitsbegriff verpflichtet waren.

Erst in meiner Studentenzeit wurde mir der Abstand zwischen meinem Kunst- und Schönheitsempfinden und der aktuellen Kunstszene bewußt. Damals feierte die gegenstandslose Kunst ihre höchsten Triumphe. Man glaubte, durch den Verzicht auf Gegenständlichkeit die Kunst von allen Fesseln der Mimesis zu befreien. Noch ahnte man nicht, wie schnell sich die Kunst in dieser Freiheit erschöpfen würde. Die gegenständliche Malerei der Neuen Sachlichkeit aus den zwanziger und dreißiger Jahren unterlag daher aus einer neuen Unduldsamkeit einer ähnlichen Verfemung wie zuvor unter dem Nationalsozialismus. Erst die dritte Kasseler Documenta im Jahr 1964 verschaffte mir einen geschlossenen Überblick über die Kunstentwicklung des 20sten Jahrhunderts und begründete eine Zuneigung zu der "schönen" Malerei dieser Zeit, etwa der von Franz Marc, Emil Nolde oder Paul Klee. Zu einer wirklichen Versöhnung mit der modernen Kunst gelangte ich trotzdem nicht, weil ich ihr den fortschreitenden Verzicht auf Schönheit oder sogar die absichtlichen Verstöße gegen herkömmliche Schönheitsregeln nicht verzeihen konnte. Fancis Bacon mit seien entstellten Menschenbildern und Joseph Beuys mit seinem "Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch" sind Beispiele dieser Entwicklung. In meinen niemals ganz aufgegebenen Versuchen künstlerischer Betätigung verzichtete ich folgerichtigerweise darauf, den Abstand zur aktuellen Kunstszene aufzuholen und verschaffte mir Befriedigung in dem Bemühen, Bilder von musealer Schönheit, die ich mit nicht leisten konnte, mit eigenen Mitteln so gut es ging nachzustellen.

Ich habe hier den Blick auf die Malerei in den Vordergrund gestellt, weil sie meinen eigenen Bemühungen am nächsten steht. Mit den anderen Künsten, wie der Skulptur, dem Theater oder der Musik erging es mir nicht anders. Auch da war und ist mir der Verzicht auf Schönheit schmerzlich.

Die Frage nach der Bedeutung der Schönheit in der Kunst hat mich immer beschäftigt. Es dauerte aber lange, bis ich nicht nur über den zunehmenden Verzicht auf Schönheit nachdachte, sondern über die umgekehrte Frage: Warum eigentlich habe ich dieses Bedürfnis nach Schönheit, das ja nur zum Teil anerzogen und im Wesentlichen angeboren ist? Warum hatten es alle Generationen vor meiner Zeit? Alle Eigenschaften aller Lebewesen sind Ergebnisse der Evolution. Sie entstehen durch den Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil, den die Träger dieser Eigenschaften vor denen genießen, die nicht darüber verfügen. Also muß auch der Schönheitssinn den ersten Menschen, die ihn besaßen, einen Vorteil gewährt haben. Worin konnte der gelegen haben? Ein unmittelbarer Nutzen schöner Dinge ist nicht zu erkennen, eher das Gegenteil: Schönheit macht Kosten!

Ich fand keine Antwort auf diese bohrende Frage und kam über diese Hilflosigkeit ins Gespräch mit meinem (inzwischen verstorbenen) Freund Rolf Löwenfeld (1920 - 2008). Ich möchte ihm an dieser Stelle ein Denkmal setzen, denn ohne seinen Gedankenblitz wäre ich in meiner Suche nach einer Antwort nicht weitergekommen. Rolf Löwenfeld war von Beruf Chemiker, wie ich selbst, aber seine Interessen gingen weit über sein Fachgebiet hinaus. Er liebte Diskussionen über schwierige Fragen und hatte an unserem Wohnort eine regelmäßig tagende Diskussionsrunde ins Leben gerufen, die mit wechselnder Besetzung über mehrere Jahrzehnte existierte. Unsere beiderseitigen Weltbilder stimmten weitgehend überein. Wir verfügten über eine naturwissenschaftliche Ausbildung und waren uns einig über das unabdingbare Primat der Kausalität in allen Erscheinungen der Welt. Natürlich hatten wir Grundkenntnisse über den Urknall, die Entstehung der Elementarteilchen, der Atome und Moleküle und über Manfred Eigens Vorstellungen von der Entstehung lebender Materie.

Ebenso hatten wir Bücher von Konrad Lorenz gelesen, aus denen wir mit den Grundsätzen der biologischen Evolution vertraut waren. Aus diesen Grundlagen kann man sich ein materialistisches Weltbild zimmern, das vom Urknall bis zum denkenden und zweifelnden Menschenhirn reicht. Sobald ich aber aus einer idealistischen Gesinnung heraus dieses materialistische Weltbild mit einem die Naturgesetze tragenden tieferen Sinn unterfüttern wollte, folgte mir Rolf Löwenfeld nicht. Er lehnte es ab, mehr Voraussetzungen anzuerkennen als für sein Weltbild erforderlich waren. Dagegen wollte es mir nicht einleuchten, daß es bloßer Zufall der Physik wäre, daß sich die Welt seit dem Urknall nicht zu einer nebulösen Staubwolke vergast oder zu einem unförmigen Klumpen verdichtet hat, sondern zu einer äußerst vielgestaltigen Struktur entwickelt hat, zu der auch Menschenhirne gehören, die über diese Struktur nachdenken. In der Mathematik sah ich das deutlichste Anzeichen einer für den Menschen nicht verfügbaren Geistigkeit, die in der Welt wirksam ist, vor allem in Gestalt der mathematisch formulierbaren Naturgesetze. Bekanntlich gibt es unter den Mathematikern, soweit diese überhaupt über solche Fragen nachdenken, die beiden Lager der Formalisten und der Platonisten. Die ersteren halten die Mathematik für ein formales Konstrukt, das sich aus vorgegebenen Regeln ergibt. Die Platonisten glauben an die universelle Gültigkeit mathematischer Gesetze, unabhängig von intelligenten Wesen, die sich damit befassen. Zu dieser unverfügbaren Geistigkeit rechne ich auch die Schönheit. Dessenungeachtet konnte sie in der Evolution des Menschen nur auf dem streng kausal-materialistischen Wege auftreten, dem alles irdische Geschehen bedingungslos unterworfen ist.

Rolf Löwenfeld und ich trafen uns eines Nachmittags vor etwa zehn Jahren in der Absicht, für diese Evolution des Schönheitssinnes eines Denkansatz zu finden. Ich hatte kaum die Problematik in Erinnerung gerufen, da sagte Rolf Löwenfeld: "Kann man das nicht mit dem Imponiergehabe erklären?" Das war der Augenblick meiner Erleuchtung. Was das Imponiergehabe im Tierreich ist, war uns aus den Büchern von Konrad Lorenz geläufig. Viele Tierarten stellen in ihren Populationen mittels des Imponiergehabes der Stärksten eine Rangordnung auf. Der Hirsch imponiert mit seinem Geweih, der Pfau mit dem aufgefächerten Schwanz. Die prächtige Ausbildung dieser Zeichen signalisiert Lebenstüchtigkeit und verspricht erfolgreichen Nachwuchs. Es erschien mir spontan einleuchtend, dass der Mensch mit seiner bedeutendsten Qualität imponieren muß, nämlich mit seinem Geist. Da das Erkennen der Schönheit eine geistige Leistung darstellt, war es folgerichtig, dass sich die Evolution zum intelligenten Menschen auf schöne Zeichen stützte. Die zunehmenden Populationsgrößen erforderten höher gestaffelte Hierarchien und einen entsprechend zunehmenden Aufwand an schönen Würdezeichen, bis hin zu dem fürstlichen Prunk, den wir aus eigener Anschauung kennen.

Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Auf der Suche nach Bestätigung stieß ich auf das gerade herausgekommene Buch "Die Herkunft des Schönen" von Klaus Richter. Es trägt den Untertitel "Grundzüge der evolutionären Ästhetik" und stellt Antworten in Aussicht auf die "zentralen" Fragen:

Warum empfinden wir manches als schön und anderes nicht?

Woher stammt unsere Fähigkeit, etwas schön zu finden?

Wieso bedürfen wir so vieles Schönem zu unserem Wohlbefinden?

Genau das waren ja auch meine Fragen! Daß das ästhetische Empfinden des Menschen eine angeborene Fähigkeit und somit ein Ergebnis der Evolution ist, steht nach Richter für die anthropologische Wissenschaft außer Zweifel:

Es kann davon ausgegangen werden, daß das Schönheitsbedürfnis bereits im Verlaufe der menschlichen Evolution bedeutungsvoll gewesen ist. Es muß dazu beigetragen haben, den Menschen an die Lebensbedingungen seiner Umwelt und seines sozialen Zusammenlebens anzupassen. Andernfalls, wenn es keinen adaptativen Wert gehabt hätte, wären die damit verbundenen Verhaltensweisen nicht erhalten worden, sondern im Laufe der evolutiven Selektion verschwunden. Schönheit ist weder im Menschen allein begründet noch außerhalb des Menschen existent.

Richter beschränkt sich darauf, die adaptiven Grundlagen unseres Schönheitsempfindens herauszuarbeiten. In der Befriedigung, die der menschliche Geist in der Erkennung von angeborenen oder erlernten Mustern, Ordnungen und Gestalten findet, sieht Richter einen ausreichenden Grund für die Entstehung der Kunst. Ich werde darauf im Kapitel "Lust am Schönen" zurückkommen. An dieser Stelle kann ich mich auf den Hinweis beschränken, daß meine Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen schönen Zeichen und dem sozialen Ranggefüge als Ursache ästhetischen Gebarens von Richter nicht angesprochen wird.

Das Buch von Richter bestärkte mich in dem Glauben, der Menschheit einen neuen Gedanken vorstellen zu können. Im Laufe einiger Jahre verdichtete er sich zu einem Buch. Ich musste jedoch schnell die Erfahrung machen, dass die Menschheit - vor allem in Gestalt der Verleger - an Erkenntnissen ohne professoralen Hintergrund wenig interessiert war. Meinem Gedankengebäude tat das gut. Ich stieß auf neue Bücher zu meinem Thema, darunter auch "Das Versprechen der Schönheit" von Winfried Menninghaus, wo ich einzelne Berührungspunkte mit meinen Vorstellungen fand. Ich stellte Prof. Menninghaus meinen Grundgedanken in Kürze vor und fand zu meiner Freude grundsätzliche Zustimmung. Besonders dankbar bin ich für seine Hinweise auf weitere Literatur, an der ich Übereinstimmungen und Unterschiede zum aktuellen Stand der Wissenschaft ausmachen konnte. Wie schon eingangs angedeutet, kommen meine Vorstellungen dem Deutungsbedürfnis des Kunstfreundes näher als die wissenschaftliche Literatur. Das betrifft sowohl die evolutionäre Bedeutung der ästhetischen Kommunikation als auch den Begriff der Schönheit selbst. Ehe ich darauf eingehe will ich im folgenden Kapitel den Stand der Wissenschaft wiedergeben.

Kapitel 2: Die sexuelle Evolution

Unter diesem Titel erschien 2001 ein Buch von Geoffrey F. Miller (englisch The Mating Mind, 2000) mit dem Untertitel "Partnerwahl und die Entstehung des Geistes". Miller sieht in fast allen körperlichen und geistigen Eigenschaften, die wir an unseren Mitmenschen zu schätzen pflegen, Ergebnisse der sexuellen Evolution. Sie kommen durch spezifische Vorlieben bei der Partnerwahl zustande. Zu diesen geistigen Eigenschaften gehört nach Miller auch die Lust am Schönen, also die Kunst. Miller hat den ästhetischen Fähigkeiten des Menschen zwar ein eigenes Kapitel gewidmet, aber im Zentrum seiner Untersuchung steht die Frage, wie sie sich auf die Partnerwahl auswirken. Die Fragen, wie es zur Empfindung für Schönheit gekommen ist und was Schönheit überhaupt ist, gehören nicht zu Millers Thema.

Bevor ich im Einzelnen auf den Inhalt seines Buches eingehe, möchte ich für diejenigen Leser, die mit den Vorgängen der Evolution nicht vertraut sind, deren wichtigste Grundlagen darstellen. Wer diese Grundlagen kennt, mag diesen Abschnitt getrost überspringen.

2.1 Evolution

Dieser Begriff wurde von Charles Darwin in seinem berühmten Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection (Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese) aus dem Jahr 1859 geprägt. Schon vor Darwin hatte sich die gelehrte Welt von der biblischen Vorstellung der Erschaffung der Welt in sieben Tagen gelöst. In uralten Gesteinen hatte man Überbleibsel von Lebewesen entdeckt, die es auf der Erde nicht mehr gab. Andererseits fehlten an solchen Fundstätten entsprechende Reste vieler heute lebender Organismen. So entstand die Vorstellung einer allmählichen Entwicklung der Arten im Laufe der Erdgeschichte. Auch Goethe kannte diese Anschauung. In seiner Metamorphose der Pflanzen beschrieb er das Blatt als die Urform aller Pflanzen. Er hatte nämlich an Rosen alle denkbaren Übergänge zwischen grünen Blättern, Kelch- und Blütenblättern gesehen und folgerte daraus, dass sich das Blütenblatt aus dem grünen Blatt entwickelt habe. Der Mechanismus dieser Entwicklung blieb im Dunklen.

Erst Darwin entdeckte, dass sich alle Organismen im Laufe vieler Generationen verändern. Sie bilden Mutationen, die sich auf die Nachkommen vererben. Ist die neue Form nachteilig, so überlebt sie nicht. Hat die neue Form aber Überlebens- und Fortpflanzungsvorteile vor der alten, so setzt sie sich durch und verdrängt die Urform. Man spricht in diesem Falle von natürlicher Evolution, ihr Prinzip ist die bestmögliche Anpassung (Adaption) an den Lebensraum. Alle Eigenschaften aller Lebewesen sind Ergebnisse der Evolution. Alle Pflanzen und Tiere haben sich im Laufe von Milliarden Jahren Schritt um Schritt aus der Urform einzelliger Organismen entwickelt. Darwin sah jedoch bald, dass seine Theorie des Zusammenspiels von Mutation und Auslese nicht auf alle in der Natur vorkommenden Gestalten zutreffen kann. Viele Tiere besitzen Zierformen, für die kein Überlebensvorteil zu erkennen ist. Das berühmteste und immer zitierte Beispiel ist der Pfauenschwanz. Mit seinem Bedarf an Aufbauproteinen, seinem Gewicht und seiner Größe ist er nur beschwerlich. Darwin erkannte, dass derartige Zierformen ausnahmslos im Paarungsverhalten der Tiere eine Rolle spielen. Seine Schlussfolgerung war: Die entscheidende Mutation war die Entwicklung einer Vorliebe der Pfauenhennen für lange, farbenprächtige Schwänze der Hähne. Sie wählten unter den erreichbaren Hähnen stets denjenigen zur Paarung aus, der ihnen mit dem schönsten Federrad zu imponieren vermochte. So wurde immer die diese Eigenschaft bei den Nachkommen gefördert. Auch in der Evolutionsgeschichte des Menschen erkannte er Entwicklungen dieser Art. In einem weiteren Buch aus dem Jahr 1871 The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex bezeichnete er diesen Auswahlvorgang als sexuelle Evolution.

Mutationen treten nicht zielgerichtet auf, wie denn überhaupt alle Vorgänge in der belebten und unbelebten Natur allein kausal und nicht final begründet sind. Aus wissenschaftlich-materialistischer Sicht sind selbst die offenkundig zielgerichteten Vorgänge in der belebten Natur tatsächlich allein kausal verursacht. So baut ein Vogel sein Nest nicht aus dem Grund, damit er dort Eier legen und brüten kann, sondern allein deshalb, weil seine Eltern auch schon Nester gebaut hatten. Der Trieb zum Nestbau ist in seinen Genen verankert. Aus naturphilosophischer Sicht wird man die teleologische Betrachtungsweise bevorzugen. Man müsste sich schon selbst vergewaltigen, um die Zielgerichtetheit von Lebensvorgängen zu verneinen, etwa auch die willkürlichen Absichtshandlungen des Menschen. Sie sind jedoch aus dem materialistischen Weltbild nicht herleitbar. Die teleologische Beschreibung des Evolutionsgeschehens ist oft anschaulicher als die kausalistische. Sofern ich in diesem Buche vom "Ziel" oder "Zweck" der Evolution spreche, sollte der Leser im Hinterkopf die Einsicht bewahren, daß damit eigentlich biologisch bewährte Folgen zufälliger Mutationen gemeint sind.

Zur Zeit Darwins war der biochemische Hintergrund der biologischen Vererbung und der Veränderungen des Erbgutes noch völlig unbekannt. Um die Wende zum 20sten Jahrhundert ahnte man, dass dieses Erbgut im Zellkern und dort in den Chromosomen enthalten sei. Erst nach der Mitte des 20sten Jahrhunderts entdeckten Watson und Crick die Struktur der eigentlichen Erbsubstanz, der DNS (Desoxyribonukleinsäure), die in den Chromosomen enthalten ist. Die Kenntnis von deren Chemie und Wirkungsweise wird zum Verständnis dieses Buches nicht vorausgesetzt. Trotzdem helfen die Grundlagen dieser Wissenschaft der Anschauung, weshalb ich sie hier einflechte.

Die DNS ist ein fadenförmiges Riesenmolekül. Seine

Hauptkette wird aus abwechselnden Gliedern eines Zuckers, der Desoxyribose, und der Phosphorsäure gebildet. An die Zucker-Glieder sind seitlich in wechselnder Reihenfolge Nukleobasen gebunden. Es gibt vier verschiedene Nukleobasen, die (nach ihren chemischen Namen Thymin, Adenin, Cytosin und Guanin) mit der Buchstaben T, A, C und G bezeichnet werden. Die Abfolge der Nukleobasenreste entlang der Molekülkette bildet die "Sprache" der Erbinformation, den genetischen Code. Jeweils zwei solcher Riesenmoleküle, die sich hinsichtlich der Basen-Abfolge wie Positiv und Negativ verhalten, sind zu der berühmten Doppelhelix verwunden. In der lebenden Zelle wird die genetische Information der DNS abschnittsweise abgelesen und in Proteine (Eiweißstoffe) übersetzt. Diese bilden entweder die Struktur der Zelle und somit auch den Körper eines vielzelligen Organismus oder sie wirken als Enzyme bei der Lenkung der chemischen Prozesse in der Zelle. Die Art und Weise, wie diese Proteine die Gestalt eines vielzelligen Lebewesens und dessen Verhalten steuern, ist noch wenig bekannt.

Die DNS ist die Trägerin der Gene. Jede Körperzelle enthält das vollständige Genom jedes Lebewesens, also die Gesamtheit aller Gene. Organismen wachsen, indem sich ihre Zellen immer wieder in zwei neue Zellen teilen. Bei jeder Teilung wird das Genom zur Gänze kopiert. Beim Menschen bedeutet dies das Kopieren von etwa 30- bis 40 000 Genen, von denen jedes auf etlichen Tausend "Buchstaben" (T, A, C, G) beruht. Dabei können Kopierfehler auftreten, die sich auf die Eigenschaften der neuen Zellen auswirken. Mutationen beruhen auf diesen zufälligen "Schreibfehlern". Die Vertauschung eines der Buchstaben T, A, C, G bei der Abschrift eines Gens ist nur eine von verschiedenen Formen von Mutationen. Bei anderen werden, um in der gedanklichen Analogie des Schreibfehlers zu bleiben, ganze Wörter, Sätze oder Abschnitte vertauscht, ausgelassen oder verdoppelt.

Gibt es solche Kopierfehler in den Keimzellen oder deren Vorläufern, so überträgt sich die Mutation auf die Nachkommen. Der sich daraus entwickelnde Organismus kann nachteilige Eigenschaften aufweisen oder sogar völlig lebensunfähig sein. Mutationen sind, wie Schreibfehler in einem Text, in der Regel sinnwidrig und nur in den seltensten Fällen vorteilhaft, wenn also der fehlerhafte Text zufällig einen neuen Sinn ergibt. Diese seltenen Fälle sind das Werkzeug der Evolution. Lebewesen mit einem äußerst stabilen, gegen Kopierfehler geschützten Genom verändern sich über Jahrmillionen nicht, während die übrigen Arten mit mutationsanfälligerem Genom sich der Veränderung ihres Lebensraumes anpassen. Vorteilhafte Mutationen sind wohl nicht häufiger als sechs Richtige im Zahlenlotto. Aber so wie unter Millionen Spielern doch immer wieder einer die richtige Zahlenfolge trifft, gibt es auch unter Millionen und Abermillionen von Lebewesen einer Art immer wieder diesen Fall evolutiv fortschrittlicher Mutationen.

Allen Mutationen ist gemeinsam, daß sie jeweils nur bei einem einzigen Individuum auftreten. Nach den Erbgesetzen (Reduktionsteilung) wird nur ein Teil seiner Nachkommen das mutierte Erbgut weitergeben, statistisch gesehen die Hälfte. Es dauert daher viele Generationen, bis sich das mutierte Erbgut in einer lokalen Population durchgesetzt hat, und noch mehr, bis es die ganze Art beherrscht. Mikroorganismen mit Generationsfolgen von weinigen Stunden oder Tagen kommen daher in der Verbreitung von Evolutionsschritten schneller voran als die Menschen mit einer Generationsfolge von rund zwanzig Jahren. Aus diesem Grunde ist die Evolution, gemessen an geschichtlichen Zeiten, ein äußerst langsamer Vorgang. In den letzten 50 000 Jahren, also seit der Altsteinzeit, dürfte die Evolution des Menschen keine wesentlichen Fortschritte mehr gemacht haben, schon deshalb nicht, weil die unbarmherzige Selektion der Tüchtigsten in der zunehmend zivilisierten Lebenswelt nicht mehr stattfindet.

Daraus folgt, daß wir heutigen Menschen etwa über das gleiche Erbgut verfügen wie unsere steinzeitlichen Vorfahren. Doch das gilt nicht uneingeschränkt. Denn viel schneller als durch fortschrittliche Mutationen kann sich das Erbgut durch Degeneration verändern. Beispielsweise wird das Gen für ein bestimmtes Merkmal durch Mutation so verändert, daß das zugehörige Merkmal bei den Folgegenerationen nicht mehr auftritt. Man erklärt sich damit Erscheinungen wie den Albinismus oder die Buntscheckigkeit von Haustieren. In freier Wildbahn würden solche Tiere als nicht vollwertig gelten und von der Fortpflanzung ausgeschlossen, während sie in der Abgeschlossenheit einer Haustierzucht dem Konkurrenzdruck vollgefärbter Tiere nicht ausgesetzt sind. Degenerationseffekte brauchen nicht in jedem Fall nachteilig zu sein. So wird etwa die unpigmentierte Haut der weißen Menschenrassen von manchen Forschern als Degenerationserscheinung angesehen. Erst bei der Besiedlung nördlicher Erdregionen mit verminderter Sonneneinstrahlung erwies sich diese "Degeneration" als erfolgreiche Anpassung, weil sie die lichtinduzierte Bildung von Vitamin D in der Haut ermöglichte.

Die schrittweise Evolution des menschlichen Gehirns muß man sich so vorstellen, daß Mutationen stattgefunden haben, die der jeweiligen Nachkommenschaft neue Möglichkeiten der Wahrnehmung ihrer Umwelt sowie deren Umsetzung in Lustgefühle und befriedigende Handlungen gewährt haben. Auch die Fähigkeit, das Schöne wahrzunehmen und darauf mit einem Lustgefühl zu reagieren, muß so entstanden sein. Es muß demnach einen Überlebens- und Durchsetzungsvorteil für Individuen oder Populationen mit entwickeltem Schönheitssinn gegenüber solchen ohne Schönheitssinn gegeben haben. Ohne einen solchen Vorteil hätte sich eine so kostspielige Beschäftigung wie die mit dem Schönen im Leben der ganzen Menschheit nicht durchsetzen können.

Da Mutationen an zufälligen Stellen des Genoms stattfinden, richten sie in der großen Mehrzahl der Fälle Schaden an und nur in seltenen Ausnahmefällen Nutzen in Gestalt verbesserter Lebenstüchtigkeit. Der Fortbestand des Lebens wird dadurch gewährleistet, dass Mutationen vermieden und, wo sie trotzdem stattfinden, mit zelleigenen Werkzeugen repariert werden. Doch die Zelle erkennt Mutationen nicht immer. Durch die Erfindung der geschlechtlichen Fortpflanzung hat die Evolution ein Mittel entwickelt, um trotz fehlerhafter Genkopien lebenstüchtige Nachkommen zu erzeugen. (Diese teleologische Ausdrucksweise ist zwar anschaulich, aber nicht korrekt. Tatsächlich ist es eher umgekehrt: die zufällige Ausbildung der geschlechtlichen Fortpflanzung hat zum Überleben trotz schädlicher Mutationen geführt.) Bakterien vermehren sich durch bloße Zellteilung. Beide Tochterzellen enthalten das Genom der Mutterzelle. Ist es mutiert, so tragen alle Nachkommen aus der fortgesetzten Zellteilung die gleiche Mutation und sterben dann meistens ab. Durch ihre rasante Vermehrung zu riesigen Populationen können Bakterien diese gelegentlichen Ausfälle verkraften. Große Organismen wie Tiere und Pflanzen gehen nicht so verschwenderisch mit ihrer Nachkommenschaft um. Sie sind diploid, das heißt, sie besitzen in jeder Zelle zwei vollständige Kopien des Genoms. Ist in einer dieser Kopien infolge einer Mutation ein Gen nicht ablesbar, so steht immer noch eine zweite Kopie zur Verfügung, um das zugehörige Protein herstellen zu können. Das diploide Genom entsteht im Zuge der geschlechtlichen Fortpflanzung beim Vorgang der Zeugung, wenn sich eine weibliche und eine männliche Keimzelle zu einer embrionalen Zelle eines neuen Lebewesens vereinigen. Seine Zellen enthalten jeweils zwei Kopien des Genoms und zwar eine von der Mutter und eine vom Vater.

2.2 Die sexuelle Evolution in der Darstellung von Geoffrey F. Miller

Die geschlechtliche Fortpflanzung ist also der ungeschlechtlichen darin überlegen, daß sie trotz schädlicher Mutationen lebensfähige Nachkommen hervorbringt. Dieser Vorteil ist aber mit dem Nachteil verbunden, daß sich im Laufe vieler Generationen immer mehr schadhafte Gene in das Erbgut der Art einschleichen. Sie machen sich schließlich doch im Erscheinungsbild und im Verhalten der Individuen bemerkbar. Die Evolution hat darum alle Wege begünstigt, auf denen schädliche Mutationen ausgeschaltet werden.

[...]

Fin de l'extrait de 319 pages

Résumé des informations

Titre
Der Ursprung der Kunst. Eine These über die Evolution des menschlichen Schönheitssinnes
Auteur
Année
2009
Pages
319
N° de catalogue
V288564
ISBN (ebook)
9783656931041
ISBN (Livre)
9783656931058
Taille d'un fichier
3152 KB
Langue
allemand
Mots clés
ursprung, kunst, eine, these, evolution, schönheitssinnes
Citation du texte
Peter Huch (Auteur), 2009, Der Ursprung der Kunst. Eine These über die Evolution des menschlichen Schönheitssinnes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288564

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